Die Elfen der Dämmerung: 3 dicke Fantasy Sagas auf 1500 Seiten

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Nach kurzem Zögern stand sie ebenfalls auf und folgte den beiden, um herauszufinden, was hier gespielt wurde. Hinter der Tür erstreckte sich ein kurzer Gang, an dessen Ende sich die eigentliche Außentür befand. Als Miranya diese vorsichtig einen Spalt weit geöffnet hatte, hörte sie bereits, wie die beiden Männer sich ein paar Schritte entfernt miteinander unterhielten. Sie sprachen leise, glücklicherweise aber gerade so laut, dass sie das meiste verstehen konnte.

"... müssen wir unseren Plan ändern", sagte Scruul gerade. "Da dieser vertrottelte Ishar allein zu der Zitadelle weitergereist ist, werden wir nicht so leicht erfahren, wo sie liegt. Also müssen wir uns direkt an diesen Kenran'Del halten, wenn er mit ihm zurückkehrt."

"Aber es könnte ziemlich heikel werden, uns mit ihm anzulegen", hörte Miranya eine zweite Stimme, offenbar die des Rattengesichtigen. "Ich habe einige Nachforschungen über ihn angestellt. Es existieren nur wenige Aufzeichnungen über ihn, aber wenn auch nur ein Teil der Legenden um seine Person stimmen, dann dürfte er selbst für uns ein extrem gefährlicher Gegner sein."

Miranya konnte kaum glauben, was sie hörte. Offenbar war sie einem Komplott gewaltigen Ausmaßes auf die Spur gekommen, in das Scruul verstrickt war. Schon als er sich der Reisegruppe angeschlossen hatte, war es ihm anscheinend nur darum gegangen, die genaue Lage der Zitadelle in Erfahrung zu bringen. Dadurch, wie sich alles entwickelt hatte, war diese Absicht jedoch zunächst einmal vereitelt worden.

Sie lächelte grimmig. Nach dem, was sie jetzt gehört hatte, würde sie dafür sorgen, dass auch alle seine weiteren Pläne scheiterten.

"Idiot!", stieß Scruul barsch hervor. "Denkst du, ich hätte mich nicht schon im Vorfeld ebenfalls informiert und das wesentlich gründlicher als du? Nach allem, was ich über diesen Kenran'Del in Erfahrung bringen konnte, verfügt er über eine beachtliche Macht, aber darum geht es uns ja schließlich. Nur dem Dunklen Bund dürfen diese Machtmittel zufallen. Davon abgesehen hat Kenran'Del jedoch die gleichen Schwächen wie die meisten Menschen und auch die Ishar und Vingala, weshalb die Caer-Sharuun ihnen immer überlegen sein werden."

Miranya stockte fast der Atem. Sie spürte, wie vor lauter Aufregung ihre Handflächen feucht wurden, und sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Scruul war nicht einfach nur ein ordensloser Magier, der eigene Ziele verfolgte, er war ein Caer-Sharuun. Der Dunkle Bund war ebenfalls ein Magierorden, der jedoch erst vor zwei oder drei Jahrhunderten aus einem ursprünglich losen Zusammenschluss einiger Magier und Hexen entstanden war. Allerdings waren sie finster und machtgierig und verfolgten völlig andere Ziele als die Ishar und Vingala, weshalb sie von Anfang an in mehr oder weniger offener Feindschaft zu den beiden anderen Orden standen. Die Caer-Sharuun hielten sich selbst für die Zukunft der Menschheit, weshalb sie auf die normalen Menschen nur voller Verachtung herabblickten und sie zu beherrschen trachteten, weil sie diese lediglich einer Sklavenrolle für würdig erachteten.

"Demnach habt Ihr bereits einen neuen Plan?", erkundigte sich der Rattengesichtige.

"Natürlich habe ich den. Ich habe ohnehin nicht damit gerechnet, dass wir einfach in diese Zitadelle hineinmarschieren können, sobald wir erst einmal wissen, wo genau sie liegt. Das Ödland von Sharolan ist groß, aber glaubst du, es hätte sie nicht trotzdem längst irgendjemand im Zeitraum von eintausend Jahren entdeckt, wenn sie nicht entsprechend geschützt wäre? Nein, mir war von Anfang an klar, dass wir diesen Kenran'Del selbst in die Finger bekommen müssen. Seine Schwäche ist seine Hilfsbereitschaft, sein Mitleid für andere, deshalb können wir über eine Geisel Druck auf ihn ausüben."

"Aber er kennt außer diesem Magier niemanden in dieser Zeit. Warum also sollte er auf irgendjemanden Rücksicht nehmen?"

"Weil dies die Art sentimentaler Schwächlinge ist, und wenn das stimmt, was über ihn berichtet wird, dann gilt das auch für Kenran'Del", behauptete Scruul. "Er wird nicht zulassen, dass eine Geisel seinetwegen Schaden erleidet. Am besten eignet sich eine Frau, und zwar nicht irgendeine, sondern diese Vingala, da sie auch Maziroc nahesteht. Ich habe schon während der ganzen Reise versucht, mich mit ihr anzufreunden, um sie leichter in eine Falle locken zu können, doch sie scheint mich nicht besonders gut leiden zu können, oder sie misstraut mir."

"Dann müssen wir sie entführen", stellte der Rattengesichtige fest. "Das dürfte nicht weiter schwer werden. Wir können sie heute Nacht direkt hier im Gasthaus in unsere Gewalt bringen und ..."

Mit einem Ruck wurde die Tür von außen ganz aufgerissen. Gleichzeitig fühlte sich Miranya gepackt und ins Freie gezerrt. Vor Schrecken war sie einen Moment lang völlig erstarrt und unfähig, sich zu wehren, und noch bevor sie einen Schrei ausstoßen konnte, presste sich eine Hand hart auf ihren Mund.

"Nun sieh mal einer an, wen wir hier haben", hörte sie Scruuls Stimme. "Eine kleine Katze, die sich vor lauter Neugier ein bisschen zu nah ans Feuer herangetraut hat. Damit hat sich das Problem mit der Entführung wohl schon erledigt."

Miranya biss ihm mit aller Kraft auf die Finger. Mit einem Fluch riss der Magier die Hand von ihrem Mund zurück. "Verdammtes Miststück!", zischte er.

Im nächsten Moment hämmerte er Miranya die Faust so fest gegen die Schläfe, dass sie augenblicklich das Bewusstsein verlor.




Die Zwergenkönige


In Begleitung der Zwerge kamen Maziroc und Pollus ungleich schneller voran als zuvor, da diese hier jeden Fußbreit Bodens kannten, wesentlich genauer als der Magier, der die Todessümpfe selbst erst wenige Male betreten hatte. Bereits nach einer knappen Stunde wurde das Erdreich unter ihren Füßen allmählich wieder fester, stieg sogar leicht an und ging immer mehr in Fels über.

Vereinzelt war durch Lücken in der Vegetation sogar schon der Ashran zu sehen, der Berg, auf dessen Gipfel Ravenhorst errichtet worden war. Es handelte sich um einen Tafelberg, gerade so, als hätte ein unordentlicher Gott nur die obere Hälfte eines Bergkegels gebraucht, hätte ihn aufgeschnitten, sich den Teil, den er benötigte genommen, und den Rest hier in den Todessümpfen vergessen. Geblieben war ein riesiger Klotz, mehr als tausend Meter hoch, mit beinahe lotrecht abfallenden Flanken, an denen entlang sich einzelne, nur mühsam passierbare Pfade serpentinenartig in die Höhe wanden. Eine Bergspitze gab es nicht, nur ein fast ebenes, mehrere Kilometer durchmessendes Gipfelplateau.

Schließlich endete der Weg, über den die Zwerge sie führten, an einer meterhoch steil aufragenden Felswand, die sich in einem Halbkreis vor ihnen erstreckte und ihnen das Weitergehen verwehrte.

"Verdammt! Diese Trottel haben uns in eine Sackgasse geführt", raunte Pollus so leise, dass nur Maziroc neben ihm es hören konnte. "Offenbar kennen die sich selbst nicht richtig aus."

Auch Maziroc war überrascht. Der Ashran erhob sich durch eine Laune der Natur direkt in den Todessümpfen, vermutlich das einzige Felsmassiv, das es hier gab. Die Pfade, die den Berg hinaufführten, waren steil und eng und daher schwer zu passieren, wie Maziroc aus eigener Erfahrung wusste. Schon bei seinen früheren Besuchen hier war ihre Ersteigung ihm am unangenehmsten im Gedächtnis haften geblieben. Immerhin jedoch hatte es diese Pfade gegeben, während die Felswand vor ihnen selbst einen noch so geübten Kletterer vor ein unlösbares Problem stellen würde. Sie wies so gut wie keine Vorsprünge auf, an denen man sich festhalten konnte, fast als wäre sie glatt geschliffen.

Dennoch trat Kari weiterhin darauf zu und blieb erst unmittelbar vor dem Fels stehen. Sie drückte auf eine bestimmte Stelle, und mit einem nur leisen Knirschen schwang ein Teil der Felswand wie ein Tor zur Seite und gab den Eingang zu einem Stollen frei, der tiefer in den Berg hineinführte.

Mit einem spöttischen Lächeln wandte die Zwergin sich um und blickte Maziroc an. "Keine Sorge. Wir haben uns nicht verlaufen und sind auch in keine Sackgasse geraten, wie Ihr offensichtlich gedacht habt, sondern wir sind hier goldrichtig", sagte sie mit überheblich klingender Stimme. "Da Ihr es so eilig habt, unsere Könige zu sprechen, will ich Euch auch auf schnellstem Wege zu ihnen bringen, und das ist mittlerweile dieser."

Verwirrt folgte Maziroc ihr und den anderen Zwergen zusammen mit Pollus ins Innere des Berges. Der Stollen war eindeutig künstlich angelegt oder zumindest ausgebaut, da die Wände auch hier glatt und ebenmäßig waren und eindeutige Spuren einer Bearbeitung mit Werkzeugen aufwiesen. In regelmäßigen Abständen steckten brennende Fackeln in Halterungen und beleuchteten den Gang. Er war groß genug, dass sie bequem mit mehreren Personen nebeneinander gehen und auch die Pferde mit sich führen konnten.

"Was ist das?", fragte Maziroc. "So weit ich mich erinnere, müssen wir auf den Gipfel des Ashran hinauf, um nach Ravenhorst zu kommen, nicht in ein Loch im Inneren des Berges. Was sollen wir hier?"

 

"Wartet es nur ab", antwortete Kari. Immer noch zeigte ihr Gesicht das spöttische Lächeln, doch ihre Stimme verriet zugleich auch einen fast kindlichen Stolz. "Ihr werdet gleich eine Überraschung erleben."

Als er Pollus' fragenden Blick bemerkte, zuckte Maziroc die Achseln, um zu zeigen, dass er ebenso wenig wie der junge Soldat wusste, was das zu bedeuten hatte, und was sie erwartete.

Immer tiefer drangen sie in den Berg vor. Der Stollen verlief schnurgerade und endete schließlich an einer mit einem Gitter umgebenen Metallplattform, auf der mindestens ein Dutzend Personen Platz hatten. Von den vier Ecken der Plattform aus führten gut armdicke Ketten aus Stahl in die Höhe. Sie trafen sich in mehreren Metern Höhe, gingen in eine noch dickere Kette über und verschwanden in einem Loch in der Höhlendecke.

"Kommt schon, Maziroc, ich denke, Ihr habt es so eilig", drängte Kari. Sie und die anderen Zwerge hatten die Plattform bereits betreten. "Und bringt ruhig die Pferde mit."

"Das gefällt mir nicht", murmelte Pollus mit vor Angst leicht zitternder Stimme. Dennoch folgte er Maziroc ohne zu zögern auf die Plattform. Einer der Zwerge schloss das Gitter hinter ihnen.

Maziroc warf einen Blick in die Höhe, deutete ein Kopfschütteln an und sah dann Kari fest an. "Sagt mir, dass es nicht das ist, was ich vermute."

"Und wenn es doch genau das ist?"

"Aber ... das ist unmöglich." Noch einmal schüttelte Maziroc den Kopf, wesentlich entschiedener diesmal. "Der Ashran ist über tausend Meter hoch. Ihr könnt keinen so tiefen Schacht ..."

"Wir konnten und wir haben", fiel Kari ihm voller Stolz ins Wort, nahm eine Fackel von einem Stapel und entzündete sie an einer der bereits brennenden. "Viele natürliche Spalten und Hohlräume haben uns die Arbeit erleichtert, dennoch hat unser Volk mehr als ein Jahrhundert daran gearbeitet. Erst vor wenigen Monaten sind wir fertig geworden. Ihr seid der erste Außenstehende, der Ravenhorst auf diesem Weg erreichen wird."

Dem Magier fiel auf, dass ihre Worte ausschließlich an ihn gerichtet waren. Pollus schien für sie gar nicht zu existieren. Er hatte erwartet, dass man dem Soldaten wenig Beachtung schenken würde, aber nicht, dass man ihn so vollständig ignorierte. Offenbar befand Kari ihn nicht einmal für wert, dieses Geheimnis vor ihm zu verbergen und ihn den Ashran auf normalem Wege erklimmen zu lassen.

"Ich fühle mich geehrt", behauptete Maziroc, doch fühlte er sich in Wahrheit eher beklommen. Bei seinen bisherigen Besuchen hatte es ihn vor allem vor dem Besteigen der schmalen und steilen Pfade bis zum Gipfel des Berges gegraut. Die Vorstellung, an einem so wackligen Gefährt den Höhenunterschied von mehr als tausend Metern zu überbrücken, war ihm jedoch kein bisschen angenehmer.

"Kein Stahl wäre hart genug, um eine so lange Kette daraus zu schmieden, die stabil genug wäre, ein Gewicht aus dieser Tiefe zu heben", behauptete er.

Kari antwortete nicht, sondern griff nach einem Seil, das ebenso wie die Kette in dem Schacht über ihren Köpfen verschwand, und zog ein paarmal kräftig daran. Wenige Sekunden später strafften sich die Ketten, und ein Ruck ging durch den Boden. Die gesamte Plattform hob sich und glitt langsam in die Höhe.

Pollus griff nach Mazirocs Arm und klammerte sich so fest daran, dass es wehzutun begann.

"Was ... was ist das?", keuchte er. "Wir fliegen!"

"Nein", entgegnete Maziroc lächelnd. "Wir werden lediglich in die Höhe gezogen. Die Kette wird über ein System von Rollen und Flaschenzügen laufen, und an ihrem Ende hängen vermutlich einige entsprechend schwere Felsbrocken. Wenn man die Sperre löst, sinken sie in die Tiefe und ziehen dabei gleichzeitig die Plattform hoch. Ein ähnliches System verwenden wir auch bei einigen Lastenzügen in Cavillon, nur sehr viel kleiner."

Mit einem etwas verlegenen Lächeln löste Pollus seinen Griff. Offenbar schämte er sich bereits für seine Angst vor einem so einfachen Mechanismus, auf dessen Funktionsweise er auch leicht selbst hätte kommen können. Vor allem der Hinweis auf die Lastenzüge, mit denen auch in Cavillon schweres Bau- und Verteidigungsmaterial bewegt wurde, und die ihm deshalb vertraut waren, vermittelte ihm wohl diesen Eindruck.

Dies war jedoch ein Vergleich, der stark hinkte, wie Maziroc immer deutlicher bewusst wurde. Es stellte wirklich eine unglaubliche Leistung der Zwerge dar, wenn sie diesen Schacht vom Fuß des Ashran bis hinauf zum Gipfel durch den gesamten Berg getrieben hatten, selbst wenn natürliche Felsformationen ihnen die Arbeit erleichtert hatten. Allerdings stellte es für ihn immer noch ein Rätsel dar, wie sie eine Kette hatten schmieden können, die einer solchen Belastung standhielt.

Die Lösung darauf erhielt er bereits ziemlich schnell. Fast ohne zu ruckeln und ohne auch nur ein einziges Mal irgendwo anzustoßen glitt die Plattform an den Felswänden vorbei immer höher. Maziroc schätzte, dass sie etwa hundert Meter zurückgelegt haben mussten, als sich die Fahrt verlangsamte. Kurz darauf erweiterte sich der Schacht zu einer größeren Kammer. Hier konnten sie über sich einen Teil der Konstruktion von Winden und Rollen sehen, über die der Transport ermöglicht wurde.

Direkt neben einer gleichartigen Plattform kam die ihre zum Halten, sodass sie nur mit einigen Schritten umzusteigen brauchten, dann setzte sich die Fahrt nach oben fort. Maziroc bemerkte Karis ironisches Lächeln und ärgerte sich über sich selbst, dass er nicht von selbst auf diese einfachste aller Lösungen gekommen war. Schließlich hatte niemand behauptet, dass die Fahrt nach oben ohne Unterbrechungen vonstatten gehen würde. Dennoch war durch das System dieser kleinen Haltepunkte zum Umsteigen gewährleistet, dass sie schnell und mühelos vorankamen.

Es war jedoch nicht nur ein recht bequemer Weg nach Ravenhorst zu gelangen. Auch vom militärischen her barg diese Neuerung gewaltige Vorteile. Es wäre für jeden Angreifer Wahnsinn, die Stadt anzugreifen. Schon die Todessümpfe bargen unzählige Möglichkeiten, ein herannahendes feindliches Heer in Hinterhalte zu locken und schon frühzeitig zu dezimieren. Die schmalen Pfade zum Gipfel des Ashran ließen sich mit nur wenigen Kriegern gegen eine ganze Armee verteidigen, und nun besaßen die Zwerge auch noch die Möglichkeit, ihre Krieger schnell und unbemerkt in die Tiefe zu schicken und einem potentiellen Angreifer so in den Rücken zu fallen. Und dann waren da freilich noch die Drachen ...

Nach menschlichem Ermessen war die Stadt der Zwerge mit Gewalt nicht einzunehmen. Ob dies jedoch auch für die Damonen galt, da war sich Maziroc nicht sicher. Noch wusste er zu wenig über sie. Bei dem Ausbruch aus dem Gehöft hatten die Ungeheuer sich als nicht allzu schreckliche und gefährliche Gegner entpuppt, doch immerhin hatte es sich auch nur um ein kleines Scharmützel gehandelt, und alles war blitzschnell gegangen.

Dennoch schien Ravenhorst auch vor ihnen weitgehend sicher zu sein. Da die Zwerge jedoch dazu neigten, sich von den Angehörigen anderer Völker abzukapseln, würde es schwer sein, von ihnen Unterstützung zu erhalten. Gerade in so einer Krisenzeit mochte es durchaus sein, dass sie lieber alle ihre Krieger hier konzentrierten, um einen eventuellen Angriff auf ihre Heimat zurückzuschlagen, statt sich den Damonen mit den übrigen Völkern zusammen an einem anderen, für sie ungünstigeren Ort zu stellen.

Noch mehrere Male gelangten sie in kleinere, sich gleichende Höhlen, wo sie von einer Plattform auf eine andere wechseln mussten, und jedes Mal hatten sie einen Höhenunterschied von gut hundert Metern überwunden. Ohne das Tageslicht, das an einem dieser Haltepunkte durch einige Fenster hereinfiel, hätte Maziroc vermutlich nicht einmal erkannt, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Abgesehen von dem Licht unterschied sich der Raum kaum von den anderen, nur gab es hier in der Decke keinen Schacht mehr, der noch weiter in die Höhe führte.

Sie verließen das kleine Gebäude. Der Anblick, der sich ihnen nun bot, war Maziroc vertraut, doch wusste er, wie dieser auf jeden wirkte, der Ravenhorst zum ersten Mal betrat. Entsprechend überrascht war Pollus. Wie erstarrt blieb er stehen und blickte sich mit großen Augen um.

Ravenhorst war anders als jede sonstige Stadt Arcanas, schon deshalb, weil sie nicht auf einem bestimmten Platz aus herbeigeschafften Baumaterialien errichtet worden war. Stattdessen hatte man sich die unebene Oberfläche des Gipfelplateaus zunutze gemacht, hatte die zumeist mehrere Meter hohen Felsbuckel ausgehöhlt und sie auf diese Art zu Häusern ausgebaut. So war eine Stadt entstanden, die sich völlig der ursprünglichen Geländeformation angepasst hatte; eine Stadt, die nicht auf einem Felssockel stand, sondern darin erbaut war. Eine Folge davon waren beträchtliche Höhenunterschiede zwischen nahezu jedem einzelnen Haus, und dementsprechend viele Treppen bestimmten das Stadtbild. Dadurch war Ravenhorst zur Stadt mit den mit Abstand meisten Stufen geworden, die Maziroc kannte.

Zumindest war dies früher einmal so gewesen. Das ursprüngliche Ravenhorst hatte Maziroc nie gesehen, denn vor allem in den letzten zwei, drei Jahrhunderten waren die Zwerge immer mehr von ihrer Philosophie abgewichen, zumindest äußerlich alles im ursprünglichen Zustand zu belassen. Nicht zuletzt aus Platzmangel waren sie dazu übergegangen, zunächst vereinzelte Korrekturen an den Felsformationen vorzunehmen, und mittlerweile waren zahlreiche Gebäude um weitere Stockwerke aufgestockt oder sogar soweit verändert worden, dass sie eine völlig neue Form gewonnen hatten.

Wie Maziroc wusste, wurden diese Veränderungen jedoch nicht willkürlich vorgenommen, sondern von Städteplanern entworfen und geprüft. Diese Städteplaner gingen dabei nicht nur nach ökonomischen, sondern in erster Linie nach künstlerischen Gesichtspunkten vor, und genossen beim Zwergenvolk ein hohes Ansehen. Die einzelnen Bereiche der Stadt waren nach völlig unterschiedlichen Gesichtspunkten gestaltet worden, was in der Gesamtheit ein äußerst faszinierendes Bild ergab. Auch waren die Außenseiten nahezu aller Häuser von Künstlern mit aufwendigen Reliefs verziert worden, eine Fertigkeit, die die Zwerge wie kein anderer beherrschten. Zumeist zeigten diese Reliefs und sonstigen Verzierungen bedeutsame Szenen aus der glorreichen Geschichte ihres Volkes.

Durch all diese Eingriffe war Ravenhorst im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einer Kunststadt geworden, und das in gleich mehrfacher Hinsicht. Die einstmals natürlichen Formen waren durch künstliche ersetzt worden, wodurch das gesamte Arrangement der Stadt sowohl künstlich wie auch künstlerisch geworden war, ein künstliches Kunstwerk.

Obwohl er bereits mehrfach hier gewesen war, verfehlte der Anblick seine Wirkung auch auf den Magier nicht, zumal sich der Teil der Stadt, den er sehen konnte, seit seinem letzten Besuch vor fast zwei Jahrzehnten bereits wieder beträchtlich verändert hatte.

"Bringt den da in ein Quartier und sorgt dafür, dass er dort bleibt!", befahl Kari und deutete dabei auf Pollus. Ihre Worte zerstörten die Faszination, die die beiden Männer gefangen hatte und riss sie aus ihren Gedanken. "Und was ist mit Euch?", wandte sie sich an Maziroc. "Möchtet Ihr Euch auch erst in einem Quartier ausruhen und ein wenig frisch machen, oder wollt ihr direkt zu unseren Königen sprechen?"

"Da die Angelegenheit, die mich hergeführt hat, so ungeheuer wichtig ist, möchte ich sie Euren Königen lieber so bald wie möglich vortragen", erklärte der Magier.

"Wie ihr wünscht. Dann kommt mit mir", sagte Kari. Während die drei anderen Zwerge Pollus nach links davonführten und auch die Pferde mit sich nahmen, folgte Maziroc ihr die Straße in rechter Richtung entlang, auf ein großes, kuppelförmiges Gebäude zu, den Königspalast. Auf dem Weg dorthin begegneten ihnen zahlreiche andere Zwerge. Neugierig musterten sie Maziroc, einige grüßten ihn auch, obwohl sie ihn nicht persönlich kannten, aber wohl schon von ihm gehört hatten und ihm auf diese Weise ihre Hochachtung ausdrückten wollten.

Aus der Ferne, vom östlichen Ende der Stadt her, war ein gedämpftes Brüllen zu hören, ein Laut, der Maziroc eine Gänsehaut über den Rücken trieb. Es handelte sich um den Ruf eines Drachen. Kraft und ungebändigte Wildheit klangen darin mit. Die Zwergenkrieger galten neben denen der Elben als die Besten ihrer Art, doch zu einem beträchtlichen Teil beruhte der Mythos ihrer Unbesiegbarkeit auf ihren Drachen. Kaum jemand wusste genau, ob sie wirklich einige dieser Tiere gezähmt hatten und schon gar nicht, wie viele. Dennoch rankten sich unzählige Legenden um sie, und Maziroc war einer der ganz wenigen Menschen die wussten, wie groß der Anteil an Wahrheit daran war.

 

Sie erreichten den Kuppelbau und traten ein. Kari musste einen ziemlich hohen Rang bekleiden, denn ohne dass sie von einer der vielen Wachen auch nur ein einziges Mal aufgehalten wurden, führte sie ihn direkt bis in den Thronsaal. Sie selbst blieb neben den beiden Wachen an der Tür stehen, während Maziroc auf den großen, halbkreisförmig nach außen gewölbten Marmortisch zutrat, hinter dem die Zwergenkönige saßen.

Anders als die meisten anderen Völker, die sich mit einem einzigen Herrscher begnügten, besaßen die Zwerge gleich fünf Könige, die die fünf wichtigsten Berufsgruppen des Zwergenvolkes repräsentierten. So gab es den religiösen Stand, die Künstler, die Jäger und Beerensammler, die die Versorgung mit Nahrungsmittel sicherten, die Minenarbeiter, die Erze und kostbare Edelsteine aus dem Ashran abbauten, und natürlich die Krieger. Jede dieser Bevölkerungsgruppen besaß einen eigenen König, der sich speziell um ihre Interessen kümmerte, und bei Entscheidungen, die das gesamte Volk betrafen, mussten sie sich untereinander einigen. Ein Herrschaftssystem, das sicherlich noch nicht perfekt war, das Maziroc jedoch für wesentlich fortschrittlicher und effektiver hielt, als die Herrschaft eines einzelnen Königs oder gar Tyrannen, dessen Macht zudem meist auf seiner Stärke beruhte, weshalb seine Armee meist einen übergroßen Einfluss besaß.

"Seid gegrüßt, Maziroc von Cavillon", richtete Borrus, der schon fast greisenhafte König der Krieger, das Wort an ihn. Er saß in der Mitte des lang gezogenen Tisches. "Wir haben gehört, dass Ihr äußerst wichtige Nachrichten bringt, deshalb haben wir Euch entgegen allen protokollarischen Gepflogenheiten diese überhastete Audienz gewährt."

"So ist es, und ich danke Euch dafür, dass ich so schnell mit Euch sprechen kann", entgegnete Maziroc und verbeugte sich. "Ich überbringe Euch die Grüße von Charalon, dem Oberhaupt des Magierordens, und zugleich auch seine Bitte um Hilfe."

Neugier blitzte in Borrus' in ein Geflecht tiefer Falten eingebetteten Augen auf. "Aufgrund der langjährigen Freundschaft zwischen dem Volk der Zwerge und dem Orden der Magier, werden wir dieser Bitte gerne nachkommen, sofern es uns möglich ist", sagte er. "Allerdings kann ich mir nur schwer vorstellen, bei was Charalon unsere Hilfe benötigen könnte."

"Genau genommen geht es nicht direkt um Charalon oder unseren Orden", stellte Maziroc richtig. "Alle bekannten Völker benötigen diese Hilfe, und nicht nur die Eure, sondern auch die aller anderen, die in der Lage sind, Krieger für ein Heer zu stellen. Es ist eine Gefahr entstanden, die ganz Arcana bedroht, und die wir nur abwenden können, wenn alle freiheitsliebenden Völker sich zu einem Bündnis zusammenschließen und ihr mit vereinter Macht entgegentreten."

Betroffenes Schweigen folgte seinen Worten.

"Das hört sich nach sehr schlechten Nachrichten an, die Ihr überbringt", sagte Farin, die Königin der Künste, schließlich. Sie war die jüngste im Rat der Könige, und neben Shira, der religiösen Führerin, die einzige Frau. Dunkles Haar fiel ihr in Locken bis weit über die Schultern und rahmte ein etwas pausbäckiges Gesicht ein. "Bitte berichtet uns mehr über diese Gefahr, die unsere ganze Welt bedrohen soll."

Maziroc begann zu erzählen. Er berichtete von den überfallenen und niedergebrannten Höfen und Dörfern, den verschwundenen Elbenspähern und den übrigen bedrohlichen Entdeckungen, von Eibons Besuch in Cavillon und dem Aufbruch der großen Expedition. Als er zu den Ereignissen auf dem Gehöft kam, überlegte er kurz, ob er das Zusammentreffen mit Kenran'Del erwähnen sollte, verzichtete dann aber darauf. Er wusste nicht, ob die eher abgeschieden lebenden Zwerge die Sagengestalt kannten. Von ihr zu sprechen, hätte nur eine Vielzahl zusätzlicher Erklärungen nötig gemacht, und dennoch wäre seine Schilderung dadurch höchstens weniger glaubhaft geworden.

"Die Damonen, mit denen wir es zu tun hatten, waren nur eine kleine Vorhut ohne richtige Führung", berichtete er stattdessen nur. "Außerdem konnten wir sie täuschen und überraschen. Aber Berichten zufolge, die wir für völlig glaubwürdig halten, handelt es sich um Hunderttausende dieser Ungeheuer, wenn nicht Millionen, und es werden mit jedem verstreichenden Tag mehr."

"Aber gegen einen so mächtigen und zahlenmäßig so überlegenen Feind haben wir selbst vereint keine Chance", entfuhr es Farin.

"Das wird sich zeigen", widersprach Maziroc. "Die Elben haben sich bereits bereit erklärt, sich einem Bündnis anzuschließen, gleiches gilt für uns Magier. Nun hoffe ich, dass sich die Zwerge ebenso entscheiden. Allein diese drei Völker besäßen die Stärke, jedem Angreifer zumindest erbitterten Widerstand entgegenzusetzen, und wir werden nicht allein sein. Ich bin überzeugt, dass der Kaiser von Larquina und viele der unabhängigen Städte Truppen entsenden werden. Mit Sicherheit wurden bereits Boten nach Aslan und Caarn entsandt, die auch dort um Unterstützung werben sollen. Bei einer solchen Streitmacht denke ich, dass wir durchaus eine Chance haben."

"Und diese ... Damonen, wie Ihr sie nennt, sollen durch ein Tor zwischen den Welten nach Arcana gelangt sein?", hakte Shira nach. Ihr Gesicht war schmal, fast hager, und im Gegensatz zu jeder bei den Zwergen herrschenden Mode trug sie ihr blondes Haar sehr kurz. Unverhohlene Skepsis schwang in ihren Worten mit, doch Maziroc konnte verstehen, dass sie als religiöses Oberhaupt gerade an der Herkunft der Damonen besonders interessiert war.

"Eine Weltenbresche", bestätigte er. "Ich weiß selbst nur wenig darüber und kann Euch deshalb nicht mehr darüber berichten, wie und warum sie entstanden ist. Möglicherweise nur ein Naturphänomen. Fest steht jedenfalls, dass es sie gibt und das Heer der Damonen auf diesem Weg mit jeder weiteren Stunde zusätzlichen Nachschub erhält."

"Und was genau erwartet Ihr und Charalon nun von uns?", ergriff Borrus wieder das Wort. "Wie sehen die Pläne im Einzelnen aus, mit denen dieser Bedrohung begegnet werden soll?"

"Über Einzelheiten bin auch ich noch nicht informiert", gab Maziroc zu. "Die Reise hierher hat lange gedauert, und ich bin unmittelbar nach unserer Flucht von dem Hof aufgebrochen. Das Allerwichtigste war es zunächst, möglichst viele Völker zu warnen und sie um Unterstützung zu bitten. Erst wenn wir wissen, wer sich uns anschließt und wie stark unsere Verteidigung sein wird, kann eine Strategie festgelegt werden, zumal sicher alle Beteiligten daran mitarbeiten wollen. Nachdem wir nun von ihrer Existenz wissen, kann es jedoch nicht mehr lange dauern, bis die Damonen ihre Eroberungszüge ausdehnen, und bis dahin müssen wir ein schlagkräftiges Heer aufgestellt haben, um sie aufzuhalten. Wenn es uns gelingt, sie zu schlagen, können wir anschließend versuchen, die Weltenbresche zu zerstören oder sonst wie zu schließen, um diese Bedrohung vollends zu beseitigen."

Einige Sekunden herrschte Schweigen, dann beugten sich die Könige einander zu und redeten mehrere Minuten lang leise miteinander, ohne dass Maziroc ein Wort verstand.

"Bislang haben die Elben offenbar ziemlich viel Initiative in dieser Angelegenheit gezeigt", ergriff Borrus schließlich wieder das Wort. "Wir wüssten gerne, welche Rolle sie im Kampf gegen diese Damonen spielen werden. Ihr wisst, welche Spannungen zwischen ihrem und unserem Volk herrschen. Auf keinen Fall werden wir uns als eines von vielen Völkern einem Heer anschließen, das von ihnen dominiert oder gar befehligt wird."

Maziroc seufzte. Genau diese Reaktion hatte er befürchtet. Selbst im Angesicht einer so furchtbaren Gefahr wie dieser drohten unsinnige uralte Ressentiments und Streitereien den Aufbau einer starken, einigen Abwehr zu verzögern oder gar zu vereiteln. Aber da er diese Entwicklung vorausgesehen hatte, hatte er immerhin Gelegenheit gehabt, sich darauf vorzubereiten und sich Argumente zurechtzulegen.