Die Elfen der Dämmerung: 3 dicke Fantasy Sagas auf 1500 Seiten

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Für einen kurzen Moment fühlte Maziroc Bitterkeit darüber in sich aufsteigen, dass Charalon ausgerechnet ihn für diese Mission ausgewählt hatte. Das mächtige Volk der Zwerge würde ein extrem wichtiger Rückhalt in einem Bündnis sein, und ob es sich diesem anschloss, mochte nicht zuletzt von seinen nächsten Worten abhängen. Möglicherweise hing sogar die gesamte Zukunft Arcanas zu einem beträchtlichen Teil davon ab, was er hier und jetzt sagte. Er fühlte diese Verantwortung wie eine schwere Last, die seinen Puls beschleunigte und seine Gedanken zu lähmen drohten. All die Worte, all die sorgsam geschliffenen Formulierungen, die er sich auf dem Weg hierher so gründlich zurechtgelegt hatte, schienen mit einem Mal aus seinem Kopf verschwunden zu sein, als ob jemand seinen Verstand mit einem riesigen Besen leer gefegt hätte.

"Die Unstimmigkeiten zwischen Eurem Volk und dem der Elben sind mir durchaus bekannt", begann er und merkte im gleichen Moment, wie hölzern und gekünstelt seine Worte klangen. Vor Nervosität bekam er feuchte Handflächen, was ganz und gar nicht seiner Art entsprach. "Aber jetzt geht es um Wichtigeres", fuhr er fort. "Die Damonen bilden eine Bedrohung für ganz Arcana, die größte und schlimmste, die diese Welt je gesehen hat. Und deshalb können wir uns ihr auch nur erwehren, wenn wir alle zusammenhalten, wenn alle Völker Arcanas ihre Meinungsverschiedenheiten beilegen und sich zu einer Allianz zusammenschließen."

Die Gesichter der Zwerge blieben unbewegt; Maziroc spürte, dass seine Worte wenig Eindruck auf sie machten. Das war allerdings auch kein Wunder. Was er sagte, hatte nichts mit den geschliffenen, eindrucksvollen Formulierungen gemein, die er sich zurechtgelegt hatte. Sein Appell bestand fast nur aus Plattitüden. Ihm fehlte jedes Feuer, und selbst die Art, wie er sprach, war ohne jede wahre Leidenschaft, die andere mitreißen und überzeugen könnte.

Er ärgerte sich über sich selbst. Er war ein reifer, erfahrener Mann, der weiter als nahezu jeder andere in der Welt herumgekommen war, der bei allen Völkern beliebt und geachtet war, der Wunder gesehen hatte, von denen andere nur zu träumen wagten, und der sich anschickte, in einigen Jahren an die Spitze des überaus einflussreichen und bedeutsamen Magierordens zu treten. Jetzt aber, angesichts einer wirklich verantwortungsvollen Aufgabe, stammelte er wie ein dummer Junge herum.

Der Zorn, den er auf sich selbst empfand, dehnte sich plötzlich auch auf die sture Haltung der Zwerge aus und überschwemmte sein Denken.

"Zum Teufel mit Eurem albernen Streit mit den Elben!", platzte er heraus. Diesmal erzielte er eine deutliche Wirkung. Alle fünf Zwerge zuckten unter der plötzlichen Aggressivität in seiner Stimme zusammen. In dieser Form hatte es sicherlich schon lange niemand mehr gewagt, zu ihnen zu sprechen, schon gar nicht hier, in ihrem altehrwürdigen Thronsaal.

"Glaubt Ihr wirklich, dies ist der richtige Moment, um wie Kinder darüber zu zanken, wer mehr Soldaten zu einem Heer beisteuert, wer wie viel Einfluss auf die Strategie hat und wer es kommandieren wird? Die Elben haben die neue Gefahr als Erste entdeckt. Sie haben uns gewarnt und erste Gegenmaßnahmen eingeleitet. Dafür sind wir ihnen außerordentlich dankbar, und auch Ihr solltet es sein, denn ohne sie wäre ich nicht einmal hier und könnte Euch warnen. Wenn Ihr fürchtet, dass der Einfluss der Elben im bevorstehenden Krieg zu groß sein könnte, dann braucht Ihr nur wie sie entsprechend viele Krieger zu stellen, und Euer Wort wird noch mehr Gewicht bekommen, als es ohnehin hat. Nur, bei allen Göttern, hört auf, jetzt um solche völlig unwichtigen Kleinigkeiten zu feilschen, wo das Fortbestehen aller Völker auf dem Spiel steht, auch das des Euren. Wenn Ihr dazu nicht in der Lage seid, dann hätte ich mir den Weg hierher besser gleich gespart."

Zornig sprang Shira auf. "Ihr vergreift Euch im Ton, Maziroc!", sagte sie scharf. "Es wäre besser, wenn Ihr Eure Zunge hütet. Vergesst nicht, dass Ihr als Bittsteller zu uns gekommen seid."

"Aber als Bittsteller nicht für mich, sondern für all die, deren Leben jetzt bedroht ist", erwiderte Maziroc ebenso scharf. "Ich entschuldige mich, wenn meine Worte und mein Tonfall Euch ungebührlich erscheinen mögen, aber ungewöhnliche Situationen erfordern auch ungewöhnliche Reaktionen. Ich kann nicht um wohlfeile Formulierungen ringen und Verständnis für Bedenken heucheln, wie Ihr sie wegen eines uralten Zwists hegt, an dessen Ursprung sich niemand mehr erinnern kann, wenn Zorn und Bitterkeit in mir kochen, weil es um das Leben Millionen unschuldiger Kinder, Frauen und Männer geht."

"Ihr ..." setzte Shira erneut an, beugte sich im Stehen vor und stützte ihre Hände auf den Tisch, während sie Maziroc zornig anfunkelte, doch Garwin, der König der Jäger und Sammler, der zusammen mit Borrus Älteste und vermutlich auch Weiseste in der Runde, machte rasch eine beschwichtigende Geste.

"Lass ihn", sagte er. "Er hat recht. Wenn sich alles so verhält, wie er es schildert, dann kann ich seine Erregung gut verstehen. Hier geht es um einen beispiellosen bevorstehenden Völkermord. Darüber sollten wir uns ereifern, nicht über Fragen der Etikette, und wir sollten dabei auch nicht auf unseren Vorteil gegenüber den Elben oder anderen Völkern schielen."

Maziroc nickte ihm dankbar zu.

"Verzeiht mein Auftreten, aber irgendwie musste ich Eure Aufmerksamkeit wecken und an Eure Gefühle appellieren, um Euch aus Eurer Gleichgültigkeit zu erwecken. Ich hoffe, dass ich Euch damit nicht vor den Kopf gestoßen habe, aber wie der ehrenwerte Garwin gesagt hat, zählt das Leben all der bedrohten Menschen auch in meinen Augen mehr als die Etikette. Die Völker brauchen Eure Hilfe."

"Und wenn schon. Es sind nur Menschen", stieß Shira hervor, während sie sich wieder setzte. "Warum sollten wir Zwergenblut vergießen und Zwergenleben gefährden, nur um das von Menschen zu schützen?"

Bevor Maziroc auf ihre hochmütige Äußerung antworten konnte, meldete sich Farin rasch wieder zu Wort. "Was bringt Euch überhaupt zu der Gewissheit, dass diese Damonen es auf die Ausrottung aller Bewohner Arcanas abgesehen haben?", wollte sie wissen. "Selbst wenn sie nur vorhätten, die verschiedenen Länder zu erobern und die Menschen zu versklaven, wäre das schon schrecklich genug, aber in der Geschichte dieser Welt hat es schon viele Despoten und Kriegsherren gegeben, die dies aus Gier oder Machthunger versucht haben. Welchen Sinn jedoch sollte ein Völkermord haben, wie Ihr ihn heraufbeschwört?"

"Ihr habt die Damonen nicht gesehen, sonst würdet Ihr nicht fragen", erwiderte Maziroc leise. "Bislang haben sie jeden niedergemetzelt, auf den sie gestoßen sind, gleichgültig, ob Menschen, Elben oder Barbaren, ob Frauen, Männer, Kinder oder Greise. Die Damonen sind keine vernunftbegabten Wesen, an die wir Maßstäbe anlegen können, wie sie für uns gelten. Es sind Ungeheuer, deren einziger Lebenszweck das Morden zu sein scheint. Und über die Wesen, die hinter ihnen stehen und sie befehligen, oder deren Absichten wissen wir bislang gar nichts."

Wieder sprachen die Zwergenkönige einige Minuten lang so leise miteinander, dass Maziroc ihre Worte nicht verstehen konnte, doch diesmal schien es zwischen ihnen Meinungsverschiedenheiten zu geben, wie er ihrem Mienenspiel entnehmen konnte. Er wertete es als ein gutes Zeichen. Offenbar war es ihm gelungen, zumindest Garwin auf seine Seite zu bringen, vielleicht auch noch einen oder zwei der anderen.

Shira hingegen würde sicherlich gegen seine Bitte stimmen. Die religiöse Führung der Zwerge hatte schon immer für eine stärkere Abkapselung gegenüber anderen Völkern gestritten, weil es angeblich dem Willen der Götter entsprach, die Reinheit ihrer Lehre nicht durch den Kontakt mit minderwertigen Lebensformen verwässern zu lassen. Darüber hinaus verachtete Shira auch persönlich andere Völker, vor allem die Menschen.

"Wir wollen Eure Aussagen nicht anzweifeln", richtete Borrus schließlich wieder das Wort an ihn. "Aber Ihr werdet sicherlich verstehen, dass wir keine Entscheidung, die auch für die Zukunft unseres Volkes so bedeutsam sein kann, fällen werden, ohne uns vorher selbst ein umfassendes Bild von der Lage zu machen. Deshalb werden wir morgen früh bei Sonnenaufgang einige unserer Drachenreiter ausschicken. Wenn sie zurückgekehrt sind und uns Bericht erstattet haben, werden wir uns hier wieder zusammenfinden und erneut über unsere weiteren Schritte beraten. Bis dahin bitten wir Euch, unser Gast hier in Ravenhorst zu sein."

Maziroc nickte. Ihm brannte die Zeit unter den Nägeln, und lieber hätte er sofort eine Entscheidung bekommen, doch er sah ein, dass er unter den gegebenen Umständen nicht mehr erreichen konnte.

"Ich nehme Euer Angebot dankbar an", sagte er.




Gefangen


Das Erste, was Miranya bei ihrem Aufwachen wahrnahm, waren die schlimmsten Kopfschmerzen, die sie je in ihrem Leben verspürt hatte. Sie wusste nicht, wo sie sich befand und was geschehen war, nicht einmal, wer sie war. Der Schmerz lähmte ihr gesamtes Denken, und als sie eine unvorsichtige leichte Bewegung machte, beschränkte er sich nicht länger nur auf ihren Kopf, sondern breitete sich wie flüssiges Feuer in ihrem ganzen Körper aus, als ob jeder einzelne Nerv in Flammen stünde. Sie konnte nicht einmal schreien. Nur ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen, und sie wünschte sich, wieder in die sanfte, schmerzfreie Schwärze der Bewusstlosigkeit zurücksinken zu können, doch auch das gelang ihr nicht.

 

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Schmerz so weit nachließ, dass sich zumindest ihre Gedanken wieder ein wenig klärten. Irgendetwas stimmte nicht, soviel wurde ihr bewusst. Ihr Erwachen unter diesen Umständen war nicht normal; etwas musste vorher passiert sein. Langsam, wie ein dünnes Rinnsal, kehrten einige ihrer Erinnerungen zurück. Vage erinnerte sie sich an die Reise, die sie mit Maziroc und einigen anderen Begleitern unternommen hatte, und an die Zwerge, die sich ihnen nach dem Überfall durch die Hornmänner als Begleitschutz angeschlossen hatten. Das Bild einer Stadt tauchte vor ihr auf: Therion. Zusammen mit ihren Begleitern war sie in einem Gasthaus eingekehrt und dann ... dann ...

Nichts.

Es war, als würden ihre gedanklichen Fühler, mit denen sie nach ihrer Erinnerung zu tasten versuchte, immer wieder gegen eine Wand prallen und daran abgleiten, so sehr sie sich auch bemühte. Verbittert wollte sie den Kopf schütteln, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig daran, dass dies vermutlich sofort eine neue Welle von Schmerz auslösen würde, und verzichtete darauf.

Nach einiger Zeit waren die Qualen auf ein Maß herabgesunken, dass Miranya es wagte, ihre Augen zu öffnen. Die Lider waren verklebt und lösten sich nur widerwillig. Vorsichtig blinzelte sie durch winzige Schlitze hindurch, darauf gefasst, dass jeder Lichtstrahl den schrecklichen Schmerz neu anfachen würde, doch sie wurde angenehm enttäuscht. Es war fast dunkel um sie herum; lediglich durch einen Spalt in einer nicht ganz geschlossenen Tür fiel ein schwacher Lichtschein aus dem Nebenzimmer herein, der jedoch nicht einmal reichte, sie Einzelheiten ihrer Umgebung erkennen zu lassen.

Dafür bekam sie mit Nachlassen des Schmerzes allmählich ein besseres Gefühl für ihren Körper. Sie lag auf einer harten Unterlage, soviel konnte sie spüren. Nur ganz langsam und vorsichtig wagte Miranya es, sich zu bewegen. Ihre Arme befanden sich in einer unbequemen Haltung hinter ihrem Rücken. Sie versuchte sie dahinter hervorzuziehen, doch es gelang ihr nicht, da sie an den Handgelenken gefesselt war. Noch immer wusste sie nicht, wie sie hierhergekommen war, doch war sie sich nun völlig sicher, dass etwas nicht stimmte. Man hatte sie offenbar entführt, und sie glaubte nicht, dass der Schmerz nur darauf zurückzuführen war, dass man sie niedergeschlagen oder sonst wie betäubt hatte.

Miranya kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, weil in diesem Moment die Tür ganz geöffnet wurde. Das Licht kam ihr im ersten Moment grell vor, und sie musste ein paarmal blinzeln, aber es tat ihr nicht so weh, wie sie befürchtet hatte. Ein Mann trat ein, den sie gegen den hellen Hintergrund zunächst nur als Silhouette sehen konnte. Erst als er direkt neben der Pritsche stand, auf der sie lag, konnte sie sein Gesicht erkennen.

Es war Scruul.

Im gleichen Moment zerbarst die Wand in ihrem Geist wie eine Staumauer, und aus dem dünnen Rinnsal, mit dem Bilder, Namen und Geschehnisse zuvor in ihr Gedächtnis zurückgekehrt waren, wurde plötzlich ein breiter Strom, als sämtliche Erinnerungen an das, was geschehen war, mit der Wucht einer Flutwelle über sie hereinbrachen.

"Scruul!", stieß sie hasserfüllt hervor. Ihr Mund und ihre Kehle waren trocken, und das Sprechen fiel ihr so schwer, dass sie nur dieses eine Wort herausbrachte.

"Du bist wach, gut", sagte er. "Willkommen im Land des Bewusstseins und der Schmerzen. Wahrscheinlich fühlst du dich ziemlich schlecht, aber das ist eine Nebenwirkung, die sich leider nicht vermeiden ließ. Immerhin kannst du überhaupt noch etwas fühlen. Ein paar Stunden lang habe ich schon befürchtet, wir hätten dich verloren. Es sah ganz danach aus, als würdest du es nicht überstehen."

"Überstehen?", wiederholte Miranya, nachdem sie ein paarmal geschluckt hatte und das Sprechen ihr etwas leichter fiel. "Was ... hast du mit mir gemacht?"

"Ich? Gar nichts", behauptete Scruul. "Aber einer meiner Freunde, wie ich selbst ein Caer-Sharuun, hat versucht, dein Gedächtnis ein wenig zu manipulieren. Alles wäre viel leichter gewesen, wenn du dich nicht mehr daran erinnern würdest, dass ich hinter dieser kleinen Intrige stecke. Aber leider hat sich dein Verstand als zu stark für eine solche Beeinflussung erwiesen. Wir mussten aufgeben, sonst hätten wir dich getötet, und es war so schon hart an der Grenze. Möchtest du etwas Wasser?"

Miranya rang einen Moment mit sich, dann sah sie ein, dass falscher Stolz ihr in der momentanen Situation gar nichts helfen würde. Widerstrebend nickte sie. Scruul verließ das Zimmer und kam gleich darauf mit einem Becher zurück. Er schob einen Arm unter ihrem Oberkörper hindurch und half ihr, sich in eine halb sitzende Position aufzurichten, dann setzte er ihr den Becher an die Lippen. Gierig trank sie das Wasser. Das Brennen in ihrem Hals ließ rasch nach.

"Es tut mir wirklich leid, dass wir dir einige Unannehmlichkeiten bereiten müssen", sprach Scruul weiter und ließ sie wieder auf die Pritsche zurücksinken. "Aber das hast du dir selber zuzuschreiben. Du hättest nicht so neugierig sein sollen, dann hättest du dir eine Menge ersparen können."

"Du lügst", behauptete Miranya. "Ich habe genug gehört, um zu wissen, dass du mich sowieso entführen wolltest."

"Das schon", bestätigte er. "Aber dann hättest du nicht gewusst, dass ich dahinterstecke, und wir hätten dich freilassen können, sobald sich Kenran'Del in unsere Hand begeben hätte. Da du es nun aber weißt und dein Gedächtnis sich nicht genügend beeinflussen ließ, werden wir dich bei dem Austausch leider töten müssen, sobald wir haben, was wir wollen. Es kann nicht schaden, wenn Maziroc mir noch eine Weile vertraut."

Miranya bemühte sich, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen. Sie war nicht einmal wirklich überrascht. Schon seit Scruul ihr erzählt hatte, dass seine Mitverschwörer erfolglos ihr Gedächtnis zu manipulieren versucht hätten, war ihr klar gewesen, dass er sie töten würde, damit er Maziroc gegenüber seine bisherige Rolle weiterspielen konnte. Aber es so direkt aus seinem Mund zu hören, schürte dennoch die Angst in ihr.

Bevor sie zu dieser Reise aufgebrochen war, hatte sie sich noch niemals in richtiger Lebensgefahr befunden. Sie war behütet im Turm der Hexen aufgewachsen, behütet und umsorgt nicht nur von ihrer Mutter, sondern von allen dort lebenden Vingala. Seit sie nach Cavillon gereist war und sich zur Teilnahme an dieser Expedition entschlossen hatte, hatte sich dies jedoch vollständig geändert. Beim Überfall der Hornmänner hatte sie zum ersten Mal echte Todesangst kennengelernt, und nun, kaum eine Woche später, befand sie sich erneut in tödlicher Gefahr.

Dabei fühlte sie sich weder besonders mutig noch besonders tapfer, und schon gar nicht fühlte sie sich zur Heldin geboren. Im Grunde hatte sie sich Maziroc auch nicht aufgrund irgendwelcher hehren Ideale angeschlossen. Sicher, seine Aufgabe mochte äußerst wichtig sein, mochte möglicherweise sogar über das Leben zahlloser Menschen entscheiden, doch in erster Linie hatte sie sich der Gruppe aus einer Mischung aus Abenteuerlust und Neugier angeschlossen.

Nun, ihr Bedarf an Abenteuern war vorläufig gedeckt, und was ihre Neugier betraf, so war diese anscheinend eher eine charakterliche Schwäche, die sie letztlich auch in diese unangenehme Lage erst hineingebracht hatte.

Sie bedauerte, dass sie neben ihrer Heilkunst keine speziellen magischen Fähigkeiten oder wenigstens einige Skiils besaß, mit denen sie sich in einer Situation wie dieser verteidigen könnte. Anderseits, hätte sie solche Skiils besessen, hätte Scruul sie ihr mit Sicherheit abgenommen. Gefesselt, wie sie war - nicht nur an den Hand, sondern auch den Fußgelenken, wie sie inzwischen entdeckt hatte - war sie ihm jedoch wehrlos ausgeliefert. Ihre einzige, wenngleich äußerst geringe Chance bestand darin, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

"Du bist verrückt", behauptete sie. "Völlig wahnsinnig, unter den gegebenen Umständen, wo uns allen der Untergang durch die Damonen droht, solche Ränke zu schmieden, um dich zu bereichern."

"Hier geht es nicht darum, mich zu bereichern", widersprach Scruul in einem besserwisserischen Tonfall, als hätte er es mit einem störrischen Kind zu tun, das nicht einsehen wollte, warum es sich vom flackernden Herdfeuer fernhalten sollte. Immerhin aber schien er bereit zu sein, sich überhaupt auf ein Gespräch mit ihr einzulassen, statt den Raum einfach wieder zu verlassen. Er setzte sich zu ihr auf die Kante der Pritsche.

"Ach nein?", höhnte sie. "Als Nächstes wirst du wohl noch behaupten, du würdest dies nur zum Wohl von ganz Arcana tun, ohne jegliche eigennützige Absicht. Ein verkappter Wohltäter sozusagen."

"Unsinn!", zischte er. "Ich und meine Gefährten, wir wollen die Machtmittel, über die dieser Kenran'Del verfügt, so viel hast du ja ohnehin bereits mitbekommen. Ich glaube die alten Märchen nicht, wonach er als Gesandter der Götter von den Sternen herabgestiegen ist. Eher denke ich, dass diese geheimnisvolle Zitadelle die Quelle seiner Macht darstellt. Vielleicht ist er sogar dort erst auf etwas gestoßen, das ihm seine unglaublichen Fähigkeiten verleiht. Aber er ist ein Narr, denn er nutzt sie nicht. Tausend Jahre lang hat er sinnlos verschlafen, und womöglich wird er sich erneut in seinen magischen Schlaf begeben, wenn die Gefahr durch die Damonen gebannt ist, dabei könnte er so vieles tun, um die Geschicke dieser Welt zu beeinflussen. Deshalb dürfen seine Machtmittel nur dem Dunklen Bund in die Hände fallen."

"Damit ihr eine Terrordiktatur errichten und die Völker versklaven könnt", stieß Miranya hervor. Abgesehen von der Wahl ihrer Mittel war dies der Hauptunterschied zwischen dem Dunklen Bund einerseits und den Ishar und Vingala anderseits. Während letztere jede Art von Unterdrückung ablehnten und keinerlei Macht für sich erstrebten, waren die Mitglieder des Dunklen Bundes geradezu gierig danach.

"Wir Magier und Hexen sind nun einmal die Zukunft Arcanas", entgegnete er. "Selbst wenn eure beiden Orden dies nicht einsehen wollen. Genau deshalb erhält der Dunkle Bund ja auch immer mehr Zulauf. Die alten Völker sterben allmählich aus, und der normalen Menschheit, aus der heraus wir uns entwickelt haben, sind wir in jeder Hinsicht weit überlegen. Indem sie uns hervorgebracht hat, hat sie ihren Zweck erfüllt. Im Vergleich zu uns sind die normalen Menschen nicht viel mehr als Tiere. Warum also sollen wir ihnen die Geschicke dieser Welt überlassen, statt sie in die eigenen Hände zu nehmen?"

"Weil es nun mal ihre Welt ist", entgegnete Miranya schwach. Während ihrer Ausbildung war sie mit den Argumenten und Verlockungen des Dunklen Bundes konfrontiert worden und hatte gelernt, ihnen zu begegnen, doch gegen die Leidenschaftlichkeit, mit der Scruul von seinem Standpunkt überzeugt war und ihn verteidigte, kam ihr jedes ihrer Worte wie eine inhaltsleere, auswendig gelernte Phrase vor. "Vielleicht werden wir wirklich eines Tages ihr Erbe antreten, das wird die Zukunft weisen. Aber so weit ist es noch lange nicht", fügte sie hinzu.

"Nichts als albernes Geschwätz", sagte Scruul und machte eine heftige Handbewegung, als ob er ihre Argumente damit beiseite fegen wollte. "Die Menschen haben bereits mehr als genug Zeit gehabt, um zu zeigen, dass sie würdig sind, über diese Welt zu herrschen, aber diesen Beweis sind sie bislang schuldig geblieben. Eher das Gegenteil ist der Fall. Wenn man genauer hinsieht, zeigen sie mit jedem Tag mehr, wie wenig sie dazu fähig sind. Alle Fortschritte auf den wichtigen Gebieten der Magie, der Alchimie und allen anderen Wissenschaften gehen doch schon seit langer Zeit nur noch auf uns Magier und Hexen zurück. Die Menschen haben lediglich in der Baukunst und bei der Herstellung von Waffen und anderen Werkzeugen einige Verbesserungen hervorgebracht. Aber das ist ja auch kein Wunder, denn schließlich ist es ja schon seit Jahrtausenden ihre liebste Beschäftigung, aus den nichtigsten Anlässen heraus gegeneinander Krieg zu führen."

"Glaub nicht, dass mir das gefällt", pflichtete Miranya ihm widerstrebend bei. "Aber das ist ihre Entscheidung. Sie haben das Recht, sich ihren eigenen Weg zu suchen."

 

"Den sie niemals finden werden, weil sie keinen haben. In gewisser Hinsicht sind sie fast wie diese Damonen, auch ihr einziger Existenzzweck scheint der Krieg zu sein. Eine unglaubliche Verschwendung von Zeit, Energie und Ressourcen. Sie plündern diese Welt aus, aber statt eine konstruktive Entwicklung voranzubringen, hemmen sie sie nur oder werfen sie gar zurück. Und dabei sollen wir sie noch als demütige Helfer unterstützen, wie es sich die Ishar und Vingala auf ihre Fahnen geschrieben haben? Unter der Führung von uns Magiern würde Arcana einen beispiellosen Aufschwung erleben. Was soll daran falsch sein? Eure und unsere Ziele liegen gar nicht so weit auseinander, wir wollen sie nur auf unterschiedlichen Wegen erreichen."

"Wenn es vom Schicksal so vorgesehen ist, dann wird die Verantwortung für diese Welt einst auf unseren Schultern lasten", beharrte Miranya. Sie fühlte sich immer weiter in die Ecke gedrängt, hatte seinen Argumenten kaum noch etwas entgegenzusetzen. "Aber noch ist es nicht so weit", wiederholte sie.

"Und es wird auch nie so weit sein, wenn wir das Heft des Handelns nicht übernehmen. Die Elben, sogar die Zwerge und all die anderen alten Völker, die vor den Menschen einst das Antlitz dieser Welt geprägt haben, haben erkannt, wann es für sie Zeit war zu gehen. Sie sind heute fast ausgestorben und haben sich schon lange weitgehend zurückgezogen. Aber die Menschen verstehen nur die Sprache der Gewalt. Sie werden niemals freiwillig abtreten, wenn wir sie nicht zwingen. Dieses Volk stellt nur eine unbedeutende Zwischenstufe in der geschichtlichen Entwicklung dar. Wie unbedeutend es ist, zeigt sich schon darin, dass es das kriegerischste uns bekannte Volk ist, dass es einer Bedrohung wie der durch die Damonen aber fast hilflos gegenübersteht. Schon damals hatten die Menschen den geringsten Anteil daran, sie zurückzuschlagen. Damals haben die Elben, die Zwerge und die Magier die Hauptlast dieses Krieges tragen müssen. Heute gibt es nur noch wenige Elben und Zwerge, und wieder ruhen alle Hoffnungen hauptsächlich auf uns. Aber nur wir Caer-Sharuun sind in unserem Vorgehen stark und entschlossen genug, diesen Hoffnungen auch gerecht zu werden. Die Vingala sind zu schwach und die Ishar zum größten Teil zu selbstgefällig, und beide seid ihr viel zu friedliebend, um euch dieser Herausforderung mit der nötigen Härte zu stellen."

"Aber Kenran'Del ..."

"Ist nur ein einzelner Mensch", fiel Scruul ihr sofort ins Wort. "Er mag große Macht besitzen, aber es ist reines Wunschdenken, darauf zu vertrauen, dass er allein diese Gefahr bannen kann. Gerade deshalb brauchen wir sein Wissen und seine Machtmittel, und zwar gerade jetzt, begreifst du das denn nicht? Freiwillig wird er sie uns nicht geben, deshalb müssen wir sie uns nehmen. Möglicherweise hängt unser aller Überleben davon ab. Du siehst, ich denke nicht nur eigennützig, und es kann keinen besseren Zeitpunkt für mein Handeln geben."

Miranya schwieg und schüttelte nur leicht den Kopf, weil sie nicht wusste, was sie erwidern sollte. Seine Worte verwirrten sie mehr und mehr. Hinzu kam, dass ihr Kopf immer noch schmerzte und es ihr mit jeder Minute schwerer fiel, sich zu konzentrieren. Sie spürte, dass Scruul Unrecht hatte, aber er verstand es so geschickt, Tatsachen, Vermutungen und Halbwahrheiten in seinem Sinne miteinander zu vermischen und seine eigenen Schlüsse daraus zu ziehen, dass sie kaum noch erkennen konnte, wo das eine aufhörte und das andere anfing. Wenn man sich einmal auf seine Argumentation einließ, klangen seine Folgerungen auf eine schreckliche Art einleuchtend, obwohl sie genau wusste, dass sein Weg der falsche war.

"Warum sträubst du dich?", fragte er mit nun sanfter, einschmeichelnder Stimme. "Das alles ist neu und verwirrend für dich, weil man dir von Kindheit an beigebracht hat, dass wir Caer-Sharuun so etwas wie Ungeheuer sind. Obwohl du es dir nicht eingestehen willst, hast du tief in deinem Inneren jedoch bereits erkannt, dass ich recht habe."

"Nein!", presste sie mühsam hervor und versuchte, den in ihr tobenden Aufruhr unter Kontrolle zu bekommen. "Das ist ... nicht wahr."

"Oh doch, das ist es. Noch ist es nicht zu spät, deinen Irrtum zu erkennen, noch kannst du dein falsches Bild von uns und all die Lügen, mit denen man dich über uns vollgestopft hat, abwerfen und dich auf unsere Seite stellen. Glaub mir, ich möchte dich nicht töten. Ich verlange nicht einmal von dir, dass du den Orden der Vingala verlässt oder sogar dem Dunklen Bund beitritt. Unterstütze uns nur bei diesem einen Vorhaben. Nicht nur in deinem oder meinem Interesse, sondern um mitzuhelfen, diese ganze Welt zu retten und ihre Zukunft zu sichern."

"Niemals", keuchte sie.

"Ich erwarte jetzt keine Entscheidung von dir", erklärte Scruul. "Dir bleibt noch Zeit, bis Maziroc und Kenran'Del in Therion eintreffen werden. Denk bis dahin in Ruhe über alles nach, was ich dir gesagt habe."

Er lächelte ihr zu, dann erhob er sich, drehte sich um und verließ den Raum.

"Niemals", stieß Miranya noch einmal hervor, doch vermutlich hörte er es nicht einmal mehr.