Extra Krimi Paket Sommer 2021

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Wie immer hatte es Kili geschafft, sich neben die Kollegin Petra Steiniger zu drängen, die ihn mit permanenter Missachtung strafte und seine täglichen Annäherungsversuche hoheitsvoll abprallen ließ, weshalb Kili sie gerne Petra Peiniger nannte. Dann allerdings startete die große Obermeisterin sofort unter die Decke. Sie war wirklich eine schöne Frau, was Kili automatisch herausforderte, und besaß einen dicken Kopf, was Kili einfach nicht wahrhaben wollte.

Dagegen gab die schüchterne Erika Scholz zu erkennen, dass sie für Kili viel übrig hatte, sehr zum Ärger ihres Kollegen Peter Dingeldey, der sich vergeblich um Erika bemühte. Obermeister Dingeldey kultivierte im Übermaß, was Kili Haindl abging, Gründlichkeit und eine schwerblütige Langsamkeit, die den Umgang mit ihm nicht eben erleichterten.

Kommissar Achim Born war der scharfe Hund des Ersten, klein, drahtig und ungeduldig. Mit Bello Born arbeitete niemand gern zusammen, weil Born verlangte, dass sich alles nach ihm richtete. Bei Kili zog er damit regelmäßig den Kürzeren, mit Dingeldey brachte er nicht die nötige Geduld auf und sein bevorzugter Partner Schubert, den ein gesundes Phlegma vor allen Aufregungen schützte, faulenzte im Krankenhaus, wie Born regelmäßig schimpfte. Permanenter Krieg herrschte zwischen Born und Hertha Wassmuth, ihrer Dienstzimmerkommandantin, die in dreißig Jahren so viele Kommissare hatte kommen und gehen sehen, dass der Grauhaarigen niemand mehr imponierte, geschweige denn Furcht einjagte. Tüchtig und zuverlässig war sie, das erkannten alle an, und Rogge schmunzelte oft bei dem Gedanken, sie habe von allen Kollegen am besten gelernt, sich durch Bärbeißigkeit unnütze Arbeit vom Halse zu halten. Anerkanntermaßen kochte sie den besten Kommissariatskaffee des Präsidiums und ihre Technik, für die Kaffeekasse zu sammeln, streifte oft den Tatbestand der Nötigung.

Die laufenden Fälle waren schnell besprochen, man konnte über Kirchbauer denken, was man wollte, sein Geschäft verstand er und Rogge saß deshalb schweigend auf der Fensterbank und hörte nur mit halbem Ohr zu, bis Kili ihn direkt anflachste: »Im Hause schleicht das Gerücht umher, du würdest den Leibwächter für eine schöne Frau spielen.«

»Simon hat mir diese Inge Weber aufs Auge gedrückt.«

»Ach nee! Will er Grem eins überbraten?«

»Möglich.«

»Was ist denn mit der Weber wirklich los? Simuliert sie?«

»Nein, das glaube ich nicht.« Dabei schüttelte Rogge unmerklich den Kopf, damit Kili seine nächste Frage verschluckte, die ihm auf der Zunge lag. »Ich habe auch schon eine Idee und werde in den nächsten Tagen was nachprüfen.«

»Das hört sich an, als würdest du dich ausklinken,«

»Ja, das habe ich vor. Im Augenblick braucht ihr mich nicht und für den Fall, dass es eng wird, hinterlasse ich bei Hertha, wo ihr mich finden könnt.«

Kili wollte noch etwas sagen, aber Rogge blinzelte ihm zu und sein Adlatus kapierte, drehte sich zu Petra um und schmeichelte: »Was meinst du - haben wir auch eine Idee, die wir mal überprüfen müssen?«

Dingeldey knurrte, Erika Scholz seufzte und Petra kicherte: »Sicher, Kili, du könntest mein Auto waschen.«

»Das ist keine Idee, das ist eine Schnapsidee.«

»Du weißt doch, dass ich nur Wein trinke.«

»Wein trinken und Wasser predigen!« Kili schüttelte empört den Kopf, von Borns finsterer Miene nicht die Spur beeindruckt. Eines Tages würden die beiden gewaltig zusammenrasseln, Kili hielt Bello für einen aufgeblasenen Westentaschendiktator und Born hasste die Unabhängigkeit eines Mannes, der auf jede Hierarchie pfiff.

»Okay, das war’s dann, einen schönen Abend noch.« Wie immer hatte Kirchbauer genau zum richtigen Zeitpunkt eingegriffen, aber Rogge überlegte auf dem Weg in sein Zimmer, warum ihm diese Fähigkeit seines Stellvertreters so unsympathisch war.

Simon saß noch an seinem Schreibtisch: »Klar, kommen Sie hoch.«

Das Gespräch verlief nicht so, wie Rogge sich das vorgestellt hatte, Simon weigerte sich, seine Entscheidung anders oder ausführlicher zu begründen als heute Vormittag.

»Ich will den Fall vom Tisch haben.«

»Streng genommen ist es nicht einmal ein Fall, Herr Simon«, belehrte der Hauptkommissar seinen Vorgesetzten geduldig. »Es fehlt ein hinreichender Verdacht, um überhaupt eine Ermittlung aufzunehmen.«

»So kann man das sehen«, stimmte Simon mit unbewegtem Gesicht zu. Als Pokerspieler müsste er reich werden.

»Hat es mit Miriam Schönborn zu tun?«

»Nein.« Simon bestritt es so ruhig, dass Rogge ihn zweifelnd anschaute. »Ich weiß, dass wir uns damals nicht mit Ruhm bekleckert haben, und diesen Staatsanwalt Jagenow könnte ich heute noch erwürgen.«

»Ich habe heute mit Inge Weber gesprochen, aber den Namen Miriam Schönborn nicht erwähnt.«

»Völlig richtig, Herr Rogge. Mein Wort darauf, dass ich Schönborn nicht behelligen will. Miriam war eine schöne Frau, ein seltenes Talent, aber ich habe mir von vielen Leuten, die sie privat kannten, immer wieder versichern lassen, dass sie in ihrem Haus sterben wollte. Allein, ohne Zeugen, nicht in einem Krankenhaus. Und Schönborn hat von Anfang an zugegeben, dass er sich das Morphium illegal besorgt hat.«

»Sie war schön, begabt und reich, Herr Simon.«

»Auch solche Menschen erkranken an Krebs.«

Im Grunde stimmte Kogge Simon ja zu. Miriam Andersen hatte eine kometenhafte Karriere hinter sich, als sie Schönborn kennen lernte. Eine Altistin, der alle Kritiker vorhergesagt hatten, sie werde den Sprung an die Scala oder die Met mit Leichtigkeit schaffen. Dann heiratete sie diesen windigen Immobilienmakler, der so schnell viel Geld gescheffelt hatte, dass sich der Verdacht unsauberer Geschäfte einfach aufdrängte. Von einem Tag auf den anderen verzichtete Miriam Schönborn auf die Bühne, um nur noch Hausfrau zu sein, und sechs Monate nach der Hochzeit verließ sie die Villa in Steinfurth nicht mehr. Keine Erklärung, keine Begründung, nichts; die Zeitungen überschlugen sich. Ein Jahr später schlief sie auf ihrem Lieblingsplatz im Garten ein, einem Rondell mit einem kleinen Springbrunnen, das ringsum von dichten Ligusterhecken umgeben war. Erst nach ihrem Tod wurde bekannt, dass sie unheilbar krebskrank gewesen war, die letzten Monate hatte sie nur mit Morphium überstanden, das Schönborn bei Dealern besorgt hatte. Aus ihrem elterlichen Erbe hinterließ sie Schönborn mehr als sechs Millionen Mark, und als das große Gemunkel anhob, nur dank dieses Geldes sei Schönborn am Bankrott vorbeigeschlittert, leitete Staatsanwalt Jagenow ein Ermittlungsverfahren ein.

»Aber seltsam ist es schon«, fand Rogge nachdenklich.

»Wie meinen Sie das?«

»Schönborns erste Frau war reich und todkrank und jetzt unterhält er eine Beziehung zu einer Frau, die nicht weiß, wer sie ist.«

»Sie mögen Schönborn nicht?«

»Nein. Einen sachlichen Grund habe ich allerdings nicht, reine Antipathie.«

»Dank derer Sie nun rätseln, ob Schönborn entdeckt hat, wer sie ist, und darüber hinaus weiß, dass sie viel Geld besitzt.«

Rogge hatte seinen Verdacht nicht verbergen wollen, lächelte aber anerkennend, dass Simon ihn so schnell durchschaut hatte.

»Wir senden wieder einmal auf derselben Wellenlänge, Herr Rogge.«

»Doch Sie haben Ihren Text verschlüsselt.«

»Nein.« Simon reagierte gelassen. »Mir will einfach nicht in den Kopf, dass in Deutschland eine Frau ein Jahr lang nicht vermisst wird. Und der heimliche Macho in mir fügt hinzu: eine Frau, die immer und überall die Aufmerksamkeit der Männer erregt haben muss.«

Rogge brummte zustimmend. Was Simon ausgesprochen hatte, war völlig richtig, doch zugleich ein Ablenkungsmanöver.

»Ich schaue mir morgen diesen Rastplatz mal an.«

Simon zuckte mit den Schultern. Einzelheiten wollte er nicht hören, Hauptsache, Rogge unternahm etwas. Aus einem Grund, den er immer noch nicht ausgesprochen hatte und auch nicht preisgeben würde, dachte Simon nicht daran, sich mit der Diagnose Gedächtnisverlust zufrieden zu geben,

»Deine Baguette.«

»Donnerwetter, ich hätte gewettet, dass du sie vergessen hast. Komm rein!« In ihren bequemen Schlamperhosen und dem weißen Russenkittel sah die Staatsanwältin sehr viel jünger aus als in den Kleidern, die sie bei Verhandlungen unter der Robe tragen musste.

»Es riecht gut.«

»Hast du Hunger?«

»Nein, danke, aber ein Bier würde ich gerne schnorren. Ich hab nichts mehr im Haus.«

»Gell, die Vorräte haben früher auch länger gehalten, was?«

Sie saßen abends oft in ihrer Küche. Ihr Wohnzimmer glich meist einem Schlachtfeld, weil sie die Angewohnheit hatte, ihre Akten auf allen waagerechten Flächen, ob hoch oder niedrig, auszubreiten, und laut aufschrie, wenn Rogge auf dem Sofa Platz schaffen wollte: »Ich find nichts mehr wieder.« An den beengten Raum hatte sie sich immer noch nicht gewöhnt, schimpfte über die »Hundehütte« oder die »Schlafküche« und verfluchte den Ehemann, dem sie den Hals umdrehen würde, sobald derselbe in Reichweite geriet. Wenn Dörte lostobte, musste man sie gewähren lassen, das nahm Rogge geduldig hin, weil er durchschaut hatte, dass sie sich mächtig einschränkte und notgedrungen mit jeder Mark geizte.

»Na, hast du Simon zum Reden gebracht?«

»Nein. Er will nicht.«

»Für solche Fälle gibt’s Beugehaft.«

»Besorg mir einen Richter und ich beantrage sie.«

Über ihre Kochkünste schmunzelte er oft. Die Gerichtskantine erfreute sich zwar eines besseren Rufes, war aber tatsächlich keinen Deut anders als die im Präsidium, und dass die Staatsanwältin dort nur in Notfällen aß, verstand er gut. Aber warum sie sich abends von ihrem prächtigen Gewürzbord immer wieder in Versuchung führen ließ und harmlose Spiegeleier mit Oregano und Kümmelpulver ungenießbar machte, hatte er lange Zeit nicht begriffen. »Da fehlte der Pfiff«, jammerte sie, trübsinnig auf das widerlich schmeckende Produkt ihrer Würzkünste starrend. An diesen fehlenden Pfiff hatte er lange geglaubt, bis ihm einmal auffiel, mit welch fröhlicher Miene sie den Teller über dem Abfalleimer leer kratzte. Die Folge ihrer Kochversuche war nämlich, dass sie wenig aß und abnahm, und das wiederum konnte sie nach dem Kummerspeck, den sie sich während der Auseinandersetzungen mit den Gläubigern und der Trennung von ihrem Teuren angefuttert hatte, gut vertragen. Doch Rogge kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie ihm an die Kehle springen würde, sollte er seinen Verdacht äußern. Die Kränkung saß tief und ihr Kampf um die alte Figur gehörte zu dem selbst verordneten Programm, die Vergangenheit abzuschütteln. Was dagegen völlig wiederhergestellt schien, war ihre freche Klappe.

 

»Also machst du dich wirklich dran?«

»Im Schongang, Dörte.« Das Bier stimmte ihn ausgesprochen friedlich.

»Ich drücke dir die Daumen und setze dich vor die Tür.«

»Stimmt. Der Fall Gillbrecht.«

»Ich hab ein sauschlechtes Gefühl. Drei der Vergewaltigungen werde ich ihm wohl anhängen können, aber der Mord an der kleinen Elvira ...«

»Genetische Fingerabdrücke werden heute von allen Gerichten akzeptiert.«

»Sicher. Aber dass die in dem verdammten Labor keine Ordnung halten können. Ackerknecht hat mich überfallen und herumgetönt, dass er erstens von der Schlamperei gehört hat und zweitens den Beweis antreten will, dass die zum Schluss untersuchte Spermaprobe zweifellos von einem Mann, aber eben nicht von seinem Mandanten stammt.«

»Kannst du darauf nicht einfach verzichten?«

»Wie denn? Wenn ich’s rechtzeitig erfahren hätte, sicher, dann wär’s vielleicht auch ohne gegangen, aber als die Labormäuse endlich beichteten, hatte die Kammer die Klage schon angenommen.«

Und ausgerechnet Bello Born hatte die Ermittlungen geführt. Sexualstraftäter hasste er wie persönliche Feinde. Wenn Gillbrecht mit dem Mord durchkommen sollte, würde Born ausrasten. Hoffentlich nicht schon vor Gericht. Rogge hatte ihm unter vier Augen die Meinung gegeigt, weil er sich nicht darum gekümmert hatte, dass mit dem Spermaabstrich nichts schief ging, zumal zu dem Zeitpunkt bereits bekannt war, dass Ackerknecht die Verteidigung übernommen hatte. Und Ackerknecht, zwei Meter groß und drei Zentner schwer, beherrschte alle Tricks; wenn sein Name fiel, schrillten bei Kripo und Staatsanwalt die Alarmglocken.

»Toi, toi, toi«, wünschte er und sie warf ihm eine Kusshand zu, die jeden anderen Mann von ihrer ungetrübten Zuneigung zu ihm überzeugt hätte. Rogge wusste es besser und machte sich keine falschen Hoffnungen.

V.

Ihre Besprechungen fanden immer am frühen Abend statt, wenn die meisten Angestellten nach Hause gegangen waren und sie den dritten Stock für sich allein hatten. Das kleine Konferenzzimmer lag günstig, zwischen einer Aktenkammer und Ralf Weinerts Arbeitsraum. Das einzige Fenster ging zum Hof hinaus und auf der anderen Seite des Platzes erhob sich eine fensterlose Wand, die zu einer Lagerhalle gehörte. Ein scheußlicher Anblick, aber die beste Garantie, dass sie von dort nicht abgehört wurden, und die Techniker kontrollierten das kleine Konferenzzimmer vor jeder Sitzung auf Wanzen.

»Jockel Pertz hat mich angerufen«, begann Dieter Ellwein nüchtern. »Die Ehefrau dieses Tepper ist wieder in Deutschland und sucht ihren Mann. Möglicherweise, um endlich die Scheidung einzuleiten. Sie hat sich bei dem Staatsanwalt erkundigt, der seinerzeit das Verfahren auf Anweisung eingestellt hat. Sein Vorgesetzter hat sich mit Reineke in Verbindung gesetzt, der hat Pertz alarmiert.«

»Auch das noch!«, brummte Arno Gönter.

»Kann sie uns gefährlich werden?« Der rundliche Weinert sah zwar aus, als bringe nichts und niemand ihn aus der Ruhe, er neigte aber zu nervöser Hast und Ängstlichkeit.

»Kaum«, erwiderte Ellwein fest.

»Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum wir den Kerl nicht endgültig abschreiben.« Arno Gönter schaute Dieter Ellwein finster an. »Er nutzt uns doch nichts mehr.«

»Nein, nein«, widersprach Weinert. »Selbst wenn er sich verbrannt hat - wir müssen herauskriegen, ob und was er verraten hat.«

»Das wird er uns gerade auf die Nase binden«, knurrte Gönter. »Und was kann er schon auspacken? Wir haben doch diesen ganzen Zirkus nur veranstaltet, damit er immer schön abgeschirmt blieb.«

»Und was ist mit der Frau?«, warf Ellwein ein.

»Das hat Pertz am Wochenende geregelt.« Weinert kniff sich in die Nasenwurzel und presste die Lider zu. »Obwohl - ich glaub nicht mehr an die Ködertheorie.«

»Abwarten. Auf einen oder zwei Monate kommt es jetzt auch nicht mehr an.« Ellwein hütete sich, den Chef herauszukehren, pro forma waren sie nämlich gleichberechtigt und jeder besaß ein Vetorecht. Gleichwohl hatte es sich im Lauf der Jahre ergeben, dass er und der Bundesnachrichtendienst bestimmten und den Takt angaben, was den robusten Arno Gönter vom Zollkriminalinstitut nicht störte, aber den empfindlichen Weinert immer wieder kränkte. Wie immer sie diese Affäre über die Bühne brachten, eine Lehre war schon jetzt zu ziehen: Nie wieder ein Führungstrio. Als der erste Zweifel an Teppers Zuverlässigkeit auftauchte, hätte einer sofort entscheiden und befehlen müssen, statt dass sie wertvolle Zeit mit Diskussionen, Vertagungen und faulen Kompromissen vergeudeten. Nun klammerten sie sich an Strohhalme.

Gönter vom Zollkriminalamt schmunzelte behäbig. Zu dieser Aktion Tepper war er abkommandiert worden, er hatte sich nicht danach gedrängt, aber auch nicht gewehrt, weil er neugierig war, diesen geheimnisvollen Apparat einmal kennen zu lernen. Zu Anfang hatte ihn die Geheimniskrämerei beeindruckt, aber nach fünf Jahren zweifelte er an ihrem Sinn und überlegte immer häufiger, ob sie nicht eine Ersatzhandlung darstellte. Wenn seine Kollegen jemanden erwischten, hielten sie etwas in der Hand, Papiere oder Akten oder auch Waren, doch seine beiden Mitstreiter mussten sich mit vagen Andeutungen begnügen, Gerede, Gerüchten. Sobald Gönters Behörde zulangte, trat sie offen auf, Weinerts Verfassungsschutz hatte keine Exekutivrechte, dasselbe hatte für Ellweins Bundesnachrichtendienst im Inland gegolten; Ellwein und Weinert mussten deshalb im Schatten bleiben, sich ihre eigene Realität schaffen, was nicht nur den Blickwinkel, sondern auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflusste.

Weinert ahnte, was Kollege Gönter dachte, und manchmal beneidete er ihn um seine Handlungsmöglichkeiten. Das mündete meistens in hilflosem Zorn, dass sie auf die Hilfe anderer angewiesen blieben, diese mit Informationen fütterten, selbst aber nie den Ruhm kassierten. Was für ein Blödsinn! Und Ellweins schlecht kaschierte Überheblichkeit ertrug er von Mal zu Mal schwerer.

»Was Neues von unseren Freunden?«, erkundigte sich Ellwein jovial und Ralf Weinert schnaufte: »Nein. Da herrscht nach wie vor absolute Funkstille.«

»Nun denn. Ich würde vorschlagen, wir machen bis Ende des Jahres weiter. Widerspruch?«

»Das Konto ist gesperrt?«

»Nein, aber wir haben zwei Vertrauenspersonen zusätzlich eingesetzt. Wenn er versucht, Geld abzuheben, wird es hinausgezögert, bis wir uns dranhängen.«

»Einverstanden«, knurrte Gönter und stemmte sich hoch. Und dafür hatte er einen schönen Abend geopfert! Seit einiger Zeit plagte ihn der Verdacht, dass Weinert sie aushorchte und nicht mehr alle Karten offen auf den Tisch legte. Genau davor hatten ihn seine Chefs gewarnt, als er sich gut gelaunt abmeldete,

»Was bleibt uns anderes übrig?«, maulte Weinert.

»Prima. Dann hoffen wir, dass Pertz was erreicht hat.«

Sie verließen das Bürogebäude im Abstand von dreißig Minuten. Möglichst nicht zusammen gesehen zu werden zählte zu den einfachen Vorsichtsregeln.

Dienstag, 12. September

Auf der linken Seite des Rastplatzes stand nur ein Lastzug; der Fahrer schlief tief. Auf der rechten Seite, für Pkw reserviert, knatterte gerade ein überladener Kleinwagen heran. Rogge stellte sich ganz ans Ende. Viel los war hier wirklich nicht, der Platz bot auch wenig, was zu einer längeren Rast einlud. Drei Tische mit Bänken aus halben Baumstämmen und drei Papierkörbe. Auf der Autobahn herrschte vormittags um neun Uhr Hochbetrieb, der vielleicht dreißig Meter tiefe Streifen aus verkrüppeltem Nadelholz zwischen Straße und Parkplatz versperrte zwar die Sicht, dämpfte aber den Lärm nicht.

Die Autobahn schnitt hier den Nordhang eines Hügels. Auf der anderen Seite, hinter dem West-Ost-Fahrstreifen, stieg das Gelände an, dicht bestanden mit Nadelbäumen, Mehr als einmal hatte Rogge versucht, sich die Unterschiede zwischen Fichten und Kiefern zu merken, es gab da eine Eselsbrücke mit Hngern wie Züchte, aber die konnte er sich einfach nicht merken. Auf seiner Seite setzte sich der Wald fort; der Karte hatte Rogge entnommen, dass der Hang sich noch mehrere hundert Meter bis ins Stockbachtal erstreckte. Er lief ein paar Schritte weiter, Richtung Ausfahrt, und blieb vor einem Forstwirtschaftsweg mit tief ausgefahrenen Radspuren stehen. Neugierig spazierte Rogge den Weg entlang, der nach zwanzig Metern nach rechts abbog, sodass er eine ganze Strecke parallel zum Parkplatzstreifen verlief. Die hohen, weit auseinander stehenden Bäume erlaubten ungehinderte Sicht auf den Laster. Dann führte der Weg nach links, jetzt entfernte er sich von dem Parkplatz. Nach vielleicht hundertfünfzig Metern hörte der Nadelwald auf, sein Saum war mit niedrigen, undurchsichtigen Büschen bewachsen. Dahinter lag die Feltenwiese, eine riesige Fläche mit leichter Neigung; der Wirtschaftsweg verlief quer den Hang hinab und schien unten in eine asphaltierte Straße zu münden. Die Autobahn war an dieser Stelle immer noch zu hören, aber nunmehr schwach, wie ein stetes, nicht sehr angenehmes Rauschen.

So genau wusste Rogge gar nicht, wonach er Ausschau hielt. Immerhin schien es möglich, dass der Wagen, in dem Inge Weber gesessen hatte, gar nicht über die Autobahn auf den Parkplatz gekommen war; wer sich in der Gegend auskannte, konnte unten im Tal durchs Dorf fahren, bis zu der schmalen, ausgebauten Straße, dann den Wirtschaftsweg hochsteuern bis auf den Parkplatz und sich von dort auf die Autobahn einfädeln. Eine Auffahrt, die nicht im Autoatlas verzeichnet und bestimmt nicht im Sinne der Erfinder war; aber Rogge wusste, dass an vielen Stellen die langen Strecken zu den regulären Autobahnauffahrten abgekürzt wurden.

Von dem Dorf unter ihm sah Rogge nur die Dächer und den Kirchturm. Jenseits des Baches, auf dem Gegenhang, glänzte halbrechts in der Sonne ein weißes Gebäude, die Schrift auf dem Dach konnte er auf diese Entfernung nicht entziffern.

Nach den tiefen Spurrillen zu schließen wurde der Wirtschaftsweg recht häufig genutzt. Rogge sah sich um und stutzte. In dem Gras vor dem Buschsaum entdeckte er Reifenspuren, links und rechts, und als er sich bückte, fand er die gleichen Spuren auf der Wiese, alle von dem Weg abzweigend. Einen Moment grinste er. Die Lösung eines alten und immer noch akuten Problems: Wo war man mit seiner Freundin ungestört? Ein Auto besaß heute fast jeder, aber mit sturmfreien Buden sah es schlechter aus.

Er schlenderte nach rechts, den Blick auf den Boden gerichtet. Und ob hier Autos geparkt hatten! Der Buschsaum war nicht planvoll gepflanzt worden, sondern wild entstanden, es gab Buchten und Nischen, zwischen einigen Büschen sogar kleine Labyrinthe mit unverkennbaren Hinweisen, geknickten Asten, abgerissenen Blättern, an einer Stelle glänzten Öltropfen. Und dann entdeckte Rogge eindeutige Zeugnisse, bräunlich angelaufene Tempotücher und gebrauchte Kondome. Bonbonpapier, Kippen, zwei zerknüllte Zigarettenschachteln, leere Bierdosen. Vergnügt spazierte er zurück. Vorsorgliche Gemüter hatten sogar große Steine aus den Spuren beseitigt und die Löcher mit Erde aufgefüllt, was ja wohl bedeutete, dass hier häufiger Verkehr im doppelten Sinne des Wortes stattfand. Jenseits des Wirtschaftsweges das gleiche Bild, in Gedanken klopfte Rogge sich auf die Schulter und zelebrierte mit Winnetou Blutsbrüderschaft, während er am Rand der Büsche entlangschlich und den Boden links und rechts musterte.

Von der Feltenwiese stand nichts in Grems Akten. Der 15. September des Vorjahres war ungewöhnlich warm gewesen, in der Nacht war es für die Jahreszeit zu wenig abgekühlt. Ein Wetter für Liebespärchen?

 

Zur Kontrolle ging Rogge den Wirtschaftsweg noch einmal Richtung Parkplatz zurück. Unmittelbar hinter den Büschen entdeckte er auf dem braunen Teppich aus trockenen Nadeln eine schwach ausgefahrene Spur zwischen den Stämmen, nach zwanzig Metern schlug sie eine Kurve nach rechts und endete hinter einem prächtigen und übermannshohen Ilex. Wenn hier ein Auto parkte, konnte es vom Wirtschaftsweg aus nicht gesehen werden, es sei denn anhand von eingeschalteten Scheinwerfern und Rücklichtern. Und eine Wendespur, entstanden beim Rückwärts-vorwärts-Rangieren. Donnerwetter! Als normaler Spaziergänger, der sich nach langer Fahrt nur die Beine vertreten wollte, hätte Rogge auf diese Einzelheiten auch nicht geachtet.

Ein wunderschöner Vormittag zum Spazierengehen! Warm und sonnig, der wolkenlose Himmel zeigte ein seidiges Blau. Bis ins Tal brauchte Rogge auf dem Wirtschaftsweg eine gute Viertelstunde. Der mündete tatsächlich in eine asphaltierte Straße, die nach hundert Metern auf die Hauptstraße stieß, unmittelbar vor dem Ortseingangsschild Stockau, Kreis Herlingen. Zur Autobahn ging es nach links, der nächste Ort musste Dreschbach sein, wenn Rogge die Karte richtig im Kopf hatte.

Das Dorf schlug Rogge aufs Gemüt. Obwohl ihn der Lärm, die Enge und die Hetze in der Stadt manchmal bis zur Weißglut erregten, würde er an dieser menschenleeren Stille ersticken. Zwölf Höfe links und rechts der Straße, ein kleiner Platz mit Kirche, Kneipe und Supermarkt. Gleich daneben ein windschiefer Fachwerkbau, dazu ein scheußliches mehrstöckiges Mietshaus, das vom Einsturz bedroht schien. Das Regendach an der Bushaltestelle hing zerbeult und schräg auf seinen Stützen. Am anderen Ende des Ortes kehrte Rogge um, ein Hund näherte sich ohne sonderliches Interesse und begutachtete ihn aus der Entfernung, bellte und wedelte aber nicht. Von hier aus konnte Rogge die Buchstaben auf dem großen weißen Gebäude lesen: Meierei Stockbachtal. Bis jetzt hatte er nur eine Seitenstraße entdeckt, die nach rechts zu einer Brücke über den Bach führte. An ihr lagen die wenigen Neubauten, Ein- und Zweifamilienhäuser, manche Gebäude noch unverputzt, als habe das Geld dazu nicht mehr gelangt. Oder die Zeit des Häuslebauers. Hauptstraße und Brückenstraße, Fantasie wurde nicht verschwendet.

Wenn es ein soziales Leben gab, spielte es sich auf dem kleinen Platz ab. Die Kneipe hatte noch nicht geöffnet, Rogge amüsierte sich über den Namen Zum Bären. Mittagstisch ab 12 Uhr. Links an dem frisch renovierten Klinkerhaus vorbei führte ein Weg nach hinten, in eine Art Garten; er blieb vor dem niedrigen Zaun stehen und staunte ein wenig über den modernen einstöckigen Bau: Gästehaus. Ein Bärenzwinger, witzelte er erheitert. Wer mochte sich hier wohl einmieten?

Das Kirchlein war verschlossen, Rogge spazierte über den kleinen Friedhof, auf dem hohe, breitkronige Buchen wuchsen.

Im Schatten ihres Laubes herrschte eine kühle Ruhe. Der Supermarkt verdiente seinen Namen; offenbar wurde hier alles feilgeboten, was der Mensch brauchte, von Zeitungen über Briefmarken, Gummistiefel und Batterien bis hin zu Ersatzreifen.

Eine ältere Frau verließ den Laden, sie schleppte ein schweres Netz und warf Rogge einen misstrauischen Blick zu. Seinen höflichen Gruß erwiderte sie nicht.

Keine Polizeistation; das nächste Revier lag in Herlingen und auch die Notrufsäule neben dem Wartehäuschen war nicht mehr fest verankert.

Die Tür des Bären wurde geöffnet, eine junge Frau brachte ein neues Schild heraus und hängte es neben dem Eingang auf. Heute: Jägerschnitzel mit gemischtem Salat und Pommes frites für 8,00 DM. Als die Frau sich umdrehte, lachte sie Rogge zu und er winkte zurück. Wer's drall liebte, musste seine Freude an ihr haben, mittelgroß, enge weiße Bluse und enger, kurzer schwarzer Rock, sie zeigte, was sie hatte, und auch am Lippenstift hatte sie nicht gespart.

Ein ganz hübsches Gesicht, dachte Rogge und schaute ihr nach. Aufgeweckt - nein, ausgeschlafen. Diese brünetten Afro-Löckchen gefielen ihm allerdings gar nicht. Hier tanzt der Bär! Über die Unterschiede zwischen dem Land und der Stadt staunte er immer wieder.

Jetzt muhten irgendwo Kühe, der Polizist kratzte sich den Kopf und überlegte, was Bauern im September eigentlich taten. Ernten? Umpflügen? Säen? Ziemlich erschreckend, wie wenig man über die wichtigen Alltagsdinge wusste. Auf dem Marsch über die Feltenwiese zurück wurde ihm warm. Der Lastzug war weggefahren, dafür rüstete sich eine Familie aus Norddeutschland zum Picknick, die Kinder tobten schreiend durch den Wald und achteten nicht auf die Rufe der besorgten Mutter.

Nach fünf Kilometern tauchte das Schild für die Abfahrt Dreschbach/Bellhorner Berge auf und Rogge ordnete sich rechts ein. Berge war eine hübsche Übertreibung, er kannte diese hügelige Gegend, weil er sich am Wochenende gelegentlich hierher verirrte, rund um den Bellhorner Stausee konnte man stundenlang durch Wald laufen und auf dem Wasser war immer etwas los. Fast hätte er die Abzweigung nach Stockau verpasst und dann zockelte er eine ganze Weile hinter einem hochbeladenen Heuwagen her, der Traktor röhrte aus Leibeskräften und Rogge schaltete in den zweiten Gang zurück. Einmal sah er eine Gruppe von Männern, die von niedrigen Bäumen Obst pflückten und wie Artisten auf ihren Leitern herumturnten. In Stockau parkten jetzt Autos auf dem kleinen Platz, Rogge hielt nicht an und auf der Strecke nach Herlingen freute er sich an dem Stockbach, der auf der rechten Seite unter ihm in vielen Kurven plätscherte, eingerahmt von Weiden, Büschen und einem mit rostbrauner Erde belegten Wanderweg. Ab und zu zweigten schmale Wege ab, bessere oder eher schlechtere Einfahrten, die zu Gehöften am Hang oder einzeln stehenden Häusern führten.

Herlingen mochte an die fünftausend Einwohner haben, ein typisches Kleinstädtchen, das wohl nur wegen seiner zentralen Lage Sitz der Kreisbehörden geworden war. Polizeirevier und Post teilten sich am Markt einen Altbau, dessen Proportionen und Rokoko-Fassade den Ehrgeiz eines früheren Adeligen verrieten.

Oberkommissar Wibbeke bekam den Mund nicht zu: »Herr Rogge! Was verschlägt Sie in unser Nest?«

»Die dienstliche Höflichkeit!« Er lachte und winkte unauffällig mit dem Kopf Richtung Hinterzimmer.

Wibbeke schaltete sofort: »Das ist einen Kaffee wert, was meinen Sie?«

»Sie retten einen Verdurstenden.«

Der Kaffee stellte sich als um Klassen besser heraus als die Einrichtung des Büros und Wibbeke, dem Rogges schneller Rundblick nicht entgangen war, zuckte die Achseln: »Stramme Haltung ersetzt festes Mobiliar.«

»Und nicht besetzte Planstellen.«

»Na klar.« Der Oberkommissar griente schräg, überall war es das gleiche Elend.

»Also, Herr Wibbeke, ich möchte halb dienstlich, halb privat vermelden, dass ich mich in der nächsten Zeit hier herumtreiben werde, hauptsächlich in Stockau.«

»Aus einem bestimmten Grund?«

»Inge Weber. Mein Abteilungsleiter Simon hat mich mit dem Fall beglückt.«

»Heiliges Blechle! Mag er Sie nicht leiden?«

»Nein, eigentlich haben wir uns ganz gut zusammengerauft. Aber Kollege Grembowski ist keinen Schritt weitergekommen.«

»Ich verstehe. Und warum gerade Stockau?«

Rogge seufzte leise. Der Henker mochte wissen, ob und wann er auf Wibbekes Hilfe angewiesen war, und außerdem hielt er nichts davon, Kollegen einfach etwas an den Kopf zu knallen und jede Erklärung zu verweigern.

»Sie kennen den Fall?«

»Natürlich. Bis Weihnachten war das hier das große Kneipengespräch.« Dabei strahlte der Oberkommissar. »Und dann dieses XY ... ungelöst - zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde Stockau im Fernsehen erwähnt. Davon zehrt man hier lange.«