Extra Krimi Paket Sommer 2021

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15

Am nächsten Tag versuchte Bount, sich mit Karen Tierney in Verbindung zu setzen. Aber als er bei ihr anrief, legte sie einfach auf. Bei weiteren Versuchen nahm sie gar nicht erst den Hörer ab. Als Bount bei ihr auftauchte, tat sie, als wäre niemand zu Hause. Sie reagierte zuerst weder auf die Klingel, noch auf Bounts Klopfen.

Als sie schließlich doch öffnete, sah sie Bount an wie ein Gespenst. Diesmal war sie vollständig angezogen. Sie trug Jeans und einen Sweater.

Sie sagte überhaupt nichts, sondern führte ihn nur in die Wohnung.

"Was ist los mit Ihnen?", fragte Bount. Sie wandte den Kopf zur Seite und schwieg noch immer. "Ich denke, Sie haben mir einiges zu sagen..."

Sie verzog das Gesicht. "Ach, ja?"

"Zum Beispiel wissen Sie, woran Ihr Mann zuletzt gearbeitet hat. Sie wollen es mir nicht sagen und ich frage mich, warum."

"Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Mister Reiniger. Und ich möchte Sie bitten, jetzt wieder zu gehen."

"Tut mir leid, aber so leicht werden Sie mich nicht los!" Bount nahm sich einen Stuhl und setzte sich darauf, während Karen Tierney starr vor sich hin blickte. Sie schien unter einem unglaublichen Druck zu stehen. Bount fragte sich nur, woher dieser Druck letztlich kam. "Sie haben das Bankschließfach Ihres Mannes geleert, dessen Inhalt eigentlich für mich bestimmt war", stellte Bount sachlich fest.

Das ließ sie aufblicken.

Sie strich sich die rote Mähne aus dem Gesicht und zog die Augenbrauen ungläubig zusammen. "Was?", fragte sie. "Ich weiß von keinem Schließfach!"

"Sie brauchen mir nichts vorzuspielen, Mrs. Tierney. Sie sind dort gesehen worden und haben sogar Ihre Unterschrift hinterlassen."

"Ich war nicht dort! Hören Sie..."

"Nein, Sie hören jetzt mir zu! Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie gar nicht wissen wollen, wer Ihren Mann ermordet hat!"

"Das ist eine unglaubliche Unterstellung, Mister Reiniger!"

"Dann entkräften Sie sie und helfen Sie mir!"

"Mein Mann ist tot und nichts kann ihn wieder lebendig machen! Aber das Leben muss weiter gehen. Verstehen Sie, was ich meine?"

Bount schüttelte den Kopf. "Nein, ich glaube nicht."

"Dann glauben Sie mir bitte wenigstens, dass ich Steve geliebt habe. Aber jetzt muss ich an die Zukunft denken!"

"Was bedeutet das?"

Ihre Blicke trafen sich. In ihren dunklen Augen sah Bount so etwas wie Verzweiflung. Sie musste sich sehr zusammenreißen und schien es auch nur unter größten Anstrengungen zu schaffen. Ihre Lippen waren aufeinandergepresst. Schließlich sagte sie: "Es bedeutet, dass Sie mich in Ruhe lassen sollen, Mister Reiniger."

"Wie ich darüber denke, habe ich ihnen ja schon gesagt!" Bount erhob sich und trat näher an sie heran. Er legte ihr den Arm behutsam um die Schulter und stellte dann fest: "Ich habe den Eindruck, dass man Sie unter Druck setzt. Ist das richtig?"

"Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!"

"Sie wissen es ganz genau! Und ich vermute, dass Sie auch wissen, wer der Mörder Ihres Mannes ist."

"Das ist eine Lüge!"

"Zumindest wissen Sie über seinen letzten Fall Bescheid, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie weggeschaut haben, als Sie den Inhalt des Schließfachs in den Händen hielten. Was war es? Fotos vielleicht? Ich wette, es waren Fotos. Vielleicht auch noch andere Sachen. Dinge, die jemandem einen Mord wert waren."

"Hören Sie auf!"

"Warum?"

"Ich war nicht in der Bank! Das sagte ich doch schon, verdammt noch mal! Warum glauben Sie mir denn nicht?"

"Ich würde ja gerne."

"Bitte gehen Sie!"

"Was ist mit dem Kerl, der Sie gestern Nachmittag besucht hat?"

Sie wurde bleich. "Woher wissen Sie das?"

"Was spielt das für eine Rolle?", gab Bount zurück.

"Es ist doch wohl meine Sache, wen ich hier empfange, oder?"

Bount zuckte die Achseln. "Sicher. Aber Sie sollten sich vor ihm in Acht nehmen!"

"Ich konnte immer hervorragend auf mich selbst aufpassen!"

"Der Mann heißt Clint Leonard und hat einen Fotohändler erschossen, weil dieser sich geweigert hat, Bilder herauszurücken, die Ihr Mann ihm zur Entwicklung gegeben hat."

Sie schluckte jetzt. "Was erwarten Sie? Dass ich vor Angst erzittere?"

"Warum nicht? Sie hätten allen Grund dazu. Dieser Mann ist ein skrupelloser Killer!" Bount ließ das erst einmal wirken und fuhr dann nach kurzer Pause fort: "Clint Leonard schätze ich mehr oder weniger als Handlanger ein. Ihr Mann ist irgendeiner großen Schweinerei auf der Spur gewesen. Ich schätze, er ist per Zufall darauf gestoßen. Und vielleicht hat er geglaubt, die Hintermänner unter Druck setzen zu können - aber darüber wissen Sie sicher mehr als ich!"

Sie seufzte, stand auf und ging zum Fenster. Ihre Arme waren vor der Brust verschränkt. "Ich kann Ihnen nicht helfen, Mister Reiniger! Glauben Sie mir!"

"Womit erkaufen die sich Ihr Schweigen?", fragte Bount. "Sorgen die für Ihre finanzielle Zukunft?"

"Gehen Sie, Reiniger!"

"Oder hat man Ihnen nur versprochen, Sie in Ruhe zu lassen und Ihrem Jungen nichts zu tun?"

Tränen traten ihr ins Gesicht. Sie wischte sie hastig weg. Bount schien es ziemlich genau getroffen zu haben.

"Verstehen Sie mich doch!"

"Ich verstehe Sie. Aber ich glaube nicht, dass es richtig ist, was Sie tun."

"Es ist ja nicht Ihr Junge, oder? Da kann man natürlich leicht große Reden schwingen!"

Bount schüttelte den Kopf.

"Ich will Ihnen keine Moralpredigt halten, sondern nur, dass Sie sich klarmachen, in welcher Gefahr Sie sind."

"Lassen Sie das meine Sorge sein!"

"Was glauben Sie, wie lange das gut geht? In dem Moment, in dem diese Leute den Eindruck haben, dass man sich auf Sie nicht mehr verlassen kann, wird man Ihnen das Licht ausknipsen!" Bount legte eine seiner Visitenkarten auf den Küchentisch. "Denken Sie darüber nach", meinte er. "Auch um Michaels Willen!"

Sie wandte sich zu Bount herum. Ihr Gesicht drückte jetzt Entschlossenheit aus. "Ich habe mich längst entschieden, Mister Reiniger! Und ich möchte, dass Sie das respektieren!"

"Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun!"

16

Während Bount ins Freie trat, sah er kurz die Uhr an seinem Handgelenk. Vielleicht hatte Rogers inzwischen den Bericht, der entscheiden würde, ob Clint Leonard auch Tierney auf dem Gewissen hatte. Wenn es so war, dann blieb allerdings immer noch die Frage offen, wer ihn geschickt hatte.

Den 500 SL hatte Bount 100 Meter weiter auf der anderen Straßenseite abgestellt. Als der Privatdetektiv schräg über die Fahrbahn ging, scherte plötzlich ein Ford aus einer Parklücke heraus, hielt direkt auf Bount zu und beschleunigte sogar noch.

Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden.

Bount wirbelte herum und wusste, dass nur noch eine einzige Chance blieb, am Leben zu bleiben.

Er sprang und landete hart auf der Kühlerhaube.

Das Blech knickte unter seinem Gewicht hörbar ein. Von dem Gesicht des Fahrers war nichts zu sehen. Er hatte sich einen Damenstrumpf über den Kopf gezogen, der seine Züge wie eine groteske Fratze erscheinen ließ. Der Ford stoppte ziemlich abrupt, so dass Bount von der Haube geschleudert wurde.

Der Privatdetektiv kam hart auf den Asphalt.

Bount saß in der Falle. Er war eingekeilt zwischen einem am Straßenrand abgestellten Pkw und dem Ford, dessen Motor nun aufheulte. Wenn Bount jetzt auf die Beine kam und versuchte davonzulaufen, würde er zerquetscht werden. Aber einfach liegenzubleiben war eine genauso wenig verlockende Aussicht.

Das war kein Unfall, sondern ein Mordversuch. Der Kerl am Steuer des Fords wollte Bount töten.

Bount sah einen Reifen auf sich zuschnellen und rollte sich am Boden herum, so dass er den Bruchteil eines Augenblicks später unter dem parkenden Wagen lag.

Über sich hörte er Blech gegen Blech schrammen.

Bount rollte unter dem Pkw hinweg und kam auf der anderen Seite auf den Bürgersteig. Mit einer schnellen Bewegung riss er die Automatik unter dem völlig ruinierten Jackett hervor, während der Ford bereits rückwärts setzte und dann losbrauste.

Indessen stand Bount mit der Automatik in der Hand hinter dem parkenden Wagen und ballerte zweimal auf den Ford. Er zielte auf die Reifen, verfehlte aber knapp.

Der Ford schlug eine Art Haken mitten auf der Fahrbahn, so dass ein entgegenkommender Lieferwagen nur um Haaresbreite ausweichen konnte. Im nächsten Moment war der Ford dann mit quietschenden Reifen in eine Seitenstraße eingebogen.

Bount hörte ihn beschleunigen.

Den würde er wohl nicht mehr einholen.

17

Eine halbe Stunde später befand Bount sich bei der Pier 1, von wo aus die Fähren nach Staten Island abgingen.

Aber diesmal schien die Fähre mit Verspätung auszulaufen - oder fürs Erste überhaupt nicht mehr. Jedenfalls lag sie noch an der Pier und hinkte dem Fahrplan, der auf einem großen Plakat abgedruckt war, erheblich hinterher. Polizeiwagen parkten in der Nähe. Das ganze Gelände machte den Eindruck hektischer Aktivität.

Ein uniformierter Officer wollte Bount wegscheuchen.

"Wir brauchen hier keine Schaulustigen, Mann!"

Bount zog seine Lizenz heraus und hielt sie ihm unter die Nase. "Man hat mir gesagt, dass Captain Rogers hier ist", meinte er dazu.

 

Der Officer betrachtete stirnrunzelnd die Lizenz und zuckte dann mit den Schultern. "Wenn es Ärger geben sollte, werde ich alles auf Sie abwälzen!"

"Es wird keinen Ärger geben. Captain Rogers erwartet mich!"

Das war zwar etwas übertrieben, aber auch nicht völlig an den Haaren herbeigezogen. Der Officer ließ Bount passieren. "Gehen Sie zur Fähre. Der Captain muss dort irgendwo sein!"

Wenige Augenblicke später stand Bount seinem alten Freund gegenüber.

Er stand am Heck der Fähre und blickte zusammen mit ein paar anderen Männern hinab in die Tiefe. Bount stellte sich neben ihn und blickte ebenfalls hinunter in das trübe Wasser des Hudson Rivers. Ein Taucher war da unten bei der Arbeit.

"Hallo, Toby! Was ist eigentlich hier los?", erkundigte sich Bount.

Rogers drehte sich zu dem Privatdetektiv herum. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. irgendetwas musste dem Captain ganz gehörig an die Nieren gegangen sein. Jedenfalls konnte sich Bount nicht erinnern, den Freund in letzter Zeit so gesehen zu haben.

"Was machst du hier, Bount?", fragte Rogers seinen Freund, aber er wirkte abwesend dabei.

"Browne hat mir gesagt, ich könnte dich hier treffen", erwiderte Bount Reiniger.

Rogers deutete hinab.

"Da unten war eine Leiche, die sich in den Schiffsschrauben verfangen hatte." Er seufzte. "Zum Glück ist es nicht mein Job, alles zusammenzusuchen. Was ich gesehen habe, hat auf jeden Fall ausgereicht, um mir für den Rest des Tages gründlich den Appetit zu verderben."

"Kann ich mir vorstellen..."

"Das möchte ich bezweifeln, Bount."

Rogers wandte sich von der Reling ab und ging ein paar Schritte.

Bount folgte ihm und zündete sich dabei eine Zigarette an, was bei dem kräftigen Wind, der über die Fluten des Hudson fegte, gar nicht so einfach war.

"Der Tote ist übrigens Clint Leonard", sagte Rogers. "Der Schiffsführer hat sofort bemerkt, dass etwas nicht stimmte und die Maschinen abgestellt. Wäre er weniger aufmerksam gewesen, hätten wir vielleicht Schwierigkeiten bekommen, ihn zu identifizieren, aber so war sein Gesicht noch eindeutig zu erkennen..."

Bount hob die Arme zu einer abwehrenden Geste. "Tu mir einen Gefallen und erspar mir die Details, Toby. So schön sind die nun wirklich nicht."

Ein mattes Lächeln ging über Rogers’ Gesicht.

"Sorry."

"Wie ist es passiert?", hakte Bount nach. "Wisst ihr schon etwas?"

"Er schwimmt wahrscheinlich schon die ganze Nacht im Hudson", erwiderte Toby Rogers. "Aber eins steht schon fest: Er ist nicht ertrunken, sondern starb durch einen Schuss. Noch haben wir keine Ahnung, wo das geschehen sein könnte." Er zuckte mit den Schultern. "Er wurde umgebracht und dann ins Wasser geworfen..."

"Ein Killer, der sein Handwerk versteht, hätte der Leiche ein paar Steine um den Hals gebunden, damit sie nicht wieder auftaucht..." meinte Bount.

"Und du meinst, dieser hier verstand sein Handwerk nicht so besonders?"

Bount zuckte die Achseln. "Ich schätze, dass Clint Leonard für seine Auftraggeber einfach zu heiß wurde."

"Wie auch immer: Jedenfalls war Leonard der Mörder von Steve Tierney. Das steht nach dem Vergleich zwischen den Projektilen, die in den Körpern von Tierney, dem Fotohändler und Detective Ramirez steckten, wohl fest. Alle drei wurden mit derselben Waffe erschossen."

Dann blickte Rogers an Bount hinunter und meinte plötzlich: "Ich habe das Gefühl, du warst schon mal näher am Stand der Mode, Bount. Oder ist der Gammel-Look wieder in und ich hab's nicht mitgekriegt?"

Bount lächelte dünn. "Ich hatte eine ziemlich unerfreuliche Begegnung mit einem Kerl, der es vorzog, sein Gesicht nicht zu zeigen."

Rogers hob die Augenbrauen.

"Eine Warnung an deine Adresse?"

"Ja, etwas in der Art. Vielleicht auch schon mehr."

18

Karen Tierney schaute nervös auf die Uhr. Michael hätte längst zu Hause sein müssen. Sie rief in der Schule an, aber dort war er nicht mehr.

Vielleicht war er noch mit Freunden unterwegs, obwohl sie ihm eingeschärft hatte, gleich nach Hause zu kommen. Der Wagen war unglücklicherweise in der Werkstatt, sonst hätte sie ihren Sohn abgeholt.

Eine halbe Stunde, das ist nicht viel, redete sie sich ein. Das konnte alles mögliche bedeuten. Irgendetwas Harmloses vermutlich...

Aber sie konnte ihre Sorgen nicht einfach so abstreifen. Es half nichts, sich immer von neuem einzureden, dass das alles nichts bedeuten musste. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Sie hatte sich an das gehalten, was man ihr gesagt hatte und dafür hatte man ihr zugesichert, dass ihr nichts geschehen würde. Und natürlich auch ihrem Jungen nicht. Das war das Allerwichtigste für sie.

Karen Tierney biss sich die Lippe und unterdrückte die Tränen, die einfach so aus ihr herauslaufen wollten. Nur kühlen Kopf bewahren!, wies sie sich selbst an. Nur nicht den Verstand verlieren!

Sie hätte schreien können, aber obwohl sie allein in der Wohnung war, tat sie es nicht. Stattdessen ging sie zum Telefon und klapperte die Reihe von Michaels Freunden ab. Zumindest diejenigen, von denen sie wusste. Nichts. Immer wieder nichts.

Sie fragte sich, was sie unternehmen konnte.

Die Polizei schied aus - und dieser Reiniger? Nachdem sie ihn derart abserviert hatte? Was soll's!, dachte sie. Er weiß ohnehin schon eine Menge oder reimt es sich zusammen. Warum soll er nicht auch den Rest wissen?

Aber wenn sie Michael wirklich in ihre Gewalt gebracht hatten, dann konnte es für den Jungen das Ende bedeuten. Skrupellose Leute waren das, denen eine Leiche mehr oder weniger keine besonderen Kopfschmerzen machte.

Plötzlich hörte sie einen Wagen vorfahren. Eine Autotür wurde geöffnet und fiel wieder ins Schloss. Dann Schritte. Sie glaubte schon fast, sich verhört zu haben und spürte ihr Herz wie wild schlagen. Sie kannte diese Schritte ganz genau. Es war Michael.

Sie rannte zur Tür, öffnete und nahm ihren Sohn in die Arme, während sie flüchtig mit den Augenwinkeln eine Limousine davonfahren sah.

"Warum weinst du, Mum?", fragte der Junge.

"Ich weine überhaupt nicht", behauptete sie. "Mit wem bist du gerade gekommen?"

"Ein Mann. Er war sehr nett und hat mich mitgenommen."

"Aber ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht einfach mit irgendjemandem, den du nicht kennst, mitgehen!"

"Aber er hat gesagt, dass er dich und Dad kennt, Mum!"

Sie atmete tief durch. Im Augenblick hatte sie nicht den Nerv, das auszudiskutieren. Dann ging das Telefon.

Karen Tierney ließ es ein halbes Dutzend Mal klingeln, ehe sie aus ihrer Starre erwachte und sich bewegte. Mit zitternder Hand nahm sie den Hörer ab.

"Ja?"

Sie hörte das Atmen eines Menschen. Karen wollte am liebsten in die Muschel hineinschreien und die Person auf der anderen Seite der Leitung auffordern, sich doch endlich zu melden.

Aber sie ließ es. Ein Kloß steckte ihr im Hals und verhinderte, dass auch nur ein einziger Ton über ihre zusammengepressten Lippen kam. Schließlich machte es 'klick!' und die Leitung war unterbrochen.

Karen Tierney ließ den Hörer sinken und fühlte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn. Angst kroch ihr den Rücken hinauf wie eine kalte, glitschige Qualle.

Aber sie hatte verstanden.

Dies war eine Warnung, vielleicht die letzte. Man wollte ihr klarmachen, dass sie keine Chance hatte, sich herauszuwinden. Nicht die Geringste! Sie konnten jederzeit zuschlagen, wenn sie wollten. Und sie wussten genau, wie Karens Achillesferse hieß: Michael.

19

"Ich komme einfach nicht über die Subway-Karten nach Wall-Street hinweg", meinte Bount, nachdem er sich umgezogen und frisch gemacht hatte.

Wieder und wieder war er zusammen mit June die Liste von Tierneys Klienten durchgegangen, aber keiner von denen hatte etwas mit Wall Street zu tun. Weder Börsenmakler noch Geschäftsleute waren darunter.

Die Leute, für die Tierney gearbeitet hatte, waren von kleinerem Kaliber. Ein jiddischer Gemüsehändler zum Beispiel, dessen Laden wiederholt von einer Jugendgang heimgesucht worden war. Oder eine Frau, deren 15jährige Tochter mit dem Haushaltsgeld ihrer Mutter durchgebrannt war, um in Kalifornien als Fotomodell das große Los zu ziehen.

"Lafitte", murmelte June. "Der Name kommt mir bekannt vor. Ich meine, im Zusammenhang mit Wall Street..."

Bount hob die Augenbrauen und warf dann einen Blick auf die Liste.

"Jennifer Lafitte? Sie hat Tierney beauftragt, ihren Mann zu beschatten, der offenbar auf irgendwelche Abwege gekommen war..."

"Nein, keine Frau. Ein Mann. Warte! Greg Lafitte heißt er und er kommentiert auf irgendeinem Kabelsender die Börsenentwicklung. Jede Woche freitags. Chartanalyse nennt sich das."

Bount pfiff durch die Zähne.

"Du kennst dich ja richtig aus!"

"Was dachtest du denn!"

"Siehst du dir diese Sendung regelmäßig an?"

"Immer, wenn ich Gelegenheit habe." Sie zuckte die Schultern. "Weißt du, ich habe nämlich ein paar Dollar in einen Aktienfond investiert und möchte natürlich ganz gerne darüber auf dem Laufenden bleiben, was aus meinem Geld wird."

Bount grinste. "Sieh an."

"Tja, da staunst du, was?"

"Und? Ich hoffe, es hat sich für dich gelohnt!"

"Ich kann nicht klagen", lächelte June.

"Wie wär's, wenn du mal versuchst die Adresse der Lafittes herauszufinden. Angenommen Tierney hat Lafitte beschattet, weil seine Frau glaubte, er hätte etwas mit einer anderen..."

"...und ist dabei auf etwas Größeres gestoßen?"

"Wäre doch möglich, oder?"

"Es ist ein Strohhalm, Bount. Ich hoffe, du bedenkst das!"

"Ja, aber was bleibt uns anderes? Clint Leonard hätte vielleicht interessante Dinge zu erzählen, wenn er noch leben würde. Aber er ist tot und kann uns nicht mehr zu seinen Hintermännern führen!"

June stemmte ihre schlanken Arme in die geschwungen Hüften. "Und was ist mit Tierneys Witwe? Kannst du es noch einmal bei ihr versuchen?"

Bount schüttelte den Kopf.

"Sie hat Angst und ich kann sie irgendwie auch gut verstehen. Schließlich hat sie einen kleinen Jungen."

"Sie könnte Polizeischutz anfordern, Bount!"

"Du weißt doch, wie das ist, June! Man wird ihr und dem kleinen Michael kaum eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung bewilligen, die ausreicht, um sie wirklich zu schützen."

"Und wenn du noch mal mit Toby sprichst? Vielleicht kann er etwas machen!"

"Sie wird ihm gegenüber nie zugeben, dass sie überhaupt bedroht wird. Und dann kann er so gut wie nichts tun!"

Wenig später ging das Telefon in Reinigers Agentur. Es war niemand anderes als Toby Rogers. "Wenn man vom Teufel spricht." murmelte Bount. "Wenn du extra hier anrufst, gibt es wohl eine neue Spur, oder irre ich mich, Toby?"

"Erraten!", dröhnte der Captain.

"Na, dann raus damit!"

"Ein Pizza-Bäcker in der Gegend hat einen Mann beobachtet, der offensichtlich verletzt war. Am Bein. Als er ihm helfen wollte, hat der Kerl ihn mit einer Pistole bedroht und ist davongehumpelt. Das könnte unser Mann sein, denn Leonard war ja bekanntlich ziemlich schnell mit der Waffe zur Hand. Er könnte sich gewehrt und seinem Mörder noch eins verpasst haben, bevor es ihn selbst erwischte!"

Bount pfiff durch die Zähne. Das war vielleicht ein Ansatzpunkt.

"Kann der Pizza-Bäcker den Kerl identifizieren?"

"Leider nein. Es war dunkel und außerdem trug der Mann eine Schirmmütze. Aber meine Leute klappern jetzt alle Krankenhäuser und Arztpraxen ab, an die sich der Mann vielleicht gewandt haben könnte."

"Na, da wünsche ich ihnen viel Spaß bei dieser Sisyphus-Arbeit!"

"Wenn ich den Jungs diese Wünsche wirklich ausrichte, wirst du dich fürs erste nicht mehr bei uns sehen lassen können, Bount!", meinte Captain Rogers.

"Da ist noch etwas, Toby."

"Und was?"

"Tierneys Witwe. Es wäre nicht schlecht, wenn sie Polizeischutz bekäme."

Rogers atmete so schwer, dass Bount den Hörer etwas vom Ohr nahm. "Bount, du weißt wie das ist..."

Bount konnte sich denken, was jetzt kam. Das alte Lied vom Personalmangel und ein paar anderen Widrigkeiten, gegen die nichts zu machen war. Einen Augenblick lang hörte Bount sich die Litanei an, dann unterbrach er seinen Freund mitten im Satz.

 

"Sie ist unter Druck, Toby!"

"Weißt du, was meine Vorgesetzten mit mir machen, wenn das herauskommt? Ich habe ja auch noch einmal versucht, mit der Frau zu sprechen, nachdem Browne sich schon die Zähne ausgebissen hatte. Sie weiß nichts oder will nichts wissen. Und das heißt, dass ich nichts machen kann!"

"Dann lass sie beschatten", schlug Bount vor und setzte dann ironisch hinzu: "Schließlich wissen wir ja nicht, ob sie nicht Leonards Auftraggeber war."

Aber das ging Rogers zu weit. "Du willst mich wohl auf den Arm nehmen!" Er seufzte. "Eine Streife alle zwei Stunden. Das ist alles, was ich machen kann!"

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