Extra Krimi Paket Sommer 2021

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IV.

In der Nacht war es abgekühlt, die Sonne kämpfte sich durch einen dichten Wolkenschleier und wärmte noch nicht. Zu dieser frühen Morgenstunde hatten Hommel und Reineke den Golfplatz praktisch für sich allein, zweihundert Meter vor ihnen marschierte ein Unentwegter, der alle fünfzig Schritt gymnastische Übungen einlegte, Kniebeugen und Armkreisen oder Luftsprünge wie ein Hampelmann.

»Was ist los mit dir? Seit wann kriegt man dich an einem normalen Arbeitstag so früh aus den Federn?«

Hommel drehte ärgerlich den Kopf, aber Reineke ordnete ungerührt die Schläger in seinem Wägelchen, wobei er leise vor sich hin pfiff.

»Mit mir ist gar nichts los«, sagte der leitende Staatsanwalt endlich verkniffen. Ihm war kalt, er hasste das Frühaufstehen und Lust zu einer Runde verspürte er überhaupt nicht. »Ich wollte dir einen Gefallen tun.«

»Dann im Voraus besten Dank.«

»Kannst du dich noch an diesen Tepper erinnern?«

»Tepper?«, wiederholte Reineke ausdruckslos und richtete sich auf.

»Wolfgang Tepper. Vor sieben Jahren.«

»Doch, ja, schwach.« Er runzelte die Stirn.

»Du wolltest ihn unbedingt haben.«

Reineke nickte zögernd: »Das war der Mann mit der französischen Mutter und dem deutsch-englischen Vater?«

»Genau der.«

»Was ist mit ihm?« Reineke schien mehr aus Höflichkeit denn Interesse zu fragen.

Hommel verschluckte eine böse Bemerkung. Zwanzig Schritte schwieg er beleidigt, passte sich aber unwillkürlich dem Tempo an, das Reineke vorlegte.

»Teppers Frau ist abgehauen, noch bevor ich die Einstellung - angeordnet hatte. Auf deinen Wunsch hin, Fuchs«, setzte er aufgebracht hinzu.

»Ja, ich erinnere mich, er war verheiratet«, sagte Reineke ungerührt. »Mit einer sehr Hübschen.«

»Nach sieben Jahren ist sie jetzt aus Amerika zurückgekommen und sucht nun ihren Mann.«

»Wirklich? Woher weißt du das?«

»Sie hat den Kollegen aufgesucht, der damals die Ermittlungen eingeleitet hatte, und wollte von ihm eine Adresse ihres Mannes haben.«

»Weiß sie denn nicht, wo ihr Mann steckt?«

»Offenbar nicht. Angeblich hatten sie seit ihrer - Flucht nach Amerika überhaupt keinen Kontakt mehr.«

»Ungewöhnlich«, murmelte Reineke nach einer Pause und stellte sein Wägelchen ab. »Wer schlägt zuerst?«

»Was ist eigentlich aus diesem Tepper geworden?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn weitervermittelt und aus den Augen verloren.«

Hommel betrachtete seinen Kollegen scharf, aber Reineke erwiderte seinen Blick offen.

»Ich muss mir also keine Sorgen machen?«

»Aber nein! Warum denn?«

Nach neun Löchern kehrten sie in stillschweigendem Übereinkommen um, Hommel fror immer noch, die Bewegung half einfach nicht, ihn aufzuwärmen, und Reineke musste sich zusammenreißen, um keine Ungeduld zu zeigen. Während des Studiums hatten sie sich kennen gelernt und angefreundet, zusammen in der Uni-Mannschaft Degen gefochten, in Klausuren vereint gemogelt und zwei Semester lang auch eine Bude geteilt. Der bessere Jurist war ohne Zweifel Eckehard Hommel, aber Peter Reineke besaß mehr Fantasie und Unternehmungsgeist. Für Hommel stand das Berufsziel immer fest, Staatsanwalt oder Richter; der Gedanke, als Anwalt ohne festes Einkommen zu praktizieren, hatte ihn regelrecht gelähmt. Ohne große Lust hatte Reineke noch das zweite Staatsexamen absolviert und vorübergehend mit dem Gedanken geliebäugelt, zur Polizei zu gehen, doch zu dieser Zeit las er eine Anzeige: Das Landeskriminalamt stellte Volljuristeri ein. Mehr aus Jux bewarb er sich und wurde angenommen, die Tätigkeit gefiel ihm sogar, wenigstens zu Beginn, bis seine alte Unruhe, verbunden mit seiner Unfähigkeit, irgendetwas so tierisch ernst zu nehmen, wie man das von ihm erwartete, wieder durchbrach. Zugleich stellte er fest, dass er tatsächlich in einer Behörde arbeitete, es gab Vorschriften, Dienstwege, Vorgesetzte, und das alles ertrug er immer schwerer. Seine Beliebtheit sank dramatisch, schließlich fasste er sich ein Herz und marschierte zu seinem Chef: »Ich möchte raus aus dem Amt, praktisch arbeiten, am Schreibtisch ersticke ich.«

Nach einer langen Bedenkpause nölte sein Chef: »Die Todesstrafe ist abgeschafft.«

»Wie bitte?«

»Die Verbrecher, die Sie jagen möchten, lachen sich bei Ihrem Anblick tot.«

»Heißen Dank!«

»Nicht so hitzig. Können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass Sie acht Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, sechs Monate lang eine Hütte im Wald beobachten, in der sich möglicherweise ein Gesuchter mit einem anderen trifft?«

»Nein«, fauchte Reineke, »aber so blöd wäre ich auch nicht, für so was gibt’s technische Geräte. Und Kollegen von der Schutzpolizei.«

»Die erste Idee ist gut, die zweite schlecht.« Wenn sein Chef still in sich hineinlachte, wackelte sein beachtlicher Bauch. »Aber es gibt eine Koordinierungsstelle im Haus, die solche Kooperationen mit den anderen Ämtern, mit den Brüdern aus Wiesbaden und mit der örtlichen Polizei regelt. Regeln sollte, denn daran hapert's bis jetzt. Ich gebe Ihnen eine Chance, warum, weiß ich selbst nicht, und versetze Sie probeweise in die Abteilung XIII.«

»Dreizehn ist eine richtige Glückszahl!«

»Ach, da sind nur Verrückte beschäftigt, Herr Reineke, bei denen kann eine Dreizehn auch nicht mehr schaden.«

»Ihr Wohlwollen beschämt mich!«

»Empfinden Sie das so? - Dann hab ich was falsch gemacht. Also, wie ist’s?«

Reineke überlegte gründlich, aus seinem Chef wurde er noch nicht schlau. Der Alte soff, dass man ihn gelegentlich in seinen Dienstwagen tragen musste, und tätschelte bei jeder Gelegenheit liebevoll seinen Bauch: »Essen und trinken hält die Seele zusammen und treibt den Leib auseinander.« Sein Repertoire an ordinären Sprüchen genoss legendären Ruhm, er kümmerte sich scheinbar um nichts und erfuhr doch immer alles, was im Amt ablief. Streit schlichtete er nicht gerne, sondern ging mit einer so jähzornigen Wut gegen beide Kontrahenten vor, dass die meisten ihre Differenzen lieber gütlich beilegten. Für Politiker und Juristen hatte er nichts übrig, fleißige Mitarbeiter waren ihm unheimlich, dafür verstand er sich prächtig mit den faulen Genies.

»Ich kann’s ja mal versuchen.«

Nach zwanzig Dienstjahren arbeitete Reineke immer noch in der Abteilung XIII, mittlerweile als Abteilungsleiter. Eine Beförderung zum Vizepräsidenten hatte er ausgeschlagen, zwei Versetzungen abgewehrt. Vom ersten Tag an hatte er den Euphemismus Koordinierungsstelle durchschaut und eisern über seine neue Tätigkeit geschwiegen. Sie stimmten tatsächlich ab, mit den anderen Landeskriminalämtern, dem Bundeskriminalamt, mit Verfassungsschutz, Staatsschutz, Zoll, Militärischem Abschirmdienst und Bundesnachrichtendienst, das auch, aber die meisten Aktionen gingen über Abstimmung weit hinaus, darüber führten sie keine Akten. Sie betrachteten es jedes Mal als Niederlage, wenn die Abteilung XIII in der Öffentlichkeit genannt oder in den Zeitungen erwähnt wurde. Noch heute wunderte sich Reineke darüber, dass der dicke Alte ihn trotz seiner Jugend und offenkundigen Unzufriedenheit in diese Abteilung vermittelt hatte, und mehr noch, dass er genau die Aufgabe gefunden hatte, die ihm gefiel.

Tepper, Wolfgang. Was war aus dem Kerl eigentlich geworden?

Roland Pertz blieb am Telefon sehr kühl: »Tut mir Leid, keine Ahnung, wo sich der Mann aufhält.«

»Du hast ihn damals - erbeten.«

»Richtig. Auf Wunsch des Verfassungsschutzes. Was die mit Tepper angestellt haben ... Du kennst doch die Regel, je weniger man weiß, desto mehr kann man abstreiten.«

Mit einem äußerst unguten Gefühl beendete Reineke das Gespräch. Pertz verschwieg alles, manchmal sogar, dass der BND, dem er als Abteilungsleiter diente, gezielte Aktionen durchführte. Natürlich mauerte Pertz und das hieß höchstwahrscheinlich, dass etwas schief gelaufen war, Pertz aber Einzelheiten entweder nicht kannte oder nicht preisgeben wollte. Nein, entschied Reineke, gegen Überraschungen sicherte sich der vorsichtige Mensch ab. Diese Karin Tepper konnte Lärm schlagen und deshalb galt es, sie aufzustöbern und dann im Auge zu behalten.

Er drückte auf eine Taste des Telefons: »Heinrich und Opitz sollen sich so schnell wie möglich bei mir melden.«

»Geht in Ordnung.«

Montag, 11. September

Kriminalrat Karl Simon schüttelte energisch den Kopf: »Nix! Ich will den Fall endlich vom Tisch haben.«

Seine beiden Besucher schwiegen. Wenn Simon einen bestimmten Ton anschlug und die Augenbrauen zusammenzog, war mit ihm nicht mehr zu diskutieren.

Kriminalhauptkommissar Ulf Grembowski schmollte und schaute gekränkt an seinem Vorgesetzten vorbei. Ziemlich genau zwölf Monate hatte er sich die Zähne an diesem Fall ausgebissen und war, wie er eingestehen musste, nicht einen Schritt weitergekommen. An seinem Fleiß und seiner Tüchtigkeit hatte es nicht gelegen. Zwar sah Grem, wie er im Präsidium allgemein genannt wurde, eher nach einem Preisringer aus, der lieber seine Muskeln als seinen Grips einsetzte, aber selbst Simon, der ihn nicht sonderlich schätzte, musste nach der Lektüre der umfangreichen Akte einräumen, dass Grems Mannschaft alles Menschenmögliche unternommen hatte. Nur eben ohne jeden Erfolg und der hämische Kommentar in der Samstagsausgabe des Tageblatts hatte dann wohl das Fass überlaufen lassen.

»Was meinen Sie, Herr Rogge?«

Jens Rogge seufzte. Grems Verbitterung begriff er sehr gut und der Gedanke, Simons Entscheidung werde sein ohnehin gespanntes Verhältnis zum Leiter der Abteilung Vermisste noch weiter verschlechtern, behagte ihm überhaupt nicht. Wenn es nach ihm ginge, würde die Akte Inge Weber geschlossen. Einmal musste sie ja ihr Gedächtnis wiederfinden und bis dahin sollten sich alle gedulden.

 

»Große Hoffnungen mache ich mir nicht«, erwiderte er endlich und Simon lächelte schmal.

Wort für Wort hätte er die Überlegungen des hageren, grauhaarigen Mannes niederschreiben können, aber gerade deswegen schlug er nicht vor, sondern drohte mit einem dienstlichen Befehl. Sollte Grem sich quer legen oder Rogge Knüppel zwischen die Beine werfen, würde er mit dem Riesen Schlitten fahren. Erstens beabsichtigte er das schon lange und zweitens schadete es diesem ganzen Sauhaufen nicht, wenn wieder einmal verdeutlicht wurde, wer hier im Präsidium das Sagen hatte.

»Große Hoffnungen müssen nicht sein«, versetzte er deshalb ungerührt, »eine kleine reicht mir vorerst.«

Nach einer Weile zuckte Rogge die Achseln. Mit Simon kam er gut aus, aber deswegen kannte er den Rat auch besser als Grem, der vor unterdrückter Wut schwitzte und die Fäuste ballte, statt angestrengt zu überlegen, was sein Abteilungsleiter im Schilde führte.

»Okay, ich sehe, wir haben uns verstanden. Kollege Grem gibt also den Fall offiziell an den Kollegen Rogge ab. Ich informiere die Staatsanwaltschaft und die Pressestelle.«

»Muss das sein?«, knurrte Grem.

»Keine Nachricht an die Presse, aber die nächsten Anfragen laufen über das Erste. Alles klar?«

Wie von der Feder geschnellt sprang Grem hoch und stürzte zur Tür. Rogge wollte noch etwas sagen, aber Simon winkte ärgerlich ab. Mit einem gemurmelten »Wiedersehen« verließ Grem das Zimmer.

Auf der Treppe gingen sie nebeneinander, Grem atmete schwer.

»Ich hab mich nicht danach gedrängt, Grem«, sagte Rogge ruhig.

»Dieser Scheißkerl hat was gegen mich, das ist alles, und du machst sein Spiel mit.«

»Er kann mich anweisen, das weißt du genau.«

»Was erwartet der Blödian eigentlich?«

»Woher soll ich das wissen? Ich kenn den Fall nicht.«

»Vom Tisch haben! Wenn ich so was schon höre! Der große Herr Rat schnippt mit den Fingern, prompt schlägt sie die Augen auf und flüstert: Ich bin die gute Lotto-Fee

»Wenn sie die nächsten sechs Richtigen ausplaudert ...«

Grems Zimmer war ein hoher, tiefer und entsetzlich schmaler Schlauch, so, als habe der Architekt sich verrechnet und während des Baus mit einem Mal festgestellt, dass zwischen zwei Zimmerwänden noch eine Lücke geblieben war. Aus purer Not hatte er ein Fenster in die Außenwand gebrochen, das die gesamte Breite des Zimmerchens einnahm. Hinter Grems Rücken munkelten die Kollegen, die ihm nicht wohl wollten, er habe sich den Raum bewusst ausgewählt, weil er jeden Morgen beide Arme gegen die Zimmerwände stemme und versuche, sie auseinander zu schieben. Erst wenn ihm das gelungen sei, würde er umziehen, aber vorher noch mit seinem Dick- und Quadratschädel die Mauern einrennen.

»Setz dich!«, brummte Grem und warf sich in seinen Rollensessel, den er sofort nach hinten kippte.

Abgerissene Tapete und bröckelnder Putz zeugten von seiner

Lieblingsposition. Rogge musste sich regelrecht auf den Besucherstuhl schlängeln, weil der mit der Lehne ebenfalls an die Wand stieß. Trotz des geklappten Oberlichts stank es bestialisch nach dem Knaster, den Grem in einer uralten Pfeife rauchte.

»Hier sind die Akten.«

»Danke, ja.« Ein beachtlicher Stoß, Rogge schob ihn zur Seite und erkundigte sich sachlich: »Diese XY ... ungelöst-Sendung hat nichts gebracht?«

»Überhaupt nichts!«, grollte Grem, dem noch heute der Kamm schwoll, wenn ihn die Kollegen als »unseren Fernsehstar« hänselten.

»Eigentlich merkwürdig.«

»Das darfst du singen, flöten und deklamieren. Ein Juwelier hat sich gemeldet und behauptet, die Schließe der Halskette scheine ihm ein französisches Fabrikat zu sein, aber damit sind wir auch nicht weitergekommen.«

»Die Unterwäsche könnte auch aus Frankreich stammen.«

»Richtig, aber Frankreich ist groß und Simon hat nicht erlaubt, dass einer von uns eine Dienstreise nach Frankreich macht.«

»Und wie steht’s mit ihrer Amnesie?«

»Unverändert. Aber du musst dich mal mit diesen Idiotenärzten unterhalten. Die überschütten dich mit einem Schwall komplizierter Fremdwörter, eiern herum, sondern ellenlange Sermone ab, und wenn du sie zwingst, sich verständlich auszudrücken, kriechen sie ganz kleinlaut unter den Teppich: Nischt, nischt, nischt. Keine Ahnung, wann die Dame geruhen könnte, ihre Erinnerung wiederzufinden. Keine Ahnung, warum und wie sie ihr Gedächtnis verloren hat.«

Nicht ganz so grob, aber in der Sache unverändert hatte es Grem in den Montagskonferenzen vorgetragen, zu denen sich die Leiter aller Abteilungen und Dezernate am Wochenanfang zwischen acht und neun Uhr trafen. Als Simon heute Morgen zum Schluss die Kollegen Grembowski und Rogge zu sich bat, war ein Raunen durch den Versammlungssaal gegangen. Alle Anwesenden hatten am Wochenende das Tageblatt gelesen.

»Was macht sie jetzt eigentlich?«

»Steht alles in den Akten«, sagte Grem, aber weil Rogge nur den Kopf schräg legte, räusperte Grem sich ausgiebig. »Sie arbeitet in einer Bäckerei, als Aushilfsverkäuferin. Seit sechs Monaten hat sie einen Freund und der heißt - halt dich fest! - Achim Schönborn.«

»Ach nee!«, kommentierte Rogge gedehnt, was Grem zu beruhigen schien: »Ja, genau der.«

»Lebt sie bei ihm da draußen in seiner Villa?«

»Nein, sie hat immer noch ihre eigene Wohnung. Aber sie verbringt manche Nacht und fast jedes Wochenende in Steinfurth.«

»Was Ernstes zwischen den beiden, Grem?«

»Ich hab schon den Eindruck.« Plötzlich hatte er wieder zu seinem normalen Ton gefunden. »Sie machen übrigens kein Geheimnis daraus. Mit Schönborn hab ich ein paar Mal gesprochen. Er möchte natürlich auch gern erfahren, wen er sich da ins Bett geholt hat. Dafür wäre er auch bereit zu löhnen, Sachverständige und Gutachten und Psychiater und Privatdetektive und Belohnungen. Er hat’s ja!«, fügte er bitter hinzu.

»Und sie? Wie benimmt sie sich?«

Bevor Grem antwortete, griff er in eine Schublade und holte den gefürchteten Stinkkocher hervor; Rogge hielt sich die Nase zu, was Grem aber nicht beeindruckte.

»Wahrscheinlich ganz normal, Jens. Das Schwierige ist - ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie es ist, wenn man nicht mal mehr weiß, wie man heißt, wann und wo man geboren wurde.«

Jetzt gestattete sich Rogge ein Schmunzeln, das Grem mit einem finsteren Blick quittierte. Eine Simulantin - als solche hatte er sie anfangs behandelt, grob, unhöflich, an der Grenze zur unerlaubten Einschüchterung, bis die Ärzte dazwischenfunkten und die Presse informierten. Daraufhin hatte Grem einen offiziellen Verweis bekommen, der jetzt seine Personalakte verunzierte, den Fall aber noch behalten, weil Simon vor den Angriffen in den Zeitungen nicht kuschen wollte. Was Grem wahrscheinlich schon vergessen hatte. Oder verdrängt, sein Sündenregister hatte eine beachtliche Länge und Dankbarkeit gehörte ohnehin nicht zu seinen Stärken.

»Was ist denn dein Eindruck? Will sie ihr Gedächtnis wiederfinden?«

»Ach, ich denk schon!« Dies einzugestehen fiel Grem schwer, Rogge nickte nachdenklich. Viele Menschen verschwanden, wurden eines Tages auf gestöbert und behaupteten, sie hätten vorübergehend ihr Gedächtnis verloren. In neun von zehn Fällen logen sie, wollten etwas vertuschen, vor der Polizei, den Eltern, dem Ehepartner. Natürlich gab es Fälle, in denen wirklich eine Amnesie zutraf, nach Schädelverletzungen etwa bei einem Verkehrs- oder Arbeitsunfall oder bei Schlägereien. Aber dann konnten die Knochenklempner Beweise vorlegen, Röntgenbilder, Computertomographien oder auch EEGs, die der misstrauische Grem mittlerweile akzeptierte. In anderen Fällen ließ er sich von Blutanalysen überzeugen; Junkies dröhnten sich mit allen möglichen Drogen zu, bis der Film riss, für einige Zeit oder - seltener - auch für immer. Aber eine Frau, die nicht die geringste Verletzung oder hirnorganische Veränderung aufwies? - Nein, nicht mit ihm, nicht mit Grem dem Groben.

»Na dann, vielen Dank, ich halte dich auf dem Laufenden.«

In seinem Zimmer lehnte Rogge lange am Fenster und schaute träumend in den Innenhof hinunter, den eine riesige Kastanie fast vollständig beschirmte. Jedes Jahr begann im Herbst ein Krieg zwischen den Kollegen, die das Privileg genossen, im Innenhof parken zu dürfen, und der obersten Etage des Präsidiums, weil einige fallende Kastanien winzige Dellen in die bunten Bleche schlugen. Bis jetzt hatten sich die Baumfreunde durchgesetzt, aber immer nur mit knapper Mehrheit.

Rogge schätzte das altmodische Präsidium, das in den zwanziger Jahren erbaut worden war, ein vierstöckiger Bau rund um einen großen, fast quadratischen Innenhof, aus dunkelbraunen Klinkern, mit doppelten Holzfenstern und einem ordentlichen Ziegeldach mit zahlreichen Gauben. Vor einem Jahrzehnt war das Dachgeschoss ausgebaut worden, was vorübergehend Platz geschaffen hatte, aber bestimmte Abteilungen, vor allem die Kriminaltechnik, hatten in einen Neubau umziehen müssen. In den Räumen über den beiden Durchfahrten in den Längsseiten beschwerten sich die Kollegen im Winter, sie bekämen kalte Füße; das war bewusst doppeldeutig gemeint, aber die Klagen hatten nachgelassen, weil an einen weiteren Neubau wegen der allgemeinen Finanznot nicht zu denken war und selbst die größten Meckerer langsam einsahen, dass sie solch breite Flure, bequeme Treppen und zahlreiche Nebenräume in einem funktionalen Hochhaus nicht erwarten durften.

Leise seufzend drehte Rogge sich um. Das schöne Wetter verlockte zum Träumen. Im Mai war er wieder zum Dienst angetreten, nach acht Wochen Krankenhaus und sechs Wochen Rehaklinik, die Schusswunde war verheilt, er spürte sie nur noch, wenn er den linken Arm überanstrengt hatte. Doch die Müdigkeit überwältigte ihn immer wieder, sie steckte nicht in Knochen und Muskeln, sondern in seinem Kopf. Immer häufiger ertappte er sich dabei, dass er neben sich trat und ratlosneugierig den großen, hageren Mann mit dem faltigen Gesicht und eisengrauen Haaren betrachtete, der manchmal nur wie ein Automat funktionierte, präzise zwar und zuverlässig, aber ohne Anteilnahme, als sei ihm der Beruf so fremd geworden wie die Umgebung. Rogge hatte zu viel gesehen und erlebt, um noch tolerant zu sein, und sein Mitleid sparte er sich für die wenigen Fälle auf, in denen es angebracht war. Als Erster hatte Simon Rogges Probleme bemerkt. Dem stets auf Distanz bedachten und schweigsamen Rat entging wenig, doch weil er sich nichts anmerken ließ, unterschätzten viele seine Scharfsichtigkeit.

»Noch nicht wieder da, Herr Rogge?«

»Nein. Es gibt Tage, da laufe ich wie ein Fremder durchs Haus und begleite mich.«

In den sechs Wochen Rehakur hatte Rogge viel gegrübelt. Dass ihn die meisten Kollegen nicht leiden mochten, dass er als schwieriger Einzelgänger galt, um den man besser einen Bogen schlug, wusste er schon lange. Dass er seinen Beruf trotz aller Schattenseiten liebte, würden ihm die meisten Kollegen nicht glauben. Während er mechanisch den Anweisungen der Krankengymnasten folgte, überlegte er, ob er wirklich noch an seinem Posten hing oder nur die Langeweile der vorzeitigen Pensionierung fürchtete. Seine drei Kinder hatten das Haus verlassen und standen auf eigenen Füßen, führten ihr eigenes Leben in anderen Städten und nahmen sich selten die Zeit, den Vater zu besuchen. Rogges Frau war vor fünf Jahren gestorben; und als ihm das Haus zu groß geworden war, hatte er es zu einem sehr guten Preis verkauft und das Geld gut angelegt. Er hatte in einem anonymen Hochhaus eine kleine Wohnung gemietet, in der er sich gelegentlich wie eingesperrt fühlte. Seitdem gab Rogge sein Gehalt nicht mehr aus und rührte die Zinsen nicht an. Redselig war er nie gewesen, nun wurde er wortkarg. Klar, Simon wollte diesen unangenehmen Fall endlich abschließen, aber wahrscheinlich rieb sich der Rat gleichzeitig die Hände, weil er gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlagen hatte: Grem einen Dämpfer verpasst und für Rogge etwas gefunden, das der allein recherchieren, bei dem er sich seine Zeit selbst einteilen konnte.

Nun denn! Rogge schlug die Akte auf.

Die unbekannte Frau, die jetzt unter dem Namen Inge Weber geführt wurde, war am 15. September des vorigen Jahres auf dem Autobahnparkplatz Feltenwiese gefunden worden, knapp 25 Kilometer östlich der Stadt. Grem hatte eine Kopie aus dem Straßenatlas beigefügt: Der Parkplatz lag südlich der Autobahn, an der von Ost nach West führenden Seite. Gegen 23.55 Uhr hatte der in Frankfurt lebende Vertreter Arno Jödel auf dem Platz angehalten, weil er unbedingt pinkeln musste.

 

Rogge blätterte, bis er das Protokoll fand: Jödel erinnerte sich, dass zu dieser Zeit ungewöhnlich wenig Verkehr herrschte. Drei, wenn nicht vier Minuten hatte er weder Rücklichter vor sich noch Scheinwerfer im Innenspiegel gesehen, bevor er auf den Parkplatz einbog. Allerdings glaubte er auch wahrgenommen zu haben, dass gut zweihundert Meter vor ihm ein wahrscheinlich großer, dunkler Wagen auf der Einfädelspur beschleunigte, während er auf der Abbiegespur bremste. Zum Autotyp konnte er keine Angaben machen, natürlich auch nicht über das Kennzeichen.

Jödel hatte sich auf die erste Parkfläche gestellt und war dann in den Wald gestürmt, der bis an den Platz reichte. Nach seiner Aussage war der dunkle Rastplatz zu diesem Zeitpunkt völlig verlassen gewesen. Nachdem er sein Geschäft erledigt hatte, ging er langsam zu seinem Auto zurück. Erst als er auf die Ausfahrt zurollte, bemerkte er die Frau. Sie saß regungslos auf einer Bank und im Scheinwerferlicht erkannte er, dass sie nur einen BH und ein Höschen trug; später fiel ihm auch auf, dass sie barfuß war. Die fehlende Kleidung und ihre Regungslosigkeit alarmierten ihn; er war schon an ihr vorbei, als er bremste und nach kurzem Zögern zurücksetzte.

»Warum, Herr Jodel?«

»Ich weiß nicht. Sie sah so hilflos aus. Ich dachte, es wäre ihr etwas passiert. Oder jemand hätte sie belästigt.«

Das Wort belästigt korrigierte er später freiwillig in vergewaltigt. Und danach habe der Täter sie hier ausgesetzt oder aus dem Auto geworfen. Vorsichtshalber rangierte er so weit zurück, dass er sie im Scheinwerferlicht wieder deutlich sehen konnte. Als er ausstieg und sich ihr näherte, rührte sie sich nicht, sagte auch kein Wort, so als habe sie ihn gar nicht wahrgenommen. Auch als er sie ansprach, reagierte sie nicht, sondern starrte weiter geradeaus vor sich hin.

»Als ob sie stumm und blind und gelähmt wäre.«

Er versuchte es noch einmal, wieder keine Reaktion.

»Wie im - Schock.« Medizinisch war dieses Wort unkorrekt, aber der verdutzte Jödel konnte ihr Verhalten nicht anders beschreiben. »Starr und völlig weggetreten.«

Ihm war klar gewesen, dass er jetzt nicht einfach wegfahren und die Frau ihrem Schicksal überlassen konnte. Aber seine Aufforderung, in sein Auto zu steigen, schien sie gar nicht zu erreichen, also hatte er es endlich riskiert und sie am Oberarm angefasst, um sie von der Bank hochzuziehen. Zu seiner großen Verblüffung folgte sie sofort, ohne Widerstand, immer noch wortlos, mit der unverändert maskenhaften Miene. Jetzt war ihm aufgefallen, dass sie keine Schuhe trug.

»Sie gehorchte wie eine - eine - Marionette. Ohne eigenen Willen.«

Jödel räumte ein, dass er ins Schwitzen geriet. Helfen wollte er, aber so etwas hatte er noch nie erlebt und die Furcht, in eine Falle gelockt zu werden, wuchs von Sekunde zu Sekunde. Außerdem hatte er, wie er offen zugab, auch Angst vor der Reaktion der Frau: halbnackt, um Mitternacht auf einem einsamen Parkplatz - wenn sie nun später behauptete, er hätte sie belästigt - von solchen Fällen hatte er schon gelesen, und gerade weil er als Vertreter viel unterwegs war, nahm er grundsätzlich keine Anhalterinnen mit. Das hatte er erstens seiner Frau versprochen und zweitens kannte er einen Kollegen, der bei strömendem Regen eine junge Frau aufgelesen hatte, die am Ziel seelenruhig ausstieg und sofort zum nächsten Revier marschierte, wo sie ihn wegen sexueller Belästigung anzeigte. Mit perfekter Personenbeschreibung und vollständigem Kennzeichen. Das alles war ihm durch den Kopf geschossen, während er sie zu seinem Wagen führte.

»Ich musste sie regelrecht auf den Beifahrersitz drücken.«

Was sie ohne Widerstand mit sich geschehen ließ; als er einstieg, saß sie kerzengerade, die Hände flach auf den Oberschenkeln, den Kopf nach vorn gerichtet.

»Ich hab ihr gesagt, sie müsse sich anschnallen, aber das hat sie nicht gehört. Oder nicht verstanden.«

Was sollte er tun? Schließlich hatte Jodel an ihr vorbei nach dem Gurt gegriffen, selbst dabei bewegte sie sich keinen Millimeter, auch nicht, als er sie aus Versehen streifte. »Mir ist richtig unwohl geworden«, gestand er und seine Zähne klapperten noch in der Erinnerung. »Das war doch nicht normal.«

Rogge legte einen Merkstreifen auf die Protokollseite und blätterte schnell weiter: keine Einvernahme durch einen Sachverständigen. Wahrscheinlich hatte Jödel mehr als einmal bedauert, sich um die Frau gekümmert zu haben, die Protokolle mussten ihn mindestens zwei Tage gekostet haben. Von den sonstigen Scherereien ganz zu schweigen.

Bei der zweiten Einvernahme hatte schon Grem die Fragen gestellt und Jödel gelöchert: Wie viel Zeit war zwischen seinem Einbiegen auf den Parkplatz und der Abfahrt verstrichen? Hatten in dieser Frist andere Autos auf dem Platz angehalten? Hatte er einen Menschen bemerkt? Ein Auto, dessen Fahrer sich merkwürdig verhielt?

Rogge schmunzelte mitfühlend; den armen Jödel konnte er sich gut vorstellen, vor ihm ein drohend-unfreundlicher Grem, daneben neugierige Beamte. Doch Jödel war fest geblieben: ziemlich genau um 23.55 Uhr angehalten. Fünf, höchstens sechs Minuten später wieder abgefahren. Während dieser Zeit hatte kein anderer Wagen den Parkplatz angesteuert; er hatte niemanden bemerkt, ihm war nichts aufgefallen. Ja, in der Zeit waren einige Wagen auf der Autobahn vorbeigefahren. Nein, auf der Fahrt bis in die Stadt war ihm niemand gefolgt, er glaubte sich daran zu erinnern, dass er mehrfach überholt worden war, aber konnte sich nicht daran erinnern, dass ein bestimmtes Auto ihm über eine längere Strecke gefolgt sei.

Acht oder neun Minuten nach der Abfahrt hatte sie plötzlich zu sprechen begonnen: »Wer sind Sie?«

Vor Schreck hätte er beinahe das Lenkrad verrissen. Sie hatte den Kopf zu ihm gedreht und betrachtete ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal, nicht ängstlich oder entsetzt, sondern völlig verwirrt, erstaunt, als sei sie aus einem tiefen Schlaf aufgewacht und wisse nun überhaupt nicht, wo sie sich befinde.

»Ich heiße Arno Jödel«, antwortete er hastig.

Darauf blinzelte sie; seine Worte hatte sie gehört, auch verstanden, dessen war sich Jödel sicher, aber damit war für sie die Situation nicht erklärt.

»Und wer sind Sie?«, hatte er gefragt.

»Wer ich ...« Danach war sie verstummt und hatte wieder unbeweglich nach vorn geschaut. Die maskenhafte Starre war gewichen, jetzt sah sie völlig hilflos aus. Nach dreißig Sekunden sagte sie mit dünner Stimme: »Das weiß ich nicht.«

Jödel zweifelte, wie er zu Protokoll gab, keinen Moment daran, dass sie die Wahrheit sagte. Sie wusste nicht, wer sie war, er verstand zwar nicht, wie einem Menschen das passieren konnte, aber er war überzeugt, dass sie nicht log. Damit stand für ihn fest, was er tun musste.

»Ich bringe Sie zur Polizei«, erklärte er fest und nach einer Weile echote sie unsicher: »Zur Polizei, ja.«

Auch bei mehrmaligem Nachfassen beharrte Jödel darauf, dass sie danach keine Fragen mehr gestellt habe. Zwar sei sie jetzt voll bei Bewusstsein gewesen - oder aufgewacht, wie er es umschrieb —, aber sie wollte weder wissen, wo er sie aufgelesen hatte, noch, was mit ihrer Kleidung geschehen war.

Um 0.16 Uhr am 16. September erschien Jödel mit ihr im Autobahnpolizeiposten Terborn Nord.

Rogge lehnte sich zurück und gähnte. Ob Simon wirklich hoffte, mit diesen kümmerlichen Anhaltspunkten ließe sich der Fall jetzt noch, ziemlich genau zwölf Monate später, aufklären? Oder hatte Simon ihm nur eine Möglichkeit bieten wollen, sich für einige Zeit aus dem Routinebetrieb des Ersten Kommissariats zurückzuziehen, allein und unbeobachtet zu recherchieren, ohne ständig die heimlichen Blicke der Kollegen zu spüren, die sich besorgt oder auch hämisch fragten, ob Rogge es schaffte, sich wieder in die Mannschaft einzugliedern, ob er noch einmal über den Berg käme.