Lebensbilder aus dem Bistum Mainz

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Lebensbilder aus dem Bistum Mainz
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Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz

Lebensbilder aus dem Bistum Mainz

Erster Band

LEBENSBILDER AUS DEM BISTUM MAINZ

Band I: Elf Porträts

herausgegeben von

Claus Arnold und Christoph Nebgen

Mit Beiträgen von

Claus Arnold, Thomas Berger, Helmut Hinkel, Burkard Keilmann, Michael Kläger, Christoph Nebgen, Martina Rommel, Uwe Scharfenecker, Francesco Tacchi und Peter Walter

Publikationen Bistum Mainz in Kooperation mit dem Echter Verlag

Mainz · Würzburg 2016

Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz

Beiträge zur Zeit- und Kulturgeschichte der Diözese 2015

herausgegeben von Barbara Nichtweiß

Umschlagmotive: Kaspar Riffel (wie S. 66), Ida Hahn-Hahn (wie S. 110), Br. Raphael Tijhuis (wie S. 210), Wilhelm Kastell (wie S. 195)

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet abrufbar unter: <http://dnb.ddb.de>

ISSN 1432-3389

ISBN 978-3-934450-64-6 (Print, Bistum Mainz)

ISBN 978-3-429-03972-1 (Print, Echter Verlag)

ISBN 978-3-429-06294-1 (e-book ePub, Echter Verlag)


© Publikationen Bistum Mainz 2016


Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung von Verlag und Bischöflichem Ordinariat Mainz ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem oder elektronischem Wege zu vervielfältigen oder zu publizieren.

Satz: Gabriela Hart

Umschlag: Barbara Nichtweiß

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Claus Arnold, Christoph Nebgen

Vorwort

Uwe Scharfenecker

Johann Baptist Lüft (1801–1870)

Bedeutender Gießener Theologe und prägende Gestalt des Darmstädter Katholizismus

Thomas Berger

Adam Franz Lennig (1803–1866)

Ein moderner Organisator einer konservativ ausgerichteten Kirche

Thomas Berger

Kaspar Riffel (1807–1856)

Ein streitbarer Kirchenhistoriker und engagierter Vertreter der katholischen Bewegung in Mainz

Peter Walter

Johann Baptist Heinrich (1816–1891)

Ultramontaner Theologe und Kirchenführer

Helmut Hinkel

Ida Gräfin Hahn-Hahn (1805–1880)

Schriftstellerin, Konvertitin, Klostergründerin

Burkard Keilmann

Nikolaus Reuß (1809–1890)

Pfarrer an St. Martin in Worms - Brückenbauer zwischen Kirche und Kommune

Claus Arnold

Dr. Friedrich Elz (1848–1915)

Germaniker, Gründer des KKV und Dekan in Darmstadt

Francesco Tacchi

Carl Forschner (1853–1918)

Pfarrer zu Sankt Quintin, Diözesanpräses des Verbandes der Männer- und Arbeitervereine

Michael Kläger

Wilhelm Kastell (1879–1958)

Generalvikar und Domdekan

Martina Rommel

Br. Raphael Tijhuis (1913–1981)

Karmelit und Bekenner

Christoph Nebgen

Rektor Ernst Plum (1915–1963)

Priester und Pädagoge

Thomas Berger

Chronologie der Mainzer Bistumsgeschichte im 19. Jahrhundert

Nachweis der Abbildungen

Personenregister

Die Autoren

Vorwort

Die Geschichte eines Bistums ist gewiss auch die Geschichte seiner Bischöfe. Doch erschöpft sie sich natürlich nicht darin. Die neue Reihe der „Lebensbilder aus dem Bistum Mainz“ will nach und nach die Weite und Tiefe christlichen Lebens im Bistum Mainz erschließen, indem sie bewusst auf die Gestalten „in der zweiten Reihe“ blickt, die das Bistum im 19. und 20. Jahrhundert mitgeprägt haben und mit ihren Namen exemplarisch für wichtige Themen stehen. In diesem ersten Band überwiegen dabei deutlich die Theologen und Priester, dazwischen ist mit der Schriftstellerin und Klostergründerin Ida Gräfin Hahn-Hahn wenigstens eine Frau „eingeschmuggelt“. In den folgenden Bänden der Reihe sollen ihr noch viele andere folgen, so etwa die Zentrumspolikerin Elisabeth Hattemer, die Ordensfrau und Lehrerin Hedwig Fritzen CJ oder die Laientheologin Anita Röper. Doch haben ja auch die Theologen und Priester ihr Recht, zumal in einem Band, der Karl Kardinal Lehmann, dem Theologen auf dem Mainzer Bischofsstuhl, zu seinem 80. Geburtstag gewidmet ist. Der Band ist Zeichen des Dankes für seinen Dienst für das Bistum und insbesondere für seine stete Förderung der Erschließung der Diözesangeschichte. Zu dieser hat er ja auch selbst in zahlreichen Veröffentlichungen, Predigten und Nachrufen einen kaum zu überschätzenden Beitrag geleistet.

Da das Bistum Mainz als einzige Gebietskörperschaft bis heute noch die Grenzen des Großherzogtums Hessen(-Darmstadt) nachbildet, sind die Lebensbilder quasi automatisch ein Beitrag zum Rheinhessen-Jubiläum, bei dem es ja neben dem guten Wein auch um die interessante Geschichte dieser Landschaft geht, die 1816 staatlich „hessisch“ und in der Folge auch kirchlich „mainzisch“ Teil des neuen hessendarmstädtischen Landesbistums Mainz wurde. Geographisch erfasst der vorliegende Band entsprechend neben dem unvermeidlichen Mainzer Schwerpunkt auch Worms, Gießen und nicht zuletzt Darmstadt.

Was bietet der Band thematisch? Nichts weniger als einen biographisch-exemplarischen Durchgang durch die Bistumsgeschichte vor allem des langen 19. Jahrhunderts (zu dem Thomas Berger dankenswerterweise auch die Chronologie im Anhang beigesteuert hat), verbunden mit interessanten Schlaglichtern auf das 20. Jahrhundert: Dem früheren Theologieprofessor Karl Lehmann begegnen in diesem Band zunächst drei interessante Kollegen, die für den kirchlich-theologischen Mentalitätswandel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert stehen: zunächst der Liturgiewissenschaftler Johann Baptist Lüft, der noch eher dem irenischen Geist der katholischen Aufklärung verbunden war, dann der Kirchenhistoriker Kaspar Riffel, ein ultramontaner „Heißsporn“, und schließlich der Dogmatiker Johann Baptist Heinrich, der wesentlich zur neuscholastischen Prägung der Mainzer Theologie beigetragen hat. Zusammen mit Domdekan Adam Franz Lennig stehen Riffel und Heinrich auch programmatisch für die strengkirchliche Mobilisierung des Bistums Mainz nach der Revolution von 1848. Sie gehörten zu dem Kreis um Bischof Ketteler, der auch die Konvertitin Ida Gräfin Hahn-Hahn nach Mainz zog. Diese schrieb nicht nur ungemein erfolgreiche Romane für das sich bildende katholische Milieu, sondern steht durch ihre Klostergründung auch stellvertretend für die weiblichen Kongregationen, die seit dem 19. Jahrhundert im sozial-karitativen und erzieherischen Bereich Großes für die Menschen im Bistum geleistet und einen regelrechten „Catholicisme au féminin“ (Claude Langlois) ausgebildet haben.

Die drei folgenden Lebensbilder führen hinein in die pastorale „Mikrohistorie“ der Zeit unter und vor allem nach Bischof Ketteler, die von der Forschung bisher weniger wahrgenommen worden ist. Der Fall des Wormser Pfarrers Nikolaus Reuß zeigt unter anderem, welch prekärer Ausgleich hier konkret vor Ort unter den Bedingungen konfessionell-gesellschaftlicher Polarisierung jeweils neu zu suchen war. Die Pfarrer Friedrich Elz und Carl Forschner sind Musterbeispiele für den Aufbau eines „katholischen Milieus“, der sich während und nach dem Kulturkampf verstärkt vollzog. Elz stand dabei an der Wiege eines katholischen Verbandes von reichsweiter Bedeutung (des KKV), trug aber auch entscheidend zum Ausbau des Darmstädter Katholizismus in neuen katholischen Vereinen, in neuen Pfarreien und nicht zuletzt in dessen römisch-liturgischer Durchformung bei. Carl Forschner benutzte ebenfalls vor allem das Mittel des Vereins zur Intensivierung der Pfarrseelsorge in Mainz, aber auch zum weltanschaulichen Kampf gegen die in seinen Augen atheistische Sozialdemokratie im ganzen Bistum. In diesen drei Lebensbildern entsteht damit eine interessante Binnensicht auf den pastoralen Ausbau des Bistums bis hin zum Ersten Weltkrieg.

Der Schwerpunkt dieses Bandes liegt damit auf dem 19. Jahrhundert, doch auch das 20. Jahrhundert bis hin zum II. Vaticanum wird mit drei Schlaglichtern ausgeleuchtet: Mit dem Lebensbild von Wilhelm Kastell wird zum einen die Geschichte des Darmstädter Katholizismus exemplarisch für die Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus weitergeführt, zum anderen hatte Kastell ab 1945 als Generalvikar von Bischof Stohr besonderen Anteil am mühsamen Wiederaufbau im Bistum. Mit Br. Raphael Tijhuis Ocarm ist ein Ordensmann aus den Niederlanden im Band vertreten, der in Mainz wirkte und sich als Glaubenszeuge in der Zeit der Gewaltherrschaft bewährt hat. Mit dem Priester und Pädagogen Ernst Plum tritt abschließend eine Gestalt vor Augen, die sich in besonderer Weise der Bildungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg angenommen hat.

Die „Lebensbilder aus dem Bistum Mainz“ wollen nicht nur christliche Persönlichkeiten würdigen und die innere Vielfalt der Bistumsgeschichte verdeutlichen, sondern auch übergreifende Themen identifizieren, welche die Einzelbiographien durchziehen und sich für die weitere Forschung anbieten. Neben dem schon angesprochenen Thema der katholischen Mobilisierung und Milieubildung führt hier eine besonders lohnenswerte Fährte nach Frankreich. Die inneren Zusammenhänge und Abhängigkeiten von Entwicklungen im französischen Katholizismus und dem Denken und Agieren prägender Gestalten der Mainzer Bistumsgeschichte ergaben sich nicht nur aus dem Erbe Bischof Colmars und der Ausbildungstätigkeit elsässischer Geistlicher am Mainzer Priesterseminar zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Diesen bestimmenden Einfluss französischer Reformtheologie kann man etwa aus dem Lebensbild Kaspar Riffels deutlich herauslesen. Auch Adam Franz Lennigs Studienaufenthalt in Paris 1824/27 und sein in dieser Zeit geknüpfter unmittelbarer Kontakt zu Hugo Félicité Robert de Lamennais und dem Grafen Charles René Montalembert stehen für derartige innere theologische Zusammenhänge. Darüber hinaus zeigt ein Blick in die vorgestellten Lebensbilder, dass in der Folgezeit weitere französische Initiativen zeitnahe „Übersetzung“ in Mainz fanden, welche beispielsweise die Organisationsform des Katholizismus betrafen: So orientierte sich Ida Hahn-Hahns Mainzer Klostergründung am Beispiel der hl. Maria Euphrasia Pelletier und eines im französischen Kontext entstandenen neuen Ordenscharismas, das strenge weibliche Klausur mit „karitativer Öffnung zur Welt“ (H. Hinkel) kombinierte. Johann Baptist Heinrich übertrug nicht nur die Werke französischsprachiger Autoren wie Victor Auguste Dechamps und Prosper Guéranger ins Deutsche, er „reimportierte“ im Auftrag Bischof Kettelers auch die Ideen zu einem kommunitär gestalteten Leben der Weltpriester, die Bartholomäus Holzhauser Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelt hatte und die in Frankreich mittels einer Lebensbeschreibung Holzhausers durch den Generalvikar von Orléans, Jean Pierre Laurent Gaduel, eine Renaissance erlebt hatten. Das „Praktikum“, das Ernst Plum schließlich 1958 in Lyon absolvierte, stand unter ähnlichen Vorzeichen: Inwieweit konnten in Frankreich entwickelte Modelle von an den gesellschaftlichen Wandel angepasster Pastoral und priesterlicher Lebensform (konkret das Phänomen der Arbeiterpriester und die Priestergemeinschaft des Prado) zukünftig gewinnbringend in die Mainzer Verhältnisse überführt werden? Diese theologischen, kulturellen und pastoral-praktischen transnationalen Beziehungen, die sich am Mainzer Beispiel so eindrücklich zeigen, verdienten sicherlich eine eingehendere Betrachtung.

 

Dass ein Buchprojekt wie die „Lebensbilder“ relativ rasch realisiert werden konnte, ist in erster Linie der prinzipiellen Bereitschaft, dem nimmermüden Engagement und der großen Geduld der beteiligten Autoren geschuldet. Sie stellten ihre Expertise und vor allem ihre Zeit zur Verfügung, um jeweils ein möglichst quellennahes und detailreiches Portait vorzustellen. Ihnen soll in erster Linie der Dank der Herausgeber gelten. Engagiert und interessiert beteiligt waren aber noch zahlreiche weitere Personen: Der für die meisten der in diesem Band vereinigten Aufsätze nötige Einblick in das vorhandene Quellenmaterial wurde durch die Verantwortlichen – genannt seien vor allem der Direktor des Dom- und Diözesanarchivs Dr. Hermann-Josef Braun und seine Mitarbeiter sowie der Generalvikar des Bistums Mainz, Prälat Dietmar Giebelmann – völlig unkompliziert und mit tatkräftiger Unterstützung gewährt. Namentlich ungenannt müssen viele weitere Personen bleiben, die auf die unterschiedlichste Art und Weise dabei halfen, quellenmäßige Hinweise und teilweise noch erhebbare persönliche Erinnerungen an die vorgestellten Menschen zu sammeln. Auch diese Vernetzung ist ein positiver (Neben-)Effekt der „Lebensbilder“. Ute Blankenheim M.A. hat den Band mit großer Akribie Korrektur gelesen. Dass der Leser nunmehr auch ein buchhandwerklich gut gearbeitetes Exemplar in Händen halten darf, ist der aufmerksamen und erfahrenen Arbeit von Dr. Barbara Nichtweiß und Gabriela Hart zu verdanken. Aus dem gelieferten Rohmaterial aus Texten und Bildern ließen sie ein „richtiges Buch“ werden. Der Kooperation mit der Abteilung „Publikationen Bistum Mainz“ ist es auch zu verdanken, dass der erste Band der „Lebensbilder“ zugleich als „Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz“ erscheinen kann.

Ein herzliches Vergelt’s Gott ihnen allen.

Mainz, im Februar 2016

Claus Arnold und Christoph Nebgen

Institut für Mainzer Kirchengeschichte

Johann Baptist Lüft (1801–1870)

Bedeutender Gießener Theologe und prägende Gestalt des Darmstädter Katholizismus

Uwe Scharfenecker

Seine edlen Charaktereigenschaften, sein ausgezeichnetes Wissen, seine abgemessene Klugheit und seine kindliche Frömmigkeit sichern ihm ein treues Andenken auch in die fernsten Zeiten.1 Mit diesen überschwänglichen Worten pries Alfred Bang-Kaup 1957 das Wirken des Darmstädter Pfarrers Johann Baptist Lüft. Und als herausragender Theologe wurde er in den letzten Jahren wieder entdeckt, als Franz Kohlschein seine große Bedeutung für die „Wissenschaftsgeschichte der Liturgiewissenschaft“ ins Bewusstsein rief und den hohen Reflexionsgrad seiner „Liturgik“ rühmte2. So lohnt es sich, Lüft auf den verschiedenen Stationen seines Wirkens zu begleiten, um ihn als Professor, als Bischofskandidat, als Liturgiker und schließlich als Pfarrer kennen zu lernen.

Retter in der Not: Johann Baptist Lüft als Professor und Pfarrer in Gießen

Im Wintersemester 1830/31 wurde in Gießen, der Landesuniversität des Großherzogtums Hessen-Darmstadt, eine Katholisch-Theologische Fakultät eröffnet. Nachdem das Land im Gefolge der Napoleonischen Kriege einen erheblichen Gebietszuwachs zu verzeichnen hatte und dem zuvor fast rein evangelischen Territorium nun auch viele katholische Bewohner zugehörten, hatte sich Großherzog Ludwig II. (1777–1848, 1830 Großherzog) zu dieser Maßnahme entschlossen. Sie kam nicht von ungefähr, entsprach sie doch den Maximen, zu denen sich die südwestdeutschen Staaten bekannt hatten, die seit 1817 auf den Frankfurter Verhandlungen nach einer einheitlichen Lösung der Kirchenfrage suchten. Die Theologenausbildung hatte demnach an staatlichen Fakultäten und nicht an kirchlichen Seminaren zu erfolgen. Im Königreich Württemberg stand die Katholisch-Theologische Fakultät in Tübingen, im Großherzogtum Baden diejenige in Freiburg zur Verfügung. Nun wurde die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Gießen der Studienort für die hessen-darmstädtischen Theologen. Das Priesterseminar der Bischofsstadt Mainz, das bisher diesem Zweck gedient hatte, wurde auf die unmittelbare Vorbereitung der seelsorglichen Praxis beschränkt.


Lieber Pfarrer als Professor: Johann Baptist Lüft

Bei der Umsetzung der Fakultätspläne kam dem früheren Gießener Rechtsprofessor Justin Timotheus Balthasar Linde (1797–1870), der seit März 1829 als Referent für Kirchensachen im Darmstädter Innenministerium tätig war, eine entscheidende Bedeutung zu. Er war es auch, der nach Professoren für die Fakultät Ausschau hielt. Unterstützt wurde er hierbei vom Mainzer Bischof Josef Vitus Burg (1768–1833, 1829 Bischof von Mainz). Diesem gelang es, die Berufung von Vertretern eines extremen kirchlichen Liberalismus zu verhindern. Stattdessen konnte er dem aus Baden stammenden Pfarrer Johann Nepomuk Locherer (1773–1837) eine Professur verschaffen. Dazu kamen der Tübinger Repetent Franz Anton Staudenmaier (1800–1856) und der Bonner Privatdozent Johann Josef Müller (1803–1860). Locherer sollte die Kirchengeschichte, Müller die Exegese und Staudenmaier die Dogmatik übernehmen. In der Senatssitzung vom 27. November 1830 wurde die Fakultät feierlich eröffnet. Noch aber stand die Ernennung eines Moral- und Pastoraltheologen aus. Die unbesetzte Stelle führte fast dazu, dass die Studenten aus Nassau, die in Gießen Theologie studieren wollten, der Lahnstadt wieder den Rücken kehrten. Nachdem auf die Suche nach auswärtigen Kandidaten verzichtet worden war, entschloss man sich, die am meisten mit der pastoralen Praxis verbundene Professur mit der Stelle des Gießener Pfarrers zu verbinden. Ein geeigneter Kandidat fand sich im Mainzer Klerus: Johann Baptist Lüft.

Johann Baptist Lüft wurde am 30. März 1801 in Hechtsheim bei Mainz als Sohn des Tagelöhners Jakob Lüft und seiner Frau Klara Strohm geboren; er besuchte das Bischöfliche Gymnasium in Mainz und machte seine theologischen Studien am dortigen Priesterseminar. Dort erkannte man in ihm den künftigen guten Prediger; herausragende Bewertungen wurden ihm ansonsten allerdings nicht zuteil. Am 7. April 1824 wurde er in Speyer zum Priester geweiht und wirkte anschließend als Lehrer am Bischöflichen Gymnasium in Mainz, 1829 übernahm er die Moralprofessur am Mainzer Seminar und wurde in diesem Amt von Bischof Burg bestätigt. Lüft stammte also aus der sogenannten „Mainzer Schule“, die für eine römische Ausrichtung in Theologie und Disziplin bekannt war. Die Einrichtung der Gießener Fakultät stieß im Mainzer Seminar verständlicherweise auf Widerstand. Die Berufung Lüfts sollte den Gegnern der Fakultät wohl auch den Wind aus den Segeln nehmen.

Lüft reiste am 19. November 1830 nach Gießen ab. Bischof Burg drängte in Darmstadt auf seine rasche Ernennung zum Ordinarius, und schon am 30. November berief Großherzog Ludwig II. ihn zum vierten Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät, die damit komplett besetzt war. Die Fakultät promovierte ihn zum Doktor der Theologie, und wenige Tage später nahm er seine Vorlesungen auf. Da Lüft seine Professur zusätzlich zur Pfarrei versah, wurde ihm nur ein Gehalt von 300 fl. zugestanden. Beim Ausscheiden Johann Josef Müllers aus der Fakultät im folgenden Jahr konnte er auf die dritte Professur vorrücken und erhielt nun 400 fl. Jahresgehalt, eine Summe, die bei seinen geringen Bezügen als Pfarrer kaum zum Leben reichte.

Kurze Zeit nach seiner Ernennung schilderte Lüft dem Darmstädter Ministerialrat Linde, der wenige Jahre später Kanzler der Gießener Universität werden sollte, die Prämissen, unter denen er seine neue Stelle angetreten hatte. Leitmotiv waren für ihn die Anforderungen der Zeit. Um ihnen zu entsprechen, galt es die wissenschaftliche Darstellung der Religion und die wissenschaftliche Bildung des Trägers der Religion bestmöglichst zu steigern. Als zentrale Eigenschaften des Theologen nannte er Milde, Bescheidenheit und konfessionelle Toleranz. Die Zeit mit der Religion zu versöhnen, war sein höchstes Ziel. Allen andersgearteten Bestrebungen erteilte Lüft eine scharfe Absage, vor allem jenen, die das Christentum und die Kirche nur durch die Präskription zu rechtfertigen wissen, und die, während sie sich vom Elsass nach dem Rheine zu und vom Rheine nach Italien die Parole zurufen, den Ruf der Zeit selbst überhören3. Gemeint war der Mainzer Kreis. Ob diese deutliche Absage an die Schule, aus der er selbst stammte, ganz ernst gemeint war? Suchte Lüft seine Ernennung durch Bekenntnisse zu rechtfertigen, von denen er annehmen konnte, dass sie in Darmstadt auf positive Resonanz stießen? Das gute Zusammenwirken mit den Mainzern in späteren Jahren lässt einen solchen Schluss zu, wobei das Anliegen, eine vernunftgemäße Theologie zu treiben, die auf der Höhe der Zeit stand, Lüfts Wirken mindestens ebenso prägte.

Zu seinem Selbstverständnis als „Religionslehrer“ äußerte sich Lüft gegenüber Bischof Burg. Als zentrales Anliegen erscheint auch hier, das Zeitgemäße des christlichen Glaubens aufzuweisen. Obschon aus dem Mittelpunkte des Christentums heraus sprechend und handelnd, darf er [sc. der Theologieprofessor] doch hinwiederum den Ruf der Zeit nicht unbeachtet lassen. Neben der Wissenschaftlichkeit müssen sich Vorlesungen daher auch durch Brauchbarkeit fürs Leben auszeichnen4. Burg war überzeugt, dass Lüft diese Kriterien erfüllte. Anlässlich seiner Ernennung zum Dekan des Landkapitels Gießen sprach der Bischof von Lüfts Bescheidenheit und Menschenfreundlichkeit und lobte Rechtgläubigkeit, wissenschaftliche Gründlichkeit und unverdrossenen Fleiß5. Und er sollte sich nicht täuschen.

Lüft wurde zu einem der wichtigsten Mitarbeiter der von den Gießener Katholisch-Theologischen Fakultät herausgegebenen „Jahrbücher für Theologie und christliche Philosophie“. In seinen theologischen Grundpositionen war er sich mit seinen Kollegen Franz Anton Staudenmaier und Johann Evangelist Kuhn (1806–1887) einig. Der letztere hatte 1832 die früh verwaiste Exegeseprofessur übernommen; wie Staudenmaier kam er aus Tübingen. Lüft hielt Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre oder Moraltheologie, behandelte die Geschichte der Moral und las über Katechetik, Liturgik, Homiletik und Pastoral, auch Predigtübungen bot er an.

 

Daneben oblag ihm als Pfarrer die Beaufsichtigung der Studenten. In seiner Funktion als Bischöflicher Kommissar informierte er Burg über ihr sittliches Betragen und wirkte als Vertreter des Bischofs bei den Prüfungen mit. Zu Beginn und Ende eines jeden Semesters hatte er umfangreiche „Konduitenlisten“ (über wissenschaftlichen Fortschritt, Fleiß und Betragen der Studenten) zu verfassen und konnte im Auftrag des Bischofs die Nichtaufnahme ins Seminar androhen. Auch die Erlaubnis zum Besuch von Vorlesungen evangelischer Theologen lag in seiner Hand. Bereits vor der einvernehmlichen Regelung mit der Regierung hatte Bischof Burg den Gießener Pfarrer Lüft damit beauftragt, ihm regelmäßig Berichte über den wissenschaftlichen Fortschritt und das sittliche Verhalten der Gießener Theologen zu senden. Vorerst sollte Lüft seine Aufsichtspflicht vertraulich und nicht amtlich wahrnehmen, um jede Kollision mit den Aufsichtsorganen der Universität zu vermeiden6.

Lüfts Wirken als Pfarrer war von einer extremen Diasporasituation geprägt. Am „Vorabend“ der Stiftung der Fakultät waren außer den katholischen Studenten 236 Katholiken in Gießen anzutreffen. Die Zahl der Protestanten lag bei etwa 7000. Da es keine katholische Schule in Gießen gab, besuchten die Kinder die Stadtschulen, die meisten wurden auf Privatinstituten unterrichtet (19 von 25). Johann Baptist Lüft führte den Werktagsgottesdienst ein und wurde – nach Ausweis der Pfarrchronik – in der Gemeinde sehr geschätzt. Dort heißt es wörtlich: Die Errichtung der Fakultät und ein Mann wie Lüft an der Spitze der Pfarrei mussten zur Hebung des Ansehens derselben beitragen. Lüft war voll Eifer für seinen Beruf; er brachte die katholische Kanzel wieder zu Ehren, und sein bescheidener, frommer Sinn, sein wahrhaft priesterlicher Wandel gewannen ihm bald aller Herzen.7 Lüft konnte 1832 von 140 katholischen neben 270 evangelischen Studenten berichten. 1836 zählte Gießen 260 Katholiken, erst 1840 konnte eine eigene katholische Kirche geweiht werden. Doch zu diesem Zeitpunkt weilte Lüft schon fünf Jahre in Darmstadt.

Bereits 1833, als Gerüchte über eine Berufung des Darmstädter Pfarrers und Oberschulrats Peter Leopold Kaiser (1788–1848) ins Domkapitel nach Gießen drangen, bemühte sich Lüft um dessen Nachfolge. Er wollte sich zwar auch weiterhin der Wissenschaft widmen, hatte aber den heißen Wunsch, in einem mehr praktischen Wirkungskreis zu leben8. Während seiner ganzen Gießener Zeit sehnte er sich nach der kirchlich wärmeren Atmosphäre in Mainz zurück. Dies lag nicht nur daran, dass bei ihm, wie er sich selbst ausdrückte, das Herz vor dem Verstand kam9. Burgs Nachfolger Johann Jakob Humann (1771–1834) vertraute er seine Sicht der Fakultät an: Die kirchliche Richtung ist gut; ruhig, durchaus nicht polemisch oder neologisch. Jedoch scheint die religiöse Tendenz vor der kirchlichen in der theologischen Wissenschaft hier vorzuherrschen, und darin dünkt mir eine Hauptverschiedenheit zwischen der frühern theologischen Bildung in Mainz und der hiesigen gelegen zu sein.10 Seinen Kollegen gegenüber nannte Lüft vor allem die Doppelbelastung mit Pfarrei und Professur als Grund für seinen Wechsel nach Darmstadt11, dessen Pfarrer Peter Leopold Kaiser zum neuen Mainzer Bischof gewählt worden war. Am 28. April 1835 ernannte Großherzog Ludwig II. Johann Baptist Lüft zum geistlichen Mitglied und Rat im Oberschulrat, am 16. Juni erfolgte die Ernennung zum Darmstädter Pfarrer und kurze Zeit darauf zum Dekan des Dekanats Darmstadt; bereits am 9. Mai hatte sich Lüft – wegen Unwohlseins nur mit einer kurzen Notiz im Gießener Anzeigeblatt – von Gießen verabschiedet.

Dass damit seine Beziehungen zu Gießen nicht erloschen waren, zeigte sich bald. Immer wieder wirkte er als Mittelsmann der Regierung, wenn es um die Besetzung freier Professuren ging. Nach der Zwangspensionierung des Kirchenhistorikers Kaspar Riffel (1807–1856) geriet die Fakultät in schwere See. Da Riffel sich in seiner Reformationsgeschichte negativ über Martin Luther geäußert hatte, entstand der Eindruck, seine Entlassung stünde damit in Zusammenhang. Die Bistumsgeistlichkeit verschiedener Dekanate wandte sich entschieden gegen die Maßnahme. Während das Dekanat Mainz-Stadt nicht mit Angriffen auf die großherzogliche Regierung sparte, enthielt sich die von Lüft mit unterzeichnete und wohl auch verfasste Eingabe des Dekanats Darmstadt jeden Angriffes auf die Regierung – für den in der Hauptstadt wirkenden Klerus wenig überraschend. Anstelle der Pensionierung stand die Kritik an der Agitation gegen Riffels Buch im Mittelpunkt. Allerdings zog Lüft ähnliche Konsequenzen wie die Mainzer, auch seines Erachtens hatte die Priesterbildung im Zentrum des Bistums stattzufinden. Mit dem bischöflichen Aufsichtsrecht über das Theologiestudium ließ sich am Regierungssitz schlecht argumentieren, stattdessen verwies die Darmstädter Geistlichkeit auf die weite Entfernung Gießens von den Provinzen Rheinhessen und Starkenburg, aus denen fast alle Theologen stammten, und auf das fehlende katholische Umland.12 Begegnet uns Lüft hier als Verfasser einer Eingabe an den Bischöflichen Stuhl zu Mainz, so schien es bald, er selbst werde die Mainzer Kathedra besteigen.

Graue Eminenz statt Exzellenz: Johann Baptist Lüft als Kandidat für den Mainzer Bischofsstuhl

Am 30. Dezember 1848 starb der Mainzer Bischof Peter Leopold Kaiser. Bald nach seinem Tod wurden in der Öffentlichkeit mögliche Kandidaten für die Nachfolge gehandelt: der Berliner Stiftspropst Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877), der Mainzer Domkapitular Adam Franz Lennig (1803–1866) und eben Johann Baptist Lüft. Während Ketteler als Landesfremder zunächst in den Hintergrund trat, betrachtete der Münchner Internuntius Carlo Sacconi (1808–1889) Lennig und Lüft als due eccellenti ecclesiastici13. Ein Artikel in der „Darmstädter Zeitung“ favorisierte Lüft, der mit ausgezeichneter wissenschaftlicher Bildung und bewährter Geschäftskenntnis einen höchst ehrenwerten Charakter verbindet14. Auch im „Frankfurter Journal“ war zunächst nur von Lüft die Rede. Kaiser werde als Nachfolger vermutlich einen hochgeachteten katholischen Pfarrer in Darmstadt, einen geborenen Rheinhessen erhalten, der durch umfassende Bildung, wahre Frömmigkeit und liebenswürdigen und humanen Charakter gleich ausgezeichnet sein soll15. Ähnlich ließ sich die „Frankfurter Oberpostamtszeitung“ vernehmen. Lüft werde an dem Wesen und an den Satzungen des reinen Katholizismus festhalten, doch ebenso keine konfessionellen Friedensstörungen veranlassen. Dafür bürge sein streng kluges Verhalten in seiner gegenwärtigen Stellung16.

Lüft sollte nach dem Willen der Regierung auch als Stellvertreter des Bischofs in der Ersten Kammer wirken. Doch Lüft verweigerte sich. Die Regierung berief den Gießener Dogmatiker Leopold Schmid (1808–1869), der damit automatisch als Bischofskandidat ins Gespräch kam. Auf der Kandidatenliste, die das Mainzer Kapitel am 20. Januar 1849 aufstellte, standen die Namen der Domkapitulare selbst sowie Lüft und Schmid.

Der Mainzer Kreis sprach sich entschieden für Lennig aus. Fähig, würdig und berufen, Bischof zu werden, meinte Johann Baptist Heinrich (1816–1891), sei nur Lennig – Lüft sei allzusehr verdarmstädtert. Immerhin, bei einem Bischof Lüft konnte Lennig auf Einfluss hoffen17.

Die Darmstädter Regierung legte sich große Zurückhaltung auf und verzichtete auf die Benennung eines Wunschkandidaten, wie noch bei der Bischofswahl im Jahre 1833 geschehen. Umso größer war die Überraschung, als aus der Wahl am 22. Februar 1849 Leopold Schmid als Mainzer Bischof hervorging. Im Mainzer Kreis herrschte helles Entsetzen; doch begann man schon bald mit Maßnahmen, um die Bestätigung der Wahl zu verhindern.

Als Pfarrer der Residenzstadt Darmstadt, als Bischofskandidat und als Freund des Mainzer Kreises spielte Johann Baptist Lüft dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dass er selbst keinerlei Interesse an der Mitra hatte, verschwieg er nicht. Sein Kandidat war Adam Franz Lennig. Am 28. Januar 1849 teilte er diesem brisante Neuigkeiten aus Darmstadt mit. Lüft hatte gehört, die Regierung werde versuchen, die Wahl zu beeinflussen. Bereits zwei Tage später konnte er Entwarnung geben; er hatte in Erfahrung gebracht, dass das Ministerium sich überhaupt nicht in die Wahl einzumischen gedenke. Er informierte Lennig, dass er das Ansinnen der Regierung, ihn als Vertreter des Bischofs in der Ersten Kammer der Landstände zu gewinnen, abgelehnt habe, weil damit das Odium des künftigen Bischofs verbunden war.18 Wer kam außer Lennig als ernsthafter Kandidat in Frage? Schmid hatte in den Augen Lüfts keine Chance, der Klerus sei die Einschmuckelung und Herrschaft von Fremden endlich müde; der in der Schweiz geborene Schmid entspreche auch nicht den Anforderungen der Landesherrlichen Verordnung vom 30. Januar 1830, die forderte, der Bischof müsse ein Deutscher von Geburt sein19. Über den Ausgang der Wahl war Lüft indigniert. Pfui der Schande!, schrieb er Lennig, bei so vielen Fähigen in gremio habe das Kapitel einen Fremden und dazu noch diesen versteckten Schwaben gewählt. Bei allem Ärger über die Wahl Schmids, Lüft konnte nach wie vor versichern, dass die Regierung keine Schuld traf. Der landesherrliche Wahlkommissar hatte die Instruktion, auch gar keinen Einfluß zu üben. Lüft kannte ihn als Ehrenmann, der die Aufgabe unter anderen Voraussetzungen ohnehin nicht übernommen hätte20. Lüft riet Lennig, die Argumentation gegen Schmid auf vier Punkte aufzubauen: 1. Schmids Unfähigkeit, den Zwiespalt im Klerus zu überwinden, 2. das Eintreten der „Fortschrittspartei“ für Schmid, 3. der Wunsch nach einem Bischof, der aus der Diözese stammt, 4. die Ablehnung anderer Kandidaten (sc. Lennig) wegen ihrer katholischen Gesinnung.21