Extra Krimi Paket Sommer 2021

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Mit der Schusswunde hatte er im Grunde sogar Glück gehabt. »Neun Millimeter Stahlmantel, mein Bester, die reinste Zimmerartillerie. Glatt rein, glatt durch, glatt raus.« Leinbusch verfügte über jenen speziellen Humor, den nur Arzte im langjährigen Dienst bei der Polizei erwarben, und auch Rogge hatte sich ein Grienen abgezwungen. »Gute Handwerker hier, Jens, die Schulter wird nicht steif bleiben, aber deine Karriere als Gewichtheber ist hiermit beendet.«

»Ich hatte schon auf Marathonlauf umgestellt. Was ist mit dem Jungen?«

»Vor zwei Tagen Exitus.« Sein Mitleid sparte sich Leinbusch für die unschuldigen Opfer auf. Eine Rumänenbande, fünf Männer, wenn man Jugendliche zwischen sechzehn und zweiundzwanzig überhaupt schon so bezeichnen durfte. Der Bruch in das Warenlager war hervorragend ausbaldowert, aber der Zufall machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Der Nachtwächter hatte einen Freund mit gebracht und deswegen missglückte der Überfall. Wächter und Freund konnten noch schießen, ein Einbrecher wurde tödlich getroffen, einer schwer verletzt, die drei anderen Täter verschanzten sich in den Büros. Rogge wollte weiteres Blutvergießen vermeiden. Der MEK-Einsatzleiter hatte ihn gewarnt: »Die sind schon tot, entweder legen wir sie hier um oder die Auftraggeber zu Hause, weil sie den Bruch verpatzt haben. In diesem Geschäft duldet man keine Zeugen.«

»Ich versuche trotzdem.«

»Mensch, Herr Rogge, die haben nichts mehr zu verlieren, die haben mit dem Leben abgeschlossen, was immer Sie denen versprechen.«

»Sorgen Sie bitte dafür, dass endlich der Dolmetscher kommt.«

Der Bullige hatte Recht behalten. Nach sechs Stunden waren zwei endlich mit erhobenen Händen herausgekommen, als plötzlich der dritte, jüngste an ihnen vorbeistürmte, direkt auf Rogge zu, die Pistole im Anschlag, das Gesicht zu einer Fratze aus Hass, Wut und Todesangst verzerrt, den Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen. Zweimal konnte er noch schießen, bevor er unter dem Feuer der MEK-Leute zusammenbrach, und seine zweite Kugel durchschlug Rogges linke Schulter.

Verheilt war die Wunde wohl, aber manchmal zuckte ein stechender Schmerz durch seinen Arm und die linke Seite, der ihm die Tränen in die Augen trieb, und dahinter tauchte das Gesicht des Schützen auf, verzweifelt, hilflos, hoffnungslos, wie eine überscharfe Momentaufnahme. Auf Killen dressiert, hatten die Zeitungen geschrieben, vielleicht stimmte es sogar, aber den Dresseur hatten sie nicht ermittelt. Die beiden Überlebenden schwiegen immer noch eisern; sie hatten nicht einmal ihre Namen preisgegeben. Sickert, der im Landeskriminalamt die Einsätze gegen die Balkanbanden organisierte, hatte Rogge im Krankenhaus besucht: »Die werden auch keinen Ton sagen, Herr Rogge, Lieber lebenslänglich in einem deutschen Knast als nach Rumänien abgeschoben zu werden,«

»Womit müssten sie dort rechnen?«

»Wenn sie bis dahin keine Silbe aus geplaudert haben — eine schnelle Kugel. Wenn sie auch nur einen Namen genannt haben - tja ...« Er hob beide Hände. »Es gibt sehr unangenehme Methoden, diese Erde zu verlassen. Und an die Familienmitglieder möchte ich gar nicht denken.«

»Vermuten Sie das oder wissen Sie das?«

Sickert hatte unbehaglich gelächelt: »Ich weiß es, Herr Rogge. Aber ich werde Ihnen nicht verraten, woher.« Nach einer Pause hatte er widerwillig hinzugefügt: »Um Ihr Wohlwollen restlos zu verscherzen, will ich Ihnen gestehen, dass ich über Ihre Verletzung nicht unglücklich bin. Die MEK-Kollegen haben in Nothilfe geballert, das akzeptiert die Öffentlichkeit. Andernfalls würde es heißen, wir duldeten schießwütige Killer in unseren Reihen und so gefährlich und so brutal seien diese Banden doch gar nicht, das sei nur die Propaganda rechter Hardliner in der Polizei.«

»Und in der Politik«, hatte Rogge spöttisch ergänzt. »Ihre Fähigkeit, Trost zu spenden, überwältigt mich.«

»Dann hat sich mein Besuch ja gelohnt«, gab Sickert gemütlich zurück. »Übrigens schöne Grüße und gute Besserung auch von Peter Reineke.«

Nachdem Jödel geschildert hatte, wo und wie er die Frau aufgelesen hatte, informierte die Autobahnpolizei sofort die Kollegen in der Stadt. So heiße Kartoffeln schob man am besten gleich einen Teller weiter, zollte Rogge in Gedanken Beifall. Immerhin war die Routine angelaufen und - was immer man Grem vorwerfen konnte - er hatte nichts übersehen und nichts versäumt. Beim ersten Tageslicht hatten zwei Züge Bereitschaftspolizei das Gelände rings um den Parkplatz Feltenwiese abgesucht. Ohne Ergebnis, keine Spur von der fehlenden Oberbekleidung und den Schuhen der Frau. Und leider auch keine Spur von einer Handtasche mit Ausweispapieren.

Auch die ärztliche Untersuchung hatte ihnen nicht weitergeholfen. Die Frau war nicht vergewaltigt worden, es gab keine Anzeichen eines Notzucht-Versuchs, überhaupt keine Wunde oder Verletzung, die ihre Amnesie erklären konnte, nicht einmal Hämatome, die auf eine körperliche Auseinandersetzung hindeuten würden. Unter ihren Fingernägeln keine Hautpartikel, wie sie bei Abwehrreaktionen typisch waren. Eine Blutuntersuchung ergab eine Alkoholkonzentration von 0,6 Promille für den Zeitpunkt 1.00 Uhr am 16. September, aber sie konnte nicht sagen, wann und wo sie zuletzt etwas getrunken hatte. Auch nicht, ob und wann sie die Beruhigungspillen geschluckt hatte; die ermittelte Diazepam-Konzentration legte die Vermutung nahe, dass sie etwa 0,75 Milligramm sechs Stunden vor der Blutprobe eingenommen hatte. Ob und wie weit die Kombination von Alkohol und Valium die Amnesie ausgelöst haben konnte, blieb reine Spekulation, solange nichts über die Mengen und Umstände zu erfahren war. Ansonsten war die Frau organisch völlig gesund, Seh- und Hörstärke normal, ihre Zähne in einem beneidenswert guten Zustand.

Fingerabdrücke - nirgendwo registriert.

Der Abgleich der Vermisstenanzeigen mit den Merkmalen der Unbekannten füllte eine eigene Nebenakte. In zwei Fällen hatte Grem eine Gegenüberstellung arrangiert, beide Male negativ. Niemand schien die Frau zu vermissen.

Die zweite Nebenakte überflog Rogge nur. Wenn man alle gelehrten Spekulationen und unverständlichen Fachausdrücke wegließ, musste auch die Weißkittelriege bestätigen, was die Unbekannte plastisch so formuliert hatte: »Ich bin aufgewacht und saß neben einem netten Mann im Auto. Was früher war, ist ein graues Loch voller Nebel.« Grems Vermutung, sie sei eine hervorragende Simulantin, wollte kein Psychiater unterstützen, im Gegenteil, alle unterstrichen, dass sie ernsthaft mitarbeitete, um ihre wahre Identität herauszufinden. Doch selbst Hypnose führte keinen Schritt weiter und irgendwann im März musste Inge Weber, wie sie in den amtlichen Unterlagen jetzt genannt wurde - jeder Mensch brauchte einen Namen -, eine Krise durchlebt haben. An der Fixierung auf die vergeblichen Bemühungen, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren, drohte sie zu verzweifeln. Scheinbar aus heiterem Himmel erklärte sie dem Psychologen, der Mensch sei nicht dazu geschaffen, immer den Kopf nach hinten zu drehen, sie wolle jetzt nach vorne schauen, irgendwas unternehmen, tun, arbeiten.

Als Grem davon erfuhr, blühte er auf: Das war’s, sie hatte Angst, man werde ihr auf die Schliche kommen; jetzt noch einmal kräftig durch den Fleischwolf gedreht und er konnte diesen verdammten Fall abschließen. Die Sachverständigen waren anderer Meinung oder, wie Rogge stirnrunzelnd las, verschiedener Meinungen mit annähernd demselben Ergebnis.

Ihren Versuch, die Identitätskrise aus eigener Kraft zu meistern, konnten sie nicht missbilligen, allerdings auch nicht uneingeschränkt gutheißen. Wie auch immer, seit April ging sie nur noch unregelmäßig zu einem Psychologen, der sich Grems pausenlose Anrufe zum Schluss verbeten hatte: Nein, sie simuliere nicht, das graue Loch existiere immer noch und der Herr Kriminalhauptkommissar möge sich gefälligst gedulden und sich in Zukunft aller beleidigenden Äußerungen enthalten.

Diese Abfuhr - Durchschlag: an den Polizeipräsidenten - hatte Grem keine Ruhe gelassen und deswegen enthielt die dünne Beiakte Sprengstoff: Grem hatte Inge Weber überwachen lassen. Ohne den Betreuer zu informieren, den das Vormundschaftsgericht bestellt hatte, und gegen die Anweisung Simons. Doch die Mühe hatte nicht gelohnt. Inge Weber war in eine kleine Wohnung in einem scheußlichen Hochhaus eingezogen, in der Wilhelmstraße, und arbeitete als Halbtagsverkäuferin in der Bäckerei und Konditorei Krone, Semperstraße 144. Diesen Job hatte ihr der Betreuer besorgt. Inge Weber lief sehr viel zu Fuß, schien sich ausgesprochen gern zu bewegen, besuchte Symphoniekonzerte und Museen. Die Nachbarn und Kolleginnen schilderten sie als offen, energisch, humorvoll und zuverlässig; aus ihrer ungewöhnlichen Lage machte sie kein Geheimnis: »Guten Tag, ich werde Inge Weber genannt, meinen wahren Namen weiß ich nicht, weil ich mein Gedächtnis verloren habe, aber Sie müssen sich nicht fürchten, ich bin nicht verrückt.«

Selbst Grem hatte zähneknirschend einsehen müssen, dass sie nichts verheimlichte. Nicht einmal die Tatsache, dass sie in der Bäckerei einen Mann kennen gelernt hatte, Achim Schönborn, mit dem sie seit Mai ein Verhältnis hatte.

Rogge trommelte einen Marsch auf den Schreibtisch. Der liebe Grem forderte mit seiner Art viele Menschen zu unerwarteten Reaktionen heraus!

In der letzten Nebenakte war der Papierkrieg um die Sendung XY ... ungelöst vom März abgeheftet. In seiner Begründung hatte Grem offen zugegeben, dass er eine positive Personenidentifizierung nicht mehr erhoffe; sie war jetzt sechs Monate verschwunden, hätte also längst vermisst werden müssen, wo immer und mit wem immer sie früher gelebt hatte. Aber da war die Unterwäsche, ein sehr teures, nicht weit verbreitetes Produkt, und da gab es die drei Schmuckstücke, die sie getragen hatte, als sie mit Arno Jödel bei der Polizei erschien: eine flache goldene Armbanduhr, eine doppelreihige Kette echter Perlen und einer Schließe mit zwei Diamanten und ein goldenes Armband, besetzt mit Smaragden. Zumindest die Schließe der Perlenkette und das Armband waren Einzelanfertigungen. Wenn sie die rechtmäßige Eigentümerin dieser Stücke war, konnte sie vor dem grauen Loch keine arme Frau gewesen sein.

 

Das Ergebnis schenkte Rogge sich: nichts. Abgesehen davon, dass Grem seitdem in der Kantine häufiger angemosert wurde, wann er denn regelmäßig als Moderator im Fernsehen zu bewundern sei.

Und nun wollte Simon den Fall vom Tisch haben! Mit diesen Anhaltspunkten, Nachdem Rogge beträchtliche Löcher in die Luft gestarrt hatte, raffte er sich auf und rief ihren Polizeipsychiater an, im Hausjargon Bullentröster genannt.

Das Glück lächelte ihm, Sedelmann hob sofort ab: »Herr Rogge! Was kann ich für Sie tun?«

»Sie kennen den Fall Inge Weber?«

»Grems Waterloo? Ja, aus den Akten.«

»Dann müssten Sie mir eine Frage beantworten können. Die Frau saß in BH und Slip auf einer Bank. Ohne Schuhe. Es hatte zwar noch etwa zwanzig Grad Celsius, aber nach einiger Zeit muss sie doch zu frieren begonnen haben.«

»Richtig.«

»Hätte sie dann nicht aufwachen müssen?«

»Vorsicht, Herr Rogge. Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. Es spricht viel dafür, dass die Kälte das Aufwachen ausgelöst hat, also die Reaktion, die sie in dem Auto dann erlebte. Aber an dem grauen Loch hätte das nichts geändert - aller Wahrscheinlichkeit nach nicht.«

Bloß nicht festlegen, dachte Rogge resigniert, »Gut, Nach der Aussage dieses Jödels, die wir alle für korrekt halten, ist sie aber erst in seinem Auto aufgewacht. Kann ich daraus den Schluss ziehen, dass sie noch nicht sehr lange auf dieser Parkplatzbank gesessen hatte, als Jödel sie auflas?«

»Ich weiß, dass meine Vorbehalte Sie ärgern, aber trotzdem: möglich, ja.«

»Wie lange hat sie da gehockt? Fünf Minuten? Zehn Minuten? Eine Stunde?«

»Tut mir Leid, auf das Eis lasse ich mich nicht locken.«

»Und warum nicht?«

»Herr Rogge, Sie gehen doch auch davon aus, dass sie irgendetwas erlebt hat, etwas Schreckliches, Ungewöhnliches, Fürchterliches, jedenfalls so schlimm für sie, dass ihr Verstand darauf mit Verweigerung reagiert hat. Mal laienhaft: Im Unterbewusstsein kann sie die Kälte gespürt haben, aber dieser Reiz muss nicht so groß gewesen sein, dass er die Blockade, die Hürde vor dem Bewusstsein, überwunden hat.«

»Schade.«

»Ja, tut mir Leid. Die Neuigkeit ist natürlich im Haus längst rum. Viel Glück, Herr Rogge.«

»Danke, das kann ich gebrauchen.«

Nach der Fernsehsendung hatte sich tatsächlich ein Autofahrer gemeldet, der am 15. September auf dem Parkplatz Feltenwiese gehalten hatte. Auf die Minute konnte oder wollte er sich nicht festlegen, gegen 23.20 Uhr war er eingebogen und ausgestiegen: Kniebeugen, Arme schwingen, etwas Hüpfen, ein paar Schritte hin- und herlaufen, eine Zigarette rauchen - Abfahrt gegen 23.35 Uhr. Auch zu der Zeit hatte kein Auto auf dem Parkplatz gestanden, dessen war er sich »ziemlich sicher«, also leider nicht hundertprozentig. Nein, er hatte keinen Menschen gesehen und eine Frau in Unterwäsche - nein, die wäre ihm doch bestimmt aufgefallen. Na schön. Laut Auskunft der Autobahnpolizei wurde die Feltenwiese selten angesteuert. Es gab keine Toiletten dort, kein Telefon, übrigens auch keine Beleuchtung, nur drei roh gezimmerte Holztische mit Bänken aus halben Baumstämmen; ein Fahrer würde sich gerade nachts überlegen, ob er nicht noch die vierzehn Kilometer bis zur Autobahnraststätte dranhängen sollte. Auch Jödel war nur abgebogen, weil er unbedingt musste.

Also mal angenommen: Der Zeuge hatte sich nicht geirrt, war um 23.35 Uhr wieder abgefahren. Zweite Annahme: In dem großen, dunklen Wagen, den Jödel um 23.55 Uhr beobachtet hatte, als der auf die rechte Spur zog, hatte vorher Inge Weber gesessen. Also konnte, was immer sich am 15. September abgespielt hatte, höchstens zwanzig Minuten gedauert haben.

Bevor er sich erneut über Simon aufregte, klingelte das Telefon: »Rogge, weißt du, wie spät es ist?«

»Sei gegrüßt, schöne Dörte«, sagte er ergeben.

»Von wegen gegrüßt! Wir waren zum Essen verabredet, vor einer Viertelstunde wolltest du mich abholen und jetzt nimmst du die Beine in die Hand, ich warte bei Renzler auf dich.«

Sie hatte bei Renzler einen der seltenen Zweiertische belegt und blitzte ihn finster an. Dörte von Sandau, ein Jahrzehnt jünger als Rogge, von Beruf Staatsanwältin, geschieden, seit einiger Zeit Rogges Nachbarin eine Etage tiefer, wartete nicht gerne, wie sie ihm mehr als einmal erklärt hatte. Obwohl er sonst nicht gerade begriffsstutzig war, hatte er lange gebraucht, bis er diese Sätze auf sich bezog.

»Lass dir was Überzeugendes einfallen!«, drohte sie und er schmunzelte.

Von dem Fall Inge Weber hatte sie gehört. »Und was will Simon von dir?«

»Dass ich herausfinde, wer sie ist.«

»Wieso du? Was hat die Mörderei mit Gedächtnisverlust zu tun?«

»Das musst du Simon fragen.« Rogge seufzte, weil sie die Stirn runzelte. »Ich glaube, er will mir einen Gefallen tun und mich aus dem Routinebetrieb rausziehen.«

»Verheizen.«

»Nein, das denke ich nicht, er weiß zu genau, wie verfahren die ganze Kiste ist.«

Dörtes skeptischem Blick hielt er stand. Sein Vertrauen in Simons Anständigkeit teilte sie nicht uneingeschränkt, sie war mit dem alten Fuchs mehr als einmal dienstlich zusammengerasselt, aber wenn Jens meinte, Karl Simon sei ein echter Freund, so wollte sie nicht widersprechen. Im vergangenen Dezember war sie seine Nachbarin geworden, ganz und gar nicht freiwillig, wie sie immer wieder betonte. Kurz zuvor hatten die Banken und die Gläubiger sich auf die Summe geeinigt, die sie zurückzahlen musste, nachdem der Ehemann haarscharf an einem Verfahren wegen Konkursbetrugs vorbeigeschlittert war. Da sie in Zuverlustgemeinschaft gelebt hatten, wie sie wütete, blieb ihr nichts anderes übrig, als die große Wohnung in einer alten Villa am Stadtpark aufzugeben und sich etwas Billigeres zu suchen. Rogge hatte von ihren Nöten gehört, und als er erfuhr, dass eine der Zweizimmerwohnungen in seinem Hochhaus frei werden sollte, informierte er sie. Notgedrungen griff sie zu, der Göttergatte Felix hatte sich seinen finanziellen Verpflichtungen durch Abtauchen entzogen, was die Gläubiger empörte, sie hingegen erleichterte, weil es kein Konto mehr gab, auf das sie den gerichtlich verfügten Unterhaltsausgleich überweisen musste. »Für den Scheißkerl auch noch löhnen? - Mit unserer Gesetzgebung stimmt was nicht.« Für einen lockeren Spruch war Dörte jederzeit gut, was den Umgang mit ihr angenehm erfreulich machte, ihre Karriere aber gewaltig hemmte. Und dann war sie die einzige Frau gewesen, die regelmäßig zu ihm ins Krankenhaus kam, meist in Eile, mit einer Unsentimentalität, die sogar die Schwestern erschreckte, immer voller Neuigkeiten und vor Optimismus platzend. »Ich mag Männer, die schwächer sind als ich«, erklärte sie fröhlich, aber als Rogge seinen linken Arm wieder gebrauchen konnte, das Argument also nicht mehr zutraf, meinte sie spöttisch, nun habe sie sich an ihn gewöhnt und er als Kriminalbeamter wisse ja, über welche Macht eine zornige Staatsanwältin verfüge.

»So, die Akten rufen nach mir.«

»Und ich werde eine schöne Bäckerin besuchen.«

»Pass auf, dass sie dich nicht mit Mehl einstäubt, und bring mir eine frische Baguette mit.«

»Zu Befehl!«

Die Semperstraße lag in einem Viertel, das vor der Erfindung der Betonplatten entstanden war, und die Bäckerei Krone befand sich in einem kleinen Einkaufszentrum. Es roch nach frischem Brot und warmem Gebäck, die drei Frauen hinter der Theke hatten gut zu tun, Rogge musste sich in eine kleine Schlange einreihen.

Inge Weber erkannte er nach den Bildern aus der Akte sofort. Zweite Hälfte dreißig, hundertfünfundsiebzig Zentimeter groß, knapp über sechzig Kilo, bestimmte Dinge registrierte er automatisch. Dunkelblonde lockige Haare, kurz geschnitten. Grüne Augen, hohe Wangenknochen, Stupsnase, breiter, voller Mund; ein schmales, ungewöhnliches Gesicht, das auffiel, das man nicht so leicht vergaß. Sie bewegte sich schnell und zielstrebig, Energie schien sie im Übermaß zu besitzen, aber sie lachte auch gerne und für jede Kundin hatte sie einen freundlichen Satz parat.

Langsam rückte er vor. Jetzt konnte er auch die Worte verstehen, die sie mit den Kundinnen wechselte. Sie biederte sich nicht an, dazu schien sie zu intelligent, und sie achtete bei aller verbindlichen Freundlichkeit doch auf Distanz. Das graue Loch hatte ihr Selbstbewusstsein erstaunlicherweise nicht beschädigt, dachte Rogge flüchtig, und nach der kurzen Zeit, die er sie beobachten konnte, war er sicher, dass sie früher privat und auch beruflich, was immer sie getan hatte, beliebt und erfolgreich gewesen war.

»Ja, bitte?«

»Ich hätte gerne eine frische Baguette und ein Pfund geschnittenes Graubrot.«

»Ja.« Als die Sachen auf der Glasplatte lagen, zückte er seinen Ausweis. »Außerdem möchte ich Sie gern sprechen, Frau Weber.«

Sie hob die Augenbrauen, las seinen Ausweis und stöhnte leise: »In einer Stunde habe ich frei. Können Sie so lange warten?«

»Kein Problem. Ich hole Sie ab, ja?«

»Bis dann, Herr Rogge.«

Mit etwas schlechtem Gewissen schlenderte er zu einem Geschäft auf der anderen Straßenseite. Kaufhäuser hasste er, die vielen Menschen, das Gewusel und die schlechte Luft stimmten ihn reizbar, aber neue Hemden brauchte er, daran führte kein Weg mehr vorbei; die Sandausche Freifrau drängte ihn, entweder zuzunehmen oder neue Anzüge zu kaufen. Im Krankenhaus und in dieser Folterwerkstatt von Reha hatte er fast fünfzehn Kilo verloren und darüber hinaus auch den Appetit. Schon vor dieser Schießerei war er mager gewesen, jetzt durfte er sich mit Fug und Recht als hager bezeichnen und Jacken und Hosen saßen großzügig, um nicht zu sagen: Sie schlotterten. Also neue Hemden und vielleicht ein, zwei Krawatten.

Das kurze Kleid stand Inge Weber gut, er lächelte anerkennend, was ihr nicht entging. Lange Beine, schmale Hüften, ein schöner Busen; im letzten Moment verbot er sich, ihre Maße zu schätzen und in seinem Gedächtnis zu speichern.

Während sie ihm die Hand gab, zerkaute sie ein Lächeln. »Wir kennen uns noch nicht.«

»Nein. Kollege Grembowski hat den Fall heute abgegeben.«

»Den Fall?«, spottete sie und schwang sich die Tragetasche über die Schulter. »Meinen Fall?«

Die Sonne tat des Guten fast zu viel, Inge Weber setzte eine sehr dunkle Sonnenbrille auf, was Rogge bedauerte, ihre lebhaften Augen verrieten viel.

»Sie sind eine Art Herausforderung für uns, Frau Weber.«

»Das hat Ihr Kollege immer anders, etwas gröber formuliert.«

»Kollege Grem neigt zu einer gewissen Direktheit«, stimmte er zu und lachte leise.

»Das ist sehr diplomatisch ausgedrückt, Herr Rogge. Darf ich fragen, was Sie im Präsidium machen?«

»Ich bin Leiter des Ersten Kommissariats.«

»Des Ersten - das ist doch die Mordkommission?«

»So heißen wir in den Krimis. Aber präzise definiert sind wir zuständig für Taten gegen Leib und Leben und die persönliche Freiheit.«

»Das heißt konkret was?«

»Wenn Sie zum Beispiel gewaltsam, gegen Ihren Willen, zu diesem Parkplatz gebracht worden wären, fiele das in meine Zuständigkeit.«

»So ist das!« Sie holte tief Luft: »Herr Rogge, ich wollte eigentlich zu meinem Gymnastikklub.«

»Mein Auto steht da drüben.«

»Nein, danke, ich brauche Bewegung und frische Luft. Hätten Sie was dagegen, mich dorthin zu begleiten? Es sind nur etwa zwanzig Minuten.«

»Gerne. Ich hocke sowieso zu viel am Schreibtisch.«

Leider verbarg die Sonnenbrille ihre Augen, sie drehte kurz den Kopf zu ihm und Rogge vermutete, dass sie ihn halb erstaunt, halb amüsiert betrachtete.

»Na denn.« Sie schlug ein beachtliches Tempo ein. Nach einer Weile gestand Inge Weber unvermittelt: »Mit diesem Herrn Grembowski bin ich nicht ausgekommen.«

»Ja, ich kann’s mir gut vorstellen, Grem hält Sie nämlich für eine Simulantin.«

»Und Sie? - Glauben Sie auch, ich spiele Theater?«

 

»Nein«, erwiderte er friedfertig.

»Gott sei Dank«, murmelte sie. »Aber Sie sind doch nicht vorbeigekommen, um mir das zu sagen?«

»Nein, ich wollte Sie einmal sehen, mir ein Bild von Ihnen machen.«

Das schien sie zu erheitern, aber sie antwortete nicht.

Mehrere Minuten liefen sie schweigend, sie bog in den Reschenpark ab und erkundigte sich ernsthaft: »Gehe ich zu schnell?«

»Nein, noch kann ich mithalten.«

»Dieses Stehen - ich hab hinterher das Gefühl, meine Beine sind doppelt so dick.«

»Können Sie sich zwischendurch nicht mal setzen?«

»Doch, natürlich, aber heute war wieder ein Betrieb, man ist gar nicht dazu gekommen.«

»Ja. Frau Weber, eine Frage hätte ich allerdings: Als Sie in Jödels Auto auf gewacht sind — wie haben Sie das alles betrachtet, das Auto, die Autobahn, dann die Polizei? Ist Ihnen das fremd vorgekommen? Oder vertraut?«

»Darauf sind die Psychiater auch herumgeritten. Nein. Ich war natürlich erstaunt und verwirrt, eine ganze Zeit auch ängstlich, aber nicht wegen der Gegenstände oder Personen, sondern wegen meiner Situation.«

»Sie sprechen ein völlig akzent- und dialektfreies Hochdeutsch.«

»Alle vermuten - oder gehen davon aus, dass ich auch vor meinem grauen Loch in Deutschland gelebt habe.«

Er nickte zufrieden. Auch Grem hatte in seiner persönlichen Beurteilung ihre schnelle Auffassungsgabe und Intelligenz hervorgehoben. Aber weil Grem sich in den Gedanken verrannt hatte, sie täusche den Gedächtnisverlust vor, war er nie auf die logische Alternative verfallen: Entweder schwieg Inge Weber über ihre Vergangenheit, weil ihr Gedächtnis tatsächlich blockiert war - oder sie schwieg, weil sie etwas zu verbergen hatte; in beiden Fällen durfte er von ihr keine Informationen erhoffen.

Der Reschenpark war nicht groß, zweihundert Meter lang, um die fünfzig breit, ein grüner Fleck in dem dicht bebauten Viertel. Am Ausgang Collinistraße hielt Inge Weber sich links, jetzt schlenderte sie sehr viel langsamer.

»Was werden Sie tun, Herr Rogge?«

»Das weiß ich noch nicht«, wich er aus. »Mit Leuten reden.«

»Verhaften Sie diese Psychiater!«

»Warum denn das?«

»Weil die mich wahnsinnig machen. Reden geschwollen daher, stehlen meine Zeit und produzieren nur warme Luft.«

»Vorsicht, Frau Weber, wenn das ein Haftgrund wäre, gäbe es viel Platz in der Stadt.«

»Nix dagegen!« Sie lachte fröhlich, blieb stehen und nahm die Brille ab. »Ich bin da. Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Herr Rogge.«

»Ebenfalls, Frau Weber. Und viel Spaß bei der Gymnastik.«

Auf dem Rückweg zu seinem Auto setzte Rogge sich für eine Zigarettenlänge auf eine Bank im Park. Wenn Inge Weber heuchelte, hatte er es mit einer beachtlichen Gegnerin zu tun. Und dieser Spaziergang hatte nicht nur seiner Gesundheit genutzt, sondern ihm auch einen Anhaltspunkt gegeben: Sie war kräftig und energisch, keine Frau, die man rein durch Einschüchterung dazu bekam, ein Kleid und die Schuhe auszuziehen, brav in einem Auto sitzen zu bleiben und sich dann widerstandslos auf einem Parkplatz abladen zu lassen wie ein überflüssiges Möbelstück. Schön, vor der Mündung einer Pistole reduzierte sich jeder Mut, aber neben der körperlichen Kraft, eine Gegenwehr zu versuchen, verfügte sie auch über das nötige Temperament, um viel zu riskieren.

Auf der Rückfahrt ins Präsidium musste Rogge vor einer Ampel einmal hart auf die Bremse steigen, weil er das Umspringen auf Gelb verdöst hatte. Hinter ihm kreischten Reifen, instinktiv sah er in den Rückspiegel, es hatte gerade noch gereicht, aber zwischen beide Stoßstangen passte wahrscheinlich nur noch ein Blatt Papier. Entschuldigend hob er eine Hand, doch der Fahrer senkte rasch den Kopf, als wolle er verbergen, was er von dem Trottel vor ihm wirklich dachte.

»Blödmann!«, grummelte Rogge verärgert. Einer dieser unerträglich schönen Sonnenbrillentypen.

Den Rest der Strecke fuhr Rogge vorsichtiger, schaute häufiger in den Rückspiegel, aber er begann sich erst zu wundern, als er vom zweiten Ring in die Einbahnstraße abgebogen war und dieser Schönling immer noch hinter ihm hing. Wollte der was von ihm? Doch als er auf den Parkplatz des Präsidiums steuerte, gab der Knabe Gas und röhrte ganz knapp hinter seinem Heck vorbei. Es gab schon seltsame Geschöpfe auf Gottes weiter Welt!

Von den zehn Planstellen des Ersten Kommissariats waren drei nicht besetzt. Kollege Schubert lag nach einem Autounfall immer noch in der Klinik, der Trümmerbruch wollte einfach nicht verheilen. Nach der Versetzung der Kollegin Ackermann musste ihre Stelle im Zuge der Sparmaßnahmen sechs Monate frei bleiben. Für den Kollegen Henrich, der zu einem Lehrgang abgestellt war, gab es erst recht keinen Ersatz. Früher hatten zwei Frauen die Sekretariatsarbeiten im Dienstzimmer erledigt; seit dort der Computer Einzug gehalten hatte, war eine Stelle gestrichen worden. Es klemmte an allen Ecken und Kanten und die Schutzpolizei verlangte lautstark, mehr als bisher bei der Kripo zu sparen. Das immer schon wenig harmonische Verhältnis hatte einen bösen Knacks bekommen, nachdem das Tageblatt Anfang des Jahres ein von der Schutzpolizeiführung ausgearbeitetes Organisationskonzept veröffentlicht hatte. Danach sollten das Präsidium drastisch verkleinert und auf allen Revieren selbstständige Kriminalwachen eingerichtet werden. Uniform macht dumm und machtgeile Imperialisten hatte der Bund der Kriminalbeamten in seinem BdK-Verbandsorgan zurückgekeilt, was genau den falschen Auftakt für eine, wie Rogge fand, längst überfällige Reformdiskussion abgab. Im Moment wurde geschimpft, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Unmittelbar vor den Personalratswahlen hatte der BdK in einer Öffentlichkeitsaktion die ob der steigenden Kriminalität verunsicherten Bürger aufgefordert, Möbel und technisches Gerät für die völlig unzureichend ausgestattete und deshalb so erfolglose Schutzpolizei zu spenden; die Erfinder der Aktion rieben sich die Hände, es flössen tatsächlich Spenden, und die Schutzpolizeiführung, die zähneknirschend diese Wohltaten in Empfang nehmen musste, überlegte krampfhaft, wie sie diese Gemeinheit heimzahlen konnte. Seit einiger Zeit kursierten Memoranden und Unterschriftenlisten aller möglichen Gruppen im Präsidium und Rogge wollte nicht darauf wetten, dass seine Leute seine dienstliche Anweisung befolgten, sich aus diesem Zank herauszuhalten und keine Stellung zu beziehen. Natürlich war dieser Befehl längst im ganzen Haus bekannt und einte wahrscheinlich die Zerstrittenen wenigstens in einem Punkt, nämlich in ihrer Abneigung gegen den Leiter des Ersten K., der sich bis jetzt geweigert hatte, seine Meinung kundzutun. Grem gehörte zu den lautstarken Verteidigern der Kripo und reagierte wie der Stier auf das rote Tuch, wenn er nur die Wörter Gewerkschaft der Polizei hörte. Und er verfocht mit Grem’scher Sturheit die These, dass jeder gegen ihn sei, der sich nicht explizit für ihn aussprach.

Oberkommissar Hans Kirchbauer hatte alle zu der üblichen Abendbesprechung zusammengerufen. Obwohl Rogge sich hundertprozentig auf ihn verlassen konnte, war Rogge mit seinem Vertreter, der überall seine Ohren aufsperrte, das Gras wachsen hörte und jede Intrige im Voraus witterte, nie recht warm geworden. Das behinderte sie nicht im täglichen Geschäft, führte aber dazu, dass sie privaten Kontakt mieden.

Der Einzige, der diese Spannung nicht zu spüren schien, war Hauptmeister Kilian Haindl, ein schwarzlockiger Energie- und Temperamentsbolzen und umtriebiger Hansdampf in allen Gassen. Kili, wie er allgemein genannt wurde, hatte das große Los gezogen, bei einem steinreichen Onkel mietfrei in einem großzügigen Apartment zu wohnen und die gar nicht so alten Autos seines Onkels, wie er spottete, auftragen zu können. Geldsorgen kannte er folglich nicht, notfalls half der liebe Onkel aus, der immer noch hoffte, Kili würde eines Tages sein Geschäft übernehmen. So konzentrierte sich der Herzensbrecher in erster Linie auf Frauen, dann auf seine Computer und zum Schluss auf seinen Beruf. Rogge schätzte Kilis Intelligenz und Fantasie, bemängelte aber dessen Bereitschaft, fünf auch einmal gerade sein zu lassen.