Lebensbilder aus dem Bistum Mainz

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Im Herbst 1849 übermittelte er neue Informationen zur Haltung der Regierung und bezeichnete die Hofpartei für weniger gefährlich als die Wahlherren. Im Kapitel sah er diejenigen, die voll Leidenschaft und Verbitterung für Schmid agierten. Im Falle einer Ablehnung Schmids durch den Papst rechnete man in Darmstadt damit, das Kapitel werde Staudenmaier zum Bischof wählen. Doch der kann in den Augen Lüfts noch weniger als Schmid bestätigt werden22. Die Schreiben Lüfts machen deutlich, dass Lennig über die wahre Haltung der Regierung informiert war; seine Klagen über eine Beeinflussung der Wahl fußten somit allein auf grundsätzlichen Bedenken und waren von der Sache her unbegründet. Jedenfalls gelang es dem Mainzer Kreis die Verwerfung der Wahl Schmids durch den Papst zu erreichen. Das Kapitel verzichtete auf eine erneute Wahl, legte dem Papst eine Dreierliste mit den Namen des Breslauer Domherrn Heinrich Förster (1799–1881), des Rottenburger Domkapitulars Anton Oehler (1810–1879) und Wilhelm Emmanuel von Kettelers vor, der dann 1850 ernannt wurde. Schon im folgenden Jahr eröffnete er die Theologische Lehranstalt am Mainzer Seminar und sorgte so für den Untergang der Gießener Katholisch-Theologischen Fakultät. Wir wissen nicht, wie Lüft sich dazu stellte. Dass Lüfts theologisches Denken den Gießener Jahren viel zu verdanken hatte, ist nicht zu bestreiten. Der Austausch mit Lüft war aber auch für Staudenmaier und Kuhn, die zu bedeutendsten Theologen der Zeit zählten, ausgesprochen fruchtbar. Werfen wir daher einen Blick auf Lüfts theologisches Oeuvre.

Theologe von Ruf: Johann Baptist Lüft als Liturgiker

Wie Staudenmaier gehörte auch Lüft zu den Mitarbeitern der „Kirchenzeitung für das katholische Deutschland“. Hier veröffentlichte er 1832 einen Aufsatz zur Homiletik.23 In einer grundlegenden Analyse des Predigtwesens seiner Zeit konstatierte Lüft drei Bedürfnisse der Kanzelberedsamkeit:

1. Die Predigt bedarf wieder mehr echt christlicher Inhalte, muss von mehr religiöser Wärme und Innigkeit getragen und durchdrungen sein24; an die Stelle seichter Verstandesaufklärung und kalter Deisterei muss die christliche Wahrheit in ihrer Fülle treten25. Lüft trat für einen warmreligiösen Charakter der Verkündigung ein26. Hochschule und Priesterseminar hätten die Kandidaten entsprechend zu bilden27.

2. Wir hören auf unsern Kanzeln allzuwenig die Homilien.28 Da das Göttliche im Christentum historisch gegeben ist, ist eine Orientierung an der Heiligen Schrift unerlässlich. Mit der Quelle der Offenbarung werden die Christen die Offenbarung selbst liebgewinnen29. Voraussetzung dafür ist eine Exegese, die die geistig-praktische Seite nicht vernachlässigt30.

3. An die Stelle einer allzu objektiven, abstrakten Allgemeinheit hat eine Predigt zu treten, in der das wirkliche Leben der Hörer zum Zug kommt, konkrete Themen behandelt werden31.

Lüft wandte sich gegen eine Einschränkung des Seelsorgers auf den Morallehrer und gegen eine rein vernunftorientierte Predigt, das nur Gemütvolle lehnte er ebenso ab. Hielt er mit der Ausrichtung an der Heiligen Schrift eine zentrale Forderung der Aufklärung aufrecht, so beklagte er doch die Vernachlässigung der Glaubensinhalte. Wenig später betonte Lüft, dass jetzt bei der Restauration des christlichen Sinnes und Lebens oder bei dem Streben, beides festzuhalten und tiefer zu begründen, die frühere bei weitem noch nicht ganz verklungene Weise unsers Predigtwesens nicht mehr befriedigen könne und dass über den Prediger unsrer Tage aufs neue jene frische Glut urchristlicher Begeisterung kommen müsse, um dem Göttlichen seine Herrschaft wieder zu erringen oder zu behaupten, um den Genius des Christentums und der Menschheit wieder zu versöhnen und den Leib Christi, der durch den Leichtsinn und die Unbilden der Zeit vielfach verunstaltet worden, wieder neu und lebendig aufzubauen32.

Einen ähnlich grundlegenden Aufsatz wie zur Homiletik lieferte Lüft für die Liturgik. In seinen „Prinzipien über Cultus und Liturgie“33 fordert er eine theoretische Verankerung der Liturgie, zumal den in der Praxis vollzogenen liturgischen Reformen keine grundsätzlichen Überlegungen vorausgingen und auch die Reformgegner sich solcher enthielten34. Den Begriff des Cultus bestimmt er als Vereinigung des Menschen mit Gott und dem Göttlichen, vermittelt durch entsprechende Zeichen35. Dem Kultus kommt ein latreutischer, ein kirchlicher, ein ethischer und ein sakramentalischer Zweck zu36. Als eigentliches Tätigkeitselement des Cultus sieht Lüft das Gefühl an, das die Kultformen bestimmt37, die aber ebenso der dogmatischen Wahrheit entsprechen müssen; dabei fordert Lüft, die fromme Volksmeinung nicht zu vernachlässigen38. Der Liturge muss vom Geist der Religion und Andacht ergriffen sein.39 Auch in seinen liturgiewissenschaftlichen Prinzipien verweigerte sich Lüft bloßer Rationalität und mühte sich um eine ganzheitliche Ausrichtung. Vergleichbare Überlegungen bot er in seiner Rezension der „Liturgik der christkatholischen Religion“ von Franz Xaver Schmid (1800–1871), deren fehlende wissenschaftliche Grundlegung er bemängelte. Lüft betonte das Verdienst der neuern Zeit, das darin lag, zu dem alten archäologischen Stoffe Seele und Gemüt hinzuzubringen, in demselben den Geist und die christlichen Ideen aufzusuchen, den Cultus als die eigentliche plastische Poesie des religiösen und christlichen Lebens zu begründen40. Den Cultus nur von Seiten seines moralischen Nutzens aufzufassen, blieb in seinen Augen eine unsachgemäße Reduktion auf einen der vielen Zwecke41. „Kirchlichkeit“ wird als entschiedenes Anliegen des Gießener Professors fassbar – und Wissenschaftlichkeit. Mit seiner in den vierziger Jahren erschienenen „Liturgik“ löste Lüft schließlich selbst die Forderung nach einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Liturgie ein.

Nach der Beschäftigung mit der Pastoraltheologie wandte sich Lüft dem zweiten Fach zu, das er in Gießen zu vertreten hatte, und veröffentlichte den Aufsatz „Über Konstruktion und Behandlung der theologischen Moral“42. Lüft erstrebte die Befreiung der Moraltheologie aus dem Formalismus und ihre Umbildung nach einer reinern und christlich-eigentümlichern Idee43. Auf einem Gang durch die Geschichte der Moral anerkannte Lüft zwar, dass Kant in Einzelnem um die Sittenlehre große Verdienste hat, tadelte aber die absolute Trennung der Moral von der Religion als eines der wesentlichsten und einflußreichsten Gebrechen der Kantischen Sittenlehre44. Auch hier wehrte sich Lüft gegen rationalistische Verengungen. Versuche, die Moral nur anthropologisch zu fundieren, galten Lüft als misslungen; der menschliche Geist erscheine dabei oft wie ein Automat, während der Verstand den allherrschenden Spiritus rector machte45. Die innere, organische Einigung des Sittlichen mit dem Religiösen machte Lüft zur Grundlage seiner Moraltheologie46. Die Idee der sittlichen Selbstvervollkommnung gewinnt Gestalt nicht im bloßen Entsprechen der menschlichen Natur, sondern im Über-sie-Hinausstreben. Die Heilige Schrift, die Glaubenslehre und das Leben Jesu liefern dazu die sittlichen Bestimmungsgründe und Triebfedern. Lüfts christlich-sittliches Prinzip lautete daher: Strebe, zur Erreichung deiner eigenen Bestimmung (deiner Verähnlichung mit Gott oder der eigentümlichen Entwickelung und Vervollkommnung deines Geistes) den göttlichen Willen, wie derselbe in der Lehre und dem Leben Christi geoffenbart ist, aus freier Liebe und nach deinem ganzen Kraftmaße zu erfüllen.47 Einer bloßen Ableitung der Moral aus der Dogmatik erteilte Lüft eine Absage; er konzipierte das Verhältnis in einem Dreischritt: Die Moral macht die gläubige Aufnahme der religiösen Wahrheit zur Pflicht, nach ihrer Rezeption kann die spezielle Ethik ausgebildet werden48. Lüft verstand die Zeit, in der er lebte, als Phase des Umbruchs. Die Orientierung an der christlichen Botschaft war dabei der einzige Weg, um eine Neuordnung zu erreichen. Soll unsere Generation noch einmal zu einem tiefern und geheiligtern Leben erwachen, soll Gott im Leben der Menschheit wieder Raum und das kirchliche wie Staatsleben wieder tiefern Gehalt und festere Basis gewinnen, so müssen vor allem Kirche und Staat wieder in ihren Wurzeln und tiefern Grundlagen gesunden und stark werden, das heißt, der Genius des Christentums muß wieder das eheliche und Familienleben (und die christliche Erziehung) begeistern, durchdringen und heiligen.49

In seiner Darmstädter Zeit erschien Lüfts wissenschaftliches Hauptwerk, die ersten beiden und leider einzigen Bände seiner „Liturgik oder wissenschaftliche Darstellung des katholischen Kultus“50, in denen die allgemeine Liturgik behandelt wurde. An der Bearbeitung weiterer Bände, die der speziellen Liturgik gewidmet sein sollten, scheint Lüft durch seine pastoralen Aufgaben gehindert worden zu sein. Dem Werk wurde eine bahnbrechende Wirkung beigemessen. Lüft war der erste, welcher der Liturgik ein streng wissenschaftliches Gepräge gab.51 Das Werk fußte auf Lüfts Gießener Vorlesungen52. Dabei mühte er sich um eine heilsgeschichtliche Grundlegung des Kultus. Der Grundgedanke des christlichen Glaubens und Lebens ist die Erlösung durch Christus53. Anteil an der Erlösung gewinnt der Mensch durch seine Lebensgemeinschaft mit Christus, vornehmlich in der Feier der Eucharistie. Das erlösende Tun Christi wird von der Kirche fortgesetzt, in ihr empfangen alle die Mitteilung des in Christus ruhenden göttlichen Lebens54. Die Kirche ist eigentlich der durch alle Zeiten erscheinende, fort und fort erlösende Christus selbst55. Lüft definiert den Kultus als die Gesamtheit der heiligen Handlungen und Formen, durch welche das religiöse Verhältnis einer Gemeinschaft oder ihrer einzelnen Glieder zur Gottheit und der Gottheit zur Gemeinde unmittelbar dargestellt und vermittelt wird56. Die Priester sah Lüft dabei als wirkliche Träger und Leiter des Lichtes und der Gnade, wirkliche Mittler zwischen Gott und den Menschen57, zwar gebe es eine Unterscheidung zwischen Priestertum und Volk, doch beide bestehen neben einander als eine organische, sich gegenseitig bedingende und durchdringende Einheit. Die Gemeinde wird ausdrücklich als Mitgestalterin der Liturgie genannt. Er anerkennt den Wert der in der Aufklärungszeit entstandenen deutschen Volksliturgien, beklagt aber den kalt dozierenden, flach moralisierenden Geschmack vieler Schöpfungen dieser Zeit58. Den Verlust des Chorals, der nur noch in den Kathedralen anzutreffen sei, beklagt er59. Als Ministranten wünscht er sich Kleriker oder gebildete Laien; denn die oft ganz rohen Knaben aus der untersten Volksklasse störten seines Erachtens die Würde des Gottesdienstes durch das geräuschvolle, bauernhafte Auftreten, das dummstolze Sichgeltendmachen, das haltungslose Hin- und Herlaufen, die schleifenden und kratzenden Kniebeugen, den unordentlichen und verwahrlosten und nicht selten ganz geschmacklosen Anzug60. Die Predigt betrachtete er als wesentlichen Bestandteil des Gottesdienstes und sah ihren Platz unmittelbar im Anschluss an das Evangelium. Lüft lieferte eine Einleitung und eine Gliederung der Liturgik und leistete dabei Pionierarbeit. Wie schon in Gießen nannte er als Zweck des Gottesdienstes die Anbetung Gottes, die Erhaltung des christlichen Glaubens und Lebens und die Vereinigung mit Gott. Seine Konzeption erhob die Liturgik zweifellos zum Rang einer theologischen Disziplin im universitären Rahmen61.

 

Als 1844 der erste Band der Liturgik erschien, bezeichnete ihn Karl Josef Hefele (1809–1893) als entschieden das Beste, was im Fache dieser Disziplin bisher in Deutschland geschrieben worden ist62; Hefele freute sich, dass die praktische Theologie nicht länger der Tummelplatz der Unwissenschaftlichkeit und des Dünkels sein sollte63. Die „Liturgik“ bestimmte die Universität Prag, Lüft anlässlich ihrer fünfhundertjährigen Stiftungsfeier zum Ehrendoktor zu promovieren. Lüfts wissenschaftliche Reputation führte auch dazu, dass er des öfteren für eine Professur in Aussicht genommen wurde. Die Tübinger Fakultät verzichtete auf eine Anfrage wegen der Nachfolge Johann Baptist Hirschers (1788–1865) nur, weil man wusste, Lüft werde in Darmstadt bleiben.

Seine Werke wirken fort: Johann Baptist Lüft als Pfarrer von Darmstadt

Trotz allen Engagements in Forschung und Lehre hatte sich Lüft in Gießen nicht heimisch gefühlt. Bereits nach den ersten Semesterferien, die er in Mainz verbringen konnte, klärte er Bischof Burg darüber auf, dass es ihm in Gießen wenigstens in der ersten Zeit nicht sonderlich gefiel. Nach seiner Rückkehr brauchte er wieder einige Wochen, um sich in Gießen einzugewöhnen, wo das geistig-gemütliche Element so wenig Nahrung hat. Seine Schwierigkeiten führte Lüft auf seine psychische Struktur zurück: Ich glaube überhaupt, dass bei mir der Verstand seinen Sitz im Herzen hat.64 Als sich 1835 die Gelegenheit bot, Gießen zu verlassen, nutzte er sie. Bis zu seinem Tod wirkte er als Oberschulrat, Pfarrer und Dekan in Darmstadt. Die Pfarrchronik ermöglicht es, die wesentlichen Stationen von Lüfts Wirken zu rekonstruieren.

Eine wesentliche Rolle spielten dabei Unternehmungen, die zu einer besseren Ausstattung der Pfarrkirche St. Ludwig führen sollten. Für den Einbau eines Chores gelang es Lüft, finanzielle Hilfen durch das großherzogliche Haus zu erlangen. Als Anhänger von Neoromanik und -gotik konnte er dem klassizistischen Bau aber wenig abgewinnen und meinte, das Gebäude mache zwar einen schönen und großen, aber keinen frommen und kirchlichen Eindruck, und das fromme Gefühl ist durch die Bauweise beeinträchtigt65.

Schon zu Beginn seiner Amtszeit (1837) erreichte Lüft, dass ein katholisches Schulhaus errichtet wurde, und erhielt die Erlaubnis, an den höheren Schulen der Stadt katholischen Religionsunterricht zu erteilen. 1845 gelang die Gründung eines Kirchengesangvereins, 1854 folgte eine „Katholische höhere Töchterschule“. 1840 wurde die Fronleichnamsprozession eingeführt, die freilich auf den Kirchenraum von St. Ludwig beschränkt blieb; noch 1858 scheiterte der Versuch, sie ins Freie zu verlegen. Auf die Initiative Lüfts ging auch die 1859 erfolgte Berufung der Niederbronner Schwestern zurück. Zunächst gab es große Widerstände gegen die Errichtung eines Klosters im evangelisch geprägten Darmstadt. Aber bald erwarben sich die Schwestern allgemeine Sympathien. Sie wirkten in der ambulanten Krankenpflege und der Armenbetreuung, gründeten eine Handarbeitsschule und erlangten schon 1862 die Korporationsrechte. Im Zusammenwirken mit Großherzogin Mathilde (1813–1862), die in diesem Jahr starb und in ihrem Todesleiden von den Schwestern gepflegt wurde, war Lüft die rasche Integration der klösterlichen Gemeinde in das Darmstädter Gemeinwesen gelungen.

Schon zuvor hatte sich Lüft dem katholischen Vereinswesen angenommen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es einen Kirchenchor zu etablieren, 1857 folgten der katholische Gesellenverein und ein Paramentenverein, im folgenden Jahr der Armenverein, aus dem 1864 der Elisabethenverein hervorging. Bruderschaften wurden gegründet, ein christlicher Mütterverein ebenso.

Für die mehrheitlich evangelische Landeshauptstadt war Lüft der richtige Mann. In einer anonymen Schrift aus dem Jahr 1839 bekannte er: Es ist meine Sache nicht und nie gewesen, Unduldsamkeit zu nähren und eine polemische Stellung dem Protestantismus gegenüber einzunehmen. Das friedliche Verhältnis unter den Bekennern beider Konfessionen des Großherzogtums war ihm ein Anliegen. In seinen veröffentlichten Predigten werden kontroverstheologische Fragen nicht berührt. Doch sah er sich herausgefordert, eine notgedrungene Ehrenrettung des katholischem Glaubens vorzunehmen66, nachdem der Darmstädter Hofprediger Karl Zimmermann (1803–1877) in einer Predigt zum Reformationsfest der katholischen Kirche Geistes- und Gewissenszwang, mönchischen Aberglauben, Beladung mit äußerem Werk und drückenden Formen vorgeworfen hatte67. Lüft fand es unerträglich, dass die Kirche vor dem Fürstenhaus herabgewürdigt, gelästert wurde68. Auch die Kritik, die zu gleicher Zeit im „Frankfurter Journal“ an seinem Gießener Nachfolger Kaspar Riffel geübt wurde, wies Lüft zurück69 und beklagte Jesuitenriecherei und Verdächtigungssucht70. Demgegenüber habe sich die katholische Geistlichkeit zu Darmstadt […] stets durch hohe Duldsamkeit wahrhaft ausgezeichnet71. Vorbehaltlos würden die Darmstädter Katholiken das Engagement des Großherzogs für sie anerkennen, besonders bei dem Baue ihrer freilich völlig mißlungenen Kirche72. Solche Spitzen und seine herausgehobene Stellung zwangen Lüft, in der Anonymität zu bleiben; für den religiösen Frieden, das Hauptanliegen der Schrift, ist er allerdings stets offen eingetreten.

Das musste Lüft auch 1845 erfahren, als die deutschkatholische Bewegung in Darmstadt Fuß zu fassen suchte und dabei von der evangelischen Hof- und Stadtgeistlichkeit unterstützt wurde. Lüft bemühte sich, die Katholisch-Theologische Fakultät Gießen für die geistige Auseinandersetzung mit dem Deutschkatholizismus zu gewinnen und trat selbst in mehreren Predigten gegen den Deutschkatholizismus auf: Indem sie der Gemeinde die Entscheidungsvollmacht über die Glaubenslehre anvertrauten und die Autorität der Heiligen Schrift der Vernunft, gar dem Zeitbewußtsein unterwarfen, machten die Deutschkatholiken die jedesmalige Meinungsansicht der Menschen zu ihrem obersten Prinzip: Es kann jeder zu jeder Zeit glauben, was er will. An die Stelle der Göttlichkeit der Religion tritt die Mode der Zeit. Man hat das Christentum, die Offenbarung, die Religion in ihrem Fundamente angegriffen, abgeleugnet und vernichtet und die Menschen so des Leitsterns beraubt, der allein sicher durchs Leben zu führen vermag. Denn die göttliche Offenbarung muss dem Menschen zu Hilfe kommen und den Funken entzünden, die Gottesbeziehung ermöglichen, die die Grundlage allen menschlichen Lebens ist. Die Neuerer aber haben die schwankende, unsichere Meinung der Zeit über die Religion gestellt und den Menschen ermächtigt, die Religion sich und der Zeit anzupassen.73 Die Offenbarungsfeindlichkeit der Deutschkatholiken liegt für Lüft auf der Hand, umso betroffener macht ihn die Unterstützung, die ihnen von protestantischer Seite zuteilwurde und die die Feier eines öffentlichen Gottesdienstes ermöglichte. Lüft sieht darin eine Kränkung der Katholiken, eine öffentliche Verletzung der Gewissensfreiheit; er mahnt seine Gemeinde, dem Glauben und der Kirche treu zu bleiben und in allen Angriffen auf Gott zu vertrauen74.

Die politisch-religiöse Bewegung des Deutschkatholizismus blieb eine Randerscheinung, doch ließen die revolutionären Unruhen im Großherzogtum Hessen Lüft 1848 Ausschau nach dem Amt des Frankfurter Stadtpfarrers halten. Lüft teilte Linde mit, dass mir das Leben in Darmstadt und damit auch meine Stelle immer mehr zu verleiden anfängt, was ich freilich vorläufig nur Ihnen sagen darf, obschon es mir schwer fällt, das Gesicht des Überdrusses zu verbergen75. Wie viele Glieder des Establishments erschütterten ihn die revolutionären Vorgänge.

In seiner Neujahrspredigt 1851 blickte Lüft auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück und verurteilte Krieg und Revolution, falsche Aufklärung und Weltweisheit76. Die Wendung zum Besseren schien ihm allerdings gewiss. Wir haben mit Freuden gesehen, wie ein mächtiger Zug der Gnade durch die Herzen geht, und die Religion wieder angefangen hat, innigere und zahlreichere Verehrer zu zählen. Auch das Nachlassen der konfessionellen Reibungen und Kämpfe erfüllte ihn mit Zuversicht77.

Warf man Lüft im Mainzer Kreis auch vor, er sei allzusehr verdarmstädtert, so suchte Bischof Ketteler doch seine Verdienste zu würdigen. Da er Lüft bei der nächsten Vakanz eines Domkanonikats unmöglich übergehen, dieser aber in seiner einflussreichen Stelle als Pfarrer und Oberschulrat in Darmstadt „multo utilior“ wirken konnte, bat Ketteler den Papst um die Erlaubnis, Lüft zum Ehrendomherrn erheben zu dürfen. Der Zustimmung des Großherzogs war er sich von vornherein gewiss. Pius IX. erhob keine Einwände und Lüft wurde 1852 Mainzer Ehrendomherr. Als Darmstädter Pfarrer hatte Lüft zeitweilig Ketteler in der Ersten Kammer der Landstände zu vertreten. 1862 bat er, aus gesundheitlichen Gründen von dieser Aufgabe entbunden zu werden. In dieser Zeit nahm Lüft auch nicht mehr an den Sitzungen der Darmstädter Oberstudiendirektion teil; Klagen über die mangelnde Vertretung kirchlicher Interessen in diesem Gremium waren die Folge.

Politisch dachte Lüft großdeutsch. 1858 kam es deshalb zum Eklat; denn Lüft schlug die Bitte des französischen Gesandten in Darmstadt, zum Napoleonstag 1858 eine Messe zu feiern, rundweg ab; aus seinen pro-österreichischen Gefühlen machte er keinen Hehl. Die hessen-darmstädtische Regierung gab sich indigniert.

In den Jahren 1862/63 stand Lüft in Briefwechsel mit dem resignierten bayerischen König Ludwig I. (1786–1868); dieser hatte enge Beziehungen zu Darmstadt; denn seine Tochter Mathilde war die Gattin Großherzog Ludwigs III. Lüft nahm in seinen Schreiben Stellung zu Heiratsplänen des Königs. Die Auserwählte war die um Jahrzehnte jüngere Darmstädter Hofdame Carlotta von Breidbach-Bürresheim (1838–1920). Lüft betätigte sich als Postillion d’amour, war dann aber vor allem damit beschäftigt, den König von seinen Plänen abzubringen. Als die Freiin sich vermählte, spendete er dem „Unterlegenen“ Trost und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass bei Euer Majestät bald die Periode eintritt, wo die freundliche Erinnerung ohne schmerzliche Beimischung ist78.

 

Am Todesleiden Lüfts nahm auch Bischof Ketteler Anteil; schon im Januar 1869 fragte man sich, ob Lüft den Winter überlebt79. Lüft erholte sich nochmals, starb aber am 23. April 1870. In einem Nachruf der „Darmstädter Zeitung“ hieß es, Lüft erfreute sich durch die Reinheit, Geradheit und Unwandelbarkeit seines Charakters sowie durch seine echt christliche Toleranz der Achtung und Liebe aller, die mit ihm in Berührung kamen, in reichstem Maße80. Kettelers Urteil war zwiespältiger. Unsern alten Lüft werden wir noch oft entbehren, schrieb er an Johann Baptist Heinrich vom Vatikanischen Konzil, wenn auch für die Seelsorge unendlich viel mehr und Besseres geschehen kann wie bisher81. Lüfts „Rolle“ auf der diplomatischen Bühne spiegelte sich auch in der Verleihung des Ritterkreuzes des Großherzoglich Hessischen Ludwigsordens I. Klasse und des Königlich Bayerischen Verdienstordens I. Klasse.

In Johann Baptist Lüft begegnet uns ein Theologe von Rang. Ihm verdankt die Liturgik ihre wissenschaftliche Grundlegung. Doch vermochte die Universität für ihn nicht zur eigentlichen Heimat zu werden. Der Professor für Pastoral strebte nach der pastoralen Praxis. 35 Jahre lang hat er sich ihr in Darmstadt gewidmet. Zeit seines Darmstädter Wirkens ist es ihm gelungen, trotz des forschen Vorgehens eines Bischofs wie Ketteler für ausgeglichene Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu sorgen. Dabei hat er den katholischen Standpunkt nicht verschwiegen, viel weniger aufgegeben.

Lebensdaten


30.03.1801geb. in Hechtsheim bei Mainz als Sohn des Tagelöhners Jakob Lüft und seiner Frau Klara, geb. Strohm
07.04.1824Priesterweihe in Speyer
1829Professor für Moraltheologie am Mainzer Priesterseminar
30.11.1830Professor für Moral- und Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät und Pfarrer in Gießen
1835Pfarrer, Dekan und Oberschulrat in Darmstadt
1852Ehrendomkapitular
23.04.1870gest. in Darmstadt

Quellen

Archivio Segreto Vaticano, Rom (ASV):

ANM 80 pos. 87

Bundesarchiv Außenstelle, Frankfurt a.M. (BAF):

FN 10/32

Bayerische Staatsbibliothek, München (BayStB):

Ludwig I., Archiv

Dom- und Diözesanarchiv, Mainz (DDAMz):

Generalakten 1/I; Pfarrakten Dekanat Gießen; Pfarrakten Gießen 2; Generalakten 1/IIk; Generalakten 1/III; Generalakten 4; Domkapitel C. 1.8a

Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt a.M. (FDHF):

Hs. 24691

Pfarrarchiv St. Bonifatius, Gießen (PfAGi):

[J. B. Rady], Chronica Parochiae Catholicae Giessen 1880

Schriften

Die Bedürfnisse der Kanzelberedsamkeit in ihrem Verhältnisse zu den Anforderungen der Zeit und der Kirche. In: Kirchenzeitung für das katholische Deutschland 3 (1832) S. 137–144, 153–158, 209–215, 225–232.

Der Glaube. Sein Wesen, sein notwendiger Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen und seine unmittelbarsten Äußerungen. Eine praktisch-theologische Abhandlung in Anlehnung an Matthäus 8,1–13. In: Religiöse Zeitschrift für das katholische Deutschland 1 (1833) S. 268–297.

Rez. F. S. Häglsperger, Skizzierte Themata zu Homilien und Predigten für einen fünffachen Cyklus auf alle Sonn- und Festtage des katholischen Kirchenjahres. Landshut 1833. In: ebd., S. 322–328.

Rez. F. X. Schmid, Liturgik der christkatholischen Religion, 2 Bde. Passau 1832. In: ebd., 1 (1833) S. 328–335 und 2 (1833) S. 314–319.

Über die Parusie. Eine exegetische Abhandlung über Matthäus 24. In: ebd., 2 (1833) S. 147–166.

Prinzipien über Cultus und Liturgie. In: Jahrbücher für Theologie und christliche Philosophie 1 (1834) S. 55–96.

Rez. H. Hoffmann, Geschichte des deutschen Kirchenliedes bis auf Luthers Zeit. Ein literarisch-historischer Versuch. Breslau 1832. Deutsche katholische Gesänge aus älterer Zeit. Eine Anthologie. Frankfurt a. M. 1833. In: ebd., S. 204–214.

Rez. J. B. Hirscher, Betrachtungen über sämtliche Evangelien der Fasten mit Einberechnung der Leidensgeschichte. Tübingen 31832. In: ebd., S. 229–237.

Rez. J. B. Hirscher, Katechetik. Oder der Beruf des Seelsorgers, die ihm anvertraute Jugend im Christentum zu unterrichten und zu erziehen. Tübingen 1831, 21832. In: ebd., S. 373–405.

Über Konstruktion und Behandlung der theologischen Moral. In: Jahrbücher für Theologie und christliche Philosophie 2 (1834) S. 76–131.

Rez. H. Schreiber, Lehrbuch der Moraltheologie, Bd. 1–2. Freiburg i. Br. 1831–1834. In: ebd., S. 413–445.

Rez. H. J. Vogelsang, Lehrbuch der christlichen Sittenlehre, Bd. 1. Bonn 1834. In: ebd., S. 446–455.

Rez. W. M. de Wette, Lehrbuch der christlichen Sittenlehre und der Geschichte derselben. Berlin 1833. In: ebd., S. 455–457.

Rez. F. X. Schmid, Liturgik der christkatholischen Religion, 2 Bde. Passau 1832–1833. In: Jahrbücher für Theologie und christliche Philosophie 3 (1834) S. 229–237.

Rez. H. Klee, Die Ehe. Eine dogmatisch-archäologische Abhandlung. Mainz 1833. In: ebd., S. 266–276.

Rez. A. F. S. Rost, Religionswissenschaftliche Darstellung der Ehe. Wien 1834. In: ebd., S. 277–279.

Rez. F. X. Massl, Le Maistre de Sacys Erklärung der heiligen Schriften des neuen Testaments nach den heiligen Vätern und andern bewährten Schriftstellern der Kirche, 3 Bde. Straubing 1831–33. In: ebd., S. 294–298.

Kritische Übersicht der katholischen Predigtliteratur vom Jahre 1833 bis zur Hälfte des Jahres 1834. In: ebd., S. 426–470.

Predigt, gehalten am Neujahrstage 1839 in der katholischen Kirche zu Darmstadt. In: Predigt-Magazin 2 (1839) Anreden, Betrachtungen, Homilien, Predigten, Predigtentwürfe und Reden, S. 327–334 (Dazu: Der Katholik 19, 1839, Bd. 73, S. CXXIVf).

[anonym], Betrachtungen über die neuesten Angriffe auf die Ehre der katholischen Kirche. Eine Epistel an Herrn Generalsuperintendenten Röhr zu Weimar und Herrn Hofprediger Zimmermann zu Darmstadt. Von einem Katholiken des Großherzogtums Hessen und bei Rhein. Schaffhausen 183982.

Liturgik oder wissenschaftliche Darstellung des katholischen Cultus, Bd. 1–2. Mainz 1844–1847.

Die christliche Freiheit. Gehalten am vierten Fastensonntage in der katholischen Kirche zu Darmstadt. In: Predigt-Magazin 14 (1846) Anreden etc., S. 154–161.

Von der Einheit mit dem Oberhaupte der katholischen Kirche. Am sechsten Sonntag nach Pfingsten. In: ebd., S. 162–170.

Über das wahre Wesen der beabsichtigten neuen Glaubensspaltung und die Art und Weise, wie man ihr Eingang zu verschaffen sucht. Gehalten am neunten Sonntag nach Pfingsten. In: ebd., S. 170–176; auszugsweise auch in: Der Katholik 25 (1845) S. 421–423.

Artikel in Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon: Baldachin, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1847, S. 588f – Begräbnis (christliches), ebd., S. 734–737. – Bekenner (Confessores), ebd., S. 753–755. – Corporale, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1848, S. 880f – Credenz oder Credenztisch, ebd., S. 909. – Cruxifix, ebd., S. 926–929. – Cultus, ebd., S. 936–941. – Dies irae, Bd. 3, Freiburg i. Br. 1849, S. 140. – Domine non sum dignus, ebd., S. 230. – Dominus vobiscum, ebd., S. 244f – Liturgik, Bd. 6, Freiburg i. Br. 1851, S. 555–557. – Märtyrer, ebd., S. 908.

Betrachtungen über den christlichen Glauben und das christliche Leben. Eine Auswahl von Predigten, gehalten in der katholischen Kirche zu Darmstadt. Mainz 1852.

Artikel in der zweiten Auflage des Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon: Bekenner (Confessores), Bd. 2, Freiburg i. Br. 1883, Sp. 269–271. – Credenz oder Credenztisch, Bd. 3, Freiburg i. Br. 1884, Sp. 1181. – Domine non sum dignus, ebd., Sp. 1930.

Literatur

Alfred Bang-Kaup und Wilhelm Kastell, Die Pfarrchronik von St. Ludwig in Darmstadt 1790–1945 (= Ergänzungsbände zum Jahrbuch für das Bistum Mainz 5). Mainz 1957.

Georg Feigel, 125 Jahre (1859–1984) Schwestern vom Göttlichen Erlöser in Darmstadt. Darmstadt 1984.

Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Erwin Iserloh u.a. Mainz 1977ff.

Franz Kohlschein, Auf dem Wege zur Liturgik als Wissenschaft – Johann Baptist Lüft (1801–1870) als Liturgiker. In: Ders. und Peter Wünsche (Hg.), Liturgiewissenschaft – Studien zur Wissenschaftsgeschichte (= Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 78). Münster 1996, S. 234–290.

Uwe Scharfenecker, Die Katholisch-Theologische Fakultät Gießen 1830–1859. Ereignisse, Strukturen, Personen (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 81). Paderborn 1998.

1 Bang-Kaup/Kastell, Pfarrchronik, S. 49.

2 Kohlschein, Auf dem Wege, S. 290 und 287.