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Viertes Capitel

Als die Glocke die Dienerschaft auf St. Crux an dem Tage, wo George Bartram wegfuhr, wie gewöhnlich zum Essen rief, wurde bemerkt, daß der Platz des neuen Stubenmädchens bei Tische leer blieb. Eine von den Untermägden wurde nach ihrem Zimmer geschickt, um nach ihr zu sehen, und kehrte mit der Nachricht zurück, daß »Louise« sich ein: wenig unwohl fühle und sich deshalb für heute bei Tische entschuldigen lasse. Hierüber wurde die höhere Entscheidung der Haushälterin eingeholt, und Mrs. Drake ging sofort hinauf, um sich in eigener Person von der Wahrheit jener Aussage zu überzeugen. Ihr erster forschender Blick belehrte sie, daß das Leiden des Stubenmädchens, was auch die Ursache desselben sein möchte, gewiß nicht ein vorgeschütztes sei, um einer nichtigen oder aus bloßem Eigensinn herrührenden Laune Vorschub zu leisten. Sie weigerte sich in bescheidenen Ausdrücken, eins von den Mitteln zu nehmen, welche die Haushälterin ihr Vorschlag, und bat lediglich um die Erlaubniß, die Wirksamkeit eines Ganges in der frischen Luft erproben zu dürfen.

– Ich bin an mehr Thätigkeit gewöhnt gewesen, Madame, als ich hier habe, sprach sie. Kann ich in den Garten gehen und zusehen, wie die Luft mir bekommen wird?

– Gewiß Kannst Du allein gehen oder soll ich Jemanden mitschicken?

– Ich will allein gehen, wenn Sie erlauben, Madame.

– Sehr gut. Nimm Deinen Hut und Deinen Shawl und halte Dich, wenn Du hinaus kommst auf der Ostseite des Gartens. Der Admiral geht manchmal auf der Nordseite desselben spazieren und könnte sich wundern, Dich dort zu sehen. Komm auf mein Zimmer, wenn Du Luft und Bewegung genug gehabt hast, und laß mich sehen, wie es Dir geht.

Wenige Minuten später war Magdalene im östlichen Theile des Gartens. Die Luft war klar und sonnig; aber der kalte Schatten des Hauses lag auf dem Gartenwege und machte die Mittagsluft kühl. Sie schritt auf die Ruinen des alten Klosters zu, welche auf der Südseite des neuen Anbaues der Besitzung lagen. Hier waren einsame offene Zwischenräume, um frei aufzuathmen hier stahl sich die bleiche Märzensonne durch die öden und wüsten Lücken des Gemäuers und berührte sie traulich und hold wie ein Versprechen, daß es bald Frühling werde.

Sie stieg drei oder vier geborstene steinerne Stufen hinan und setzte sich auf einige Trümmer dabei mitten in die Sonne. Die Stelle, welche sie gewählt hatte, war einst der Eingang zur Kirche gewesen. In Jahrhunderten, die längst entschwunden waren, war der Strom menschlicher Leiden Tag für Tag über den Platz, weg, wo sie jetzt saß, nach dem Beichtstuhl gewallt. – Unter all den armen Frauen, welche diese alten Steine in der vergangenen Zeit betreten hatten, war kein ärmeres Wesen, als dasjenige, dessen Füße jetzt auf ihnen ruhten. – Die Hände zitterten, als sie dieselben neben sich legte, um sich auf dem Steinsitze zu erhalten. Sie legte sie in den Schooß, auch da zitterten sie noch. Sie hielt sie gerade vor sich hin und schaute sie verwundert an: auch jetzt zitterten sie.

– Wie eine alte Frau! sagte sie mit schwacher Stimme und ließ sie wieder neben sich sinken.

Zum ersten Mal war diesen Morgen die grausame Entdeckung über sie gekommen, die Entdeckung, daß ihr die Kräfte versagten zu einer Zeit, wo sie dieselben am nöthigsten brauchte! Sie hatte die Ueberraschung von Mr. Bartrams unerwarteter Abreise mit einer solchen Erschütterung an sich gefühlt, als wäre ihr das ärgste Unglück widerfahren. Dieser einzige Strich durch ihre Hoffnungen, der zu anderen Zeiten nur dazu gedient haben würde, die, Widerstandskraft in ihr aufs Neue anzuspannen, hatte sie mit einem so lähmenden Entsetzen betroffen, hatte sie mit einer solchen panischen Verzweiflung darnieder gestreckt, als ob sie bereits von Dem, was ihrem Unglück die Krone aufsetzen würde, die Verbannung von St. Crux, ereilt worden wäre. Aus einem solchen Wechselfalle wie dieser konnte sie nur eine Lehre ziehen. In die geringe Spanne Zeit von wenig mehr als einem einzigen Jahr hatte sie die Leiden und Schmerzen eines ganzen Lebens zusammengedrängt. Die gottgesegneten Geschenke der Gesundheit und Kraft, welche ihr von der Natur mit verschwenderischer Hand verliehen waren, verloren ihren Zauber, nachdem sie dieselben lange ungestraft mißbraucht hatte.

Sie schaute auf zu dem fernen matten Blau des Himmelsgewölbes. Sie vernahm das fröhliche Zwitschern der Vögel in dem Epheu, welcher die Ruinen umschlang. Ach, über die kalte Ferne der Himmelskörper! Ach, über die grausame Lust der Vögel! Ach, über den einsamen Jammer, hier zu sitzen und sich alt und schwach und aufgerieben zu fühlen in der schönsten Zeit der Jugend!

Sie stand auf mit einer letzten entschlossenen Anstrengung und versuchte, die hysterischen Leiden, welche ihr Herz bedrängten, nieder zu kämpfen, indem sie eine Bewegung machte und die Gegenstände ringsum betrachtete. Rasch und immer rascher ging sie in dem Sonnenscheine auf und ab. Die Bewegung that ihr wohl wegen der Erschöpfung, die sie darnach fühlte. Sie hielt die ihr in die Augen tretenden Thränen gewaltsam und verzweifelt zurück, sie rang mit dem Schmerz, der sich an ihre Sohlen geheftet hatte, und riß sich los von ihm. Allmählich begann sich ihr Geist wieder zu lichten. Die verzweifelte Furcht vor sich selbst stand ihr weniger lebhaft vor der Seele. Noch hatten ihre Jugend und ihre Kraft Etwas zuzusetzen, es war noch Spannkraft übrig, noch ungebrochen wenn auch schon schwer verletzt.

Sie dehnte allmählich die Grenzen ihres Ganges aus, erlangte allmählich den Gebrauch ihrer Sinne wieder und sah, was um sie vorging.

Am westlichen Ende waren die Ueberbleibsel des Klosters in einem weniger beschädigten Zustande, als am östlichen. An gewissen Stellen, wo die stattlichen alten Wände noch standen, waren in einer frühem Zeit Ausbesserungen vorgenommen worden. Dächer von rothen Ziegeln waren über die alten Zellen hinweggelegt worden, hölzerne Thüren waren eingehängt, und die alten Klosterräume waren dazu nutzbar gemacht worden, als Rumpelkammern für St. Crux zu dienen. Kein Schloß verwahrte eine von den Thüren. Magdalene hatte dieselben nur aufzustoßen, um das Tageslicht in das unordentliche Innere zu werfen. Sie beschloß, die Schuppen einen nach dem andern zu durchsuchen, nicht aus Neugierde, nicht in der Meinung, irgendwelche Entdeckungen zu machen: ihr einziger Zweck war, die leere Zeit auszufüllen und die Gedanken zurückzuhalten, damit sie ihr nicht wieder in den Sinn kämen und sie schwach machten.

Der erste Schuppen, den sie öffnete, enthielt die Gartengeräthe, groß und klein. Der zweite war mit Stücken zerbrochener Möbel, leerer Bilderrahmen von wurmstichigem Holze, zerbrochenen Krügen, Koffern ohne Deckel und Büchern, die aus ihren Schalen gerissen waren, angefüllt. Als sich Magdalene wandte, um den Schuppen zu verlassen, und vorher bloß einen flüchtigen Blick auf das darin enthaltene Gerümpel geworfen hatte, stieß ihr Fuß an Etwas aus dem Boden, welches gegen ein Stückchen Porcellan, das dabei lag, anklirrte Sie blieb stehen und bemerkte, daß der klirrende Gegenstand ein verrosteter Schlüssel war.

Sie nahm den Schlüssel in die Höhe und sah ihn an. Sie ging an die Luft und betrachtete ihn ein Weilchen. Es lagen in den Schuppen wahrscheinlich noch mehr solcher alter vergessener Schlüssel unter dem Gerümpel umher. Wie, wenn sie alle, die sie finden konnte, aufläse und sie einen nach dem andern an den Schlössern der Schränke und Schubkästen versuchte, die ihr jetzt verschlossen waren? War Aussicht genug, daß einer von ihnen passen könnte, um ihr bei dem Versuche sich als nützlich zu erweisen? Wenn die Schlösser aus St. Crux so altmodisch als die Möbel selber, wenn keine schlauen Sicherheitsmaßregeln neuester Erfindung zu bekämpfen waren, so war ohne alle Frage Aussicht genug. Wer konnte sagen, ob gerade der Schlüssel da in ihrer Hand nicht die verlorene Gegenpart von einem der Schlüssel an dem Bunde des Admirals war? Bei dem Mangel an allen anderen Mitteln, um zu ihrem Zwecke zu gelangen, war das Wagniß wohl werth, versucht zu werden. Ein Strahl des alten Geistes flammte in ihren müden Augen auf, als sie sich wandte und wieder in den Schuppen trat.

In einer halben Stunde war sie mit der Zeit zu Ende, welche sie sich in der Luft zuzubringen gestatten konnte. In dieser Zeit hatte sie die Schuppen vom ersten bis zum letzten durchsucht und noch fünf Schlüssel gefunden.

– Fünf Aussichten mehr! dachte sie bei sich, als sie die Schlüssel an sich nahm und hastig nach dem Hause zurückkehrte.

Nachdem sie sich erst auf der Stube der Haushälterin angesagt, ging sie hinauf, um Hut und Shawl abzulegen und zugleich die Gelegenheit zu benutzen, die Schlüssel in ihrer Kammer zu verbergen, bis es Nacht wäre. Sie waren dick mit Rost und Schmutz überzogen, allein sie getraute sich nicht, dieselben zu reinigen, bis die Schlafenszeit sie in der Stille ihres Kämmerleins vor den Späheraugen der Dienstmädchen sicherte.

Als die Essenszeit sie wie gewöhnlich mit dem Admiral in unmittelbare Nähe brachte, war sie sofort über eine Umwandlung an ihm betroffen. Zum ersten Male, so lange sie ihn kannte, war der alte Herr schweigsam und niedergeschlagen. Er aß weniger als gewöhnlich und sprach kaum fünf Worte mit ihr von Anfang des Essens bis zuletzt. Irgend ein unwillkommner Gegenstand zum Nachsinnen hatte sich ersichtlich in seiner Seele festgesetzt und blieb dort sitzen, trotz der Anstrengungen, ihn abzuschütteln. In verschiedenen Zeiten während des Abends war sie mit immer größerer Spannung verlänglich, was wohl dieser Gegenstand sein könnte.

Endlich erreichten die langsam sich dahin schleppenden Stunden ihr Ende, und die Schlafenszeit kam heran. Ehe Magdalene in dieser Nacht schlafen ging, hatte sie die Schlüssel von allen Unreinigkeiten befreit und die Bärte geölt, um sie leicht in die Schlösser gehen zu lassen. Die letzte Schwierigkeit, die noch blieb, war, die Zeit zu wählen, wann der Versuch mit der geringsten Gefahr, unterbrochen und entdeckt zu werden, gemacht werden könnte. Nachdem sie in der Nacht die Frage sorgfältig überlegt hatte, konnte sie sich nur entschließen zu warten und sich von den Ereignissen des nächsten Tages bestimmen zu lassen. Der Morgen kam, und zum ersten Male rechtfertigten die Ereignisse auf St. Crux das Vertrauen, das sie ans dasselbe gesetzt hatte. Der Morgen kam, und die einzige übrigbleibende Schwierigkeit, die sie in Verlegenheit brachte, wurde unerwarteter Weise durch keine geringere Person, als den Admiral selbst hinweggeräumt. Zu männiglich Erstaunen im Hause zeigte er beim Frühstück an, daß er in einer Stunde nach London abzureisen sich bereitet habe, daß er die Nacht in der »Stadt« zubringen werde und daß man ihn erst am nächsten Tage zur Essenszeit auf St. Crux zurückerwarten könne. Er ließ sich weder gegenüber der Haushälterin, noch gegen sonst Jemand auf weitere Erklärungen darüber ein. Allein es lag auf der Hand, daß sein Geschäft in London für ihn von keiner geringen Wichtigkeit war. Er verzehrte sein Frühstück in jäher Eile und stand ungeduldig zum Einsteigen bereit, noch ehe der Wagen vorfuhr.

 

Erfahrung hatte Magdalenen gelehrt, vorsichtig zu sein. Sie wartete ein wenig nach Admiral Bartrams Abreise, ehe sie ihren Versuch mit den Schlüsseln machte. Es war gut, daß sie Dies that. Mrs. Drake machte sich des Admirals Abwesenheit zunutze, um den Zustand der Zimmer des ersten Stockes in Augenschein zu nehmen. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung befriedigten sie keineswegs, Besen und Bürsten wurden in Bewegung gesetzt, und die Mägde gingen, so lange es Tag war, unausgesetzt in den Stuben aus und ein.

Der Abend verging, und immer bot sich die sichere Gelegenheit, welche Magdalene erspäht noch nicht dar. Abermals kam die Schlafenszeit und fand sie zwischen die beiden Aussichten gestellt, entweder sich den unsichern Zufällen des nächsten Morgens zu vertrauen, oder die Schlüssel kühnlich in der Todtenstille der Nacht zu versuchen. In früheren Zeiten würde sie die Wahl ohne Zaudern getroffen haben. Jetzt zögerte sie, aber noch hielt sie das Wrack ihres alten Muthes aufrecht, und sie beschloß das Wagniß in der Nacht zu machen.

Man ging aus St. Crux frühzeitig zu Bett. Wenn sie auf ihrem Zimmer bis halb zwölf Uhr wartete, war es lange genug.

Zu dieser Zeit stahl sie sich auf die Treppe hinaus mit den Schlüsseln in ihrer Tasche und dem Leuchter in der Hand.

Als sie an dem Eingange zu dem Corridor auf dem Stockwerk mit den Kammern vorüberkam, blieb sie stehen und lauschte. Kein Geräusch wie Schnarchen, kein Schlürfen unsicherer Schritte war auf der andern Seite des Schrankes zu hören. Mißtrauisch schaute sie um ihn herum. Der steinerne Corridor war verödet und das Rollbett leer. Ihre eigenen Augen hatten den alten Mazey gesehen, wie er vor länger denn einer Stunde mit einem Lichte in der Hand nach den oberen Zimmern ging. Hatte er sich seines Herrn Abwesenheit zunutze gemacht, um den ungewohnten Genuß zu haben, einmal wieder in einem Zimmer zu schlafen? Als dieser Gedanke ihr kam, drang gerade ein Ton vom entfernten Ende des Ganges zu ihrem Ohr. Sie ging leise darauf zu und hörte durch die Thür des letzten und entferntesten der Gastzimmer das mächtige Schnarchen des Alten in dem Gemache. Die Entdeckung war überraschend in mehr als einer Hinsicht. Sie machte das undurchdringliche Geheimniß des Rollbettes noch dunkler. Denn sie zeigte offenbar, daß der alte Mazey nicht aus eigenem halbwilden Gelüsten seine Nächte auf dem Gange zubrachte, sondern jene seltsame und unbequeme Lagerstatt lediglich und allein um seines Herrn willen einnahm.

Es war keine Zeit vorhanden, um bei den Betrachtungen zu verweilen, welche dieser Schluß an die Hand gab. Magdalene lenkte ihre Schritte längs des Ganges zurück und stieg in das erste Stockwerk hinunter. Indem sie an den Thüren, die ihr am Nächsten waren, vorüberkam, versuchte sie zuerst das Bibliothekszimmer. Auf der Treppe und in den Corridors hatte ihr Herz in unsäglich raschen Pulsen gepocht; sobald sie sich jedoch in den vier Wänden des Zimmers befand und die Thür nach der geistesstillen Außenseite geschlossen hatte, kehrte das Gefühl der Sicherheit wieder.

Das erste Schloß, das sie versuchte, war das des Tischkastens. Keiner von den Schlüsseln paßte dazu. Ihr nächster Versuch wurde mit dem Schranke gemacht. Sollte auch der zweite Versuch scheitern, wie der erste? – Nein! – Einer der Schlüssel paßte, einer von den Schlüsseln schloß nach einigem ruhigen Probieren das Schloß auf. – Sie sah begierig hinein. Es waren oben offene Fächer und ein großer Schubkasten darunter. Die Fächer waren angefüllt mit Stücken seltener Mineralien, die sauber mit Zetteln beklebt und geordnet waren. Der Schubkasten war in Abtheilungen eingerichtet. Zwei von den Abtheilungen enthielten Papiere. In der ersten entdeckte sie Nichts als eine Sammlung von bezahlten Rechnungen. In der zweiten fand sie einen Haufen Geschäftspapiere, allein die vergilbte Schrift zeigte ihr schon deutlich genug an, daß der Geheimartikel nicht dabei war. Sie schloß die Thüren des Schrankes wieder zu, und nachdem sie dies mit einiger Schwierigkeit bewerkstelligt hatte, verschritt sie dazu, die Schlüssel an den Schubkästen des Bücherschrankes zu versuchen, ehe sie ihre Nachforschungen in den anderen Zimmern begann.

Der Bücherschrank mit seinen Fächern war unzugänglich. Die Schubkästen und Schränke in allen andern Zimmern waren ebenfalls unzugänglich. Einen nach dem Andern versuchte sie dieselben in ruhiger Reihenfolge. Es war vergebens. Der Erfolg, welchen sie bei dem Schranke in der Bibliothek zu ihren Gunsten gehabt hatte, war eben der erste und der letzte, den sie auf diese Weise haben sollte.

Sie ging auf ihr Zimmer zurück Sie sah Nichts als ihren eigenen Schatten; sie hörte Nichts als ihren eigenen schleichenden Schritt in der Mitternachtsstille des Hauses. Nachdem sie gedankenlos die Schlüssel in ihrem früheren Versteck verwahrt hatte, sah sie nach ihrem Bette und wandte sich mit schaudernder Unlust davon ab. Die warnende Erinnerung an Das, was sie heute früh im Garten gelitten hatte, stand ihr lebhaft gegenwärtig vor der Seele.

– Eine andere Aussicht versucht! dachte sie bei sich, und eine andere Aussicht verloren! Ich werde wieder zusammenbrechen, wenn ich darüber nachdenke, wenn ich wachend in der Dunkelheit daliege.

Sie hatte unter den vielen Kleinigkeiten«, die in ihrer Rolle als Dienstmädchen nöthig waren, ein Arbeitskästchen mit nach St. Crux gebracht. Sie öffnete nun das Kästchen und ging entschlossen ans Werk. Ihr Mangel an Uebung mit der Nadel kam dem Zwecke, den sie im Auge hatte, zu Hilfe: derselbe nöthigte sie, ihrer Beschäftigung die vollste Aufmerksamkeit zu schenken, er lenkte ihre Gedanken von denjenigen beiden Gegenständen gewaltsam ab, welche sie jetzt am Meisten fürchtete: von sich und der Zukunft.

Am nächsten Tage kam der Admiral, wie er angeordnet hatte, zurück. Sein Besuch in London hatte seine Laune nicht verbessert. Der Schatten eines unverwindlichen Zweifels lag noch immer düster auf seiner Stirn, und seine unermüdliche Zunge war noch immer Merkwürdigerweise still, als Magdalene ihn bei seinem einsamen Mahle bediente. In dieser Nacht ertönte das Schnarchen wieder hinter dem Schranke, und der alte Mazey war wieder in seinem unbehaglichen Rollbett.

Es vergingen wieder drei Tage, April kam. Am Zweiten dieses Monats erschien Mr. George Bartram wieder auf St. Crux, indem er ebenso unerwartet zurückkehrte, als er eine Woche zuvor weggegangen war.

Er kam zu einer Nachmittagsstunde zurück und hatte im Bibliothekszimmer eine Unterredung mit seinem Oheim. Als die Unterredung vorüber war, verließ er wieder das Haus und wurde von dem Reitknecht nach der Eisenbahn gefahren, um noch den letzten Zug, der den Abend nach London ging, zu erreichen. Der Knecht bemerkte unterwegs, wie Mr. George dem Anscheine nach lieber denn je St. Crux verließ. Er bemerkte auch bei seiner Rückkehr, daß der Admiral ihm ein tüchtiges Donnerwetter machte, weil er die Pferde zu sehr übernommen habe, ein Zeichen von übler Laune bei seinem Herrn, das, wie er angab, in seiner ganzen Erfahrung ganz ohne Beispiel war. Magdalene hatte in ihrem Dienstsache gleicherweise unter des alten Herrn Reizbarkeit zu leiden gehabt: er war unzufrieden gewesen mit Allem, was sie in dem Speisezimmer vornahm, und hatte alle Gerichte schlecht befunden, eins nach dem andern, von der Hammelbrühe bis zum gerösteten Käse herunter.

Die nächsten beiden Tage vergingen wie gewöhnlich. Am dritten Tage fiel Etwas vor.

Auf den ersten Schein war es allerdings nichts weiter als ein Zug der Klingel im Besuchszimmer. In Wahrheit aber war dies der Vorbote der nahenden Entscheidung, der furchtbare Vorbote des Endes.

Es war Magdalenens Sache, der Klingel Folge zu leisten. Als sie an die Zimmerthür kam, pochte sie wie gewöhnlich an. Es erfolgte aber keine Antwort. Nachdem sie wieder gepocht und wieder keine Antwort erhalten hatte, trat sie in das Zimmer und erhielt sofort einen Strom kalter Luft gerade ins Gesicht. Die schwere Falzthür in der gegenüberliegenden Wand war zurückgestoßen, und die Nordpolaratmosphäre von »Satans Knochenkälter« ergoß sich ungehindert in das leere Zimmer.

Sie wartete an der Thür, ungewiß, was sie zunächst thun sollte; es war gewiß die Klingel des Besuchszimmers gewesen, welche erschallt war, und keine andere. Sie wartete und sah durch die offene Thür auf der andern Seite in die Wildniß der verödeten Halle hinaus.

Ein wenig Nachdenken gab ihr den Rath an die Hand, daß sie am besten thun würde, wenn sie wieder hinunter ginge und dort wartete, bis zum zweiten Male geschellt würde. Als sie sich wandte, um das Zimmer verlassen, sah sie zufällig nochmals zurück, und gerade in diesem Augenblick sah sie die Thür in der gegenüberliegenden Wand der Banquethalle sich öffnen, die Thür, welche in das erste von den Zimmern im östlichen Flügel führte. Ein großer Mann trat heraus in einem großen Ueberrock und im Hut und nähert sich rasch dem Besuchszimmer. Sein Gang verrieth ihn, während er selbst noch zu fern war, um seine Züge zu erkennen. Ehe er halb durch die Halle geschritten war, hatte Magdalene ihn erkannt: es war Admiral Bartram.

Der Admiral sah nicht nur erzürnt, sondern auch überrascht aus, als er sein Stubenmädchen in dem Besuchszimmer auf sich warten sah. Er frug barsch und mißtrauisch, was sie hier wolle? Magdalene versetzte, daß sie hierhergekommen sei, weil geschellt worden sei. Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf, als er die Erklärung hörte.

– Ja, ja es ist richtig, sagte er, ich klingelte und vergaß es dann wieder.

Er schob, während er sprach, die Schiebethür wieder an ihren Platz.

– Kohlen! begann er dann wieder mit ungeduldiger Stimme und zeigte auf den leeren Behälter. Ich klingelte nach Kohlen.

Magdalene ging in die Küche zurück. Nachdem sie den Befehl des Admirals derjenigen von den Mägden, deren Verrichtung das Feuermachen war, ausgerichtet hatte, kehrte sie in die Speisekammer zurück und setzte sich, leise die Thüre zumachend, nieder, um allein zu sein und nachzudenken.

Es war ihre Meinung in dem Besuchszimmer gewesen, und es war noch immer ihre Meinung, daß sie jetzt zufällig den Admiral Bartram aus einem Besuche der östlichen Zimmer ertappt habe, welchen er aus irgend einem dringenden Grunde geheim zu halten wünschte.

Tag und Nacht von dem einen Gedanken abgehetzt, der sie beherrschte, setzte sie sich über alle logischen Schwierigkeiten mit einem Schwunge hinweg und verband sofort den Verdacht einer geheimen Maßregel des Admirals mit dem verwandten Verdacht, welcher ihn als den Bewahrer des geheimen Artikels betrachtete. Bis zu dieser Zeit war es ihr fester Glaube gewesen, daß er seine wichtigen Papiere in einem oder dem andern der ineinanderlaufenden Zimmer bewahrte, welche er für diese Zeit gerade inne hatte.

– Warum, fragte sie sich selbst mit einem plötzlichen Mißtrauen gegen den Schluß, der bisher ihrem Geiste genügt hatte, warum könnte er sie nicht auch ebensogut in anderen Zimmern aufbewahren?

Der Gedanke an die noch immer an ihrem Versteck auf ihrem Zimmer aufbewahrten Schlüssel bestärkte sie nur in ihrer Meinung von der Richtigkeit dieser neuen Ansicht. Mit einer unwichtigen Ausnahme hatten jene Schlüssel alle nicht gepaßt, als sie dieselben in den inneren auf der Nordseite des Hauses probierte.

Konnte sie nicht bei den Schränken und Schubkästen in den östlichen Zimmern mehr Glück haben, bei welchen sie nie den Versuch gemacht oder auch nur daran gedacht hatte, die Schlüssel zu probieren?

Wenn eine auch noch so kleine Aussicht war, dieselben besser zu benutzen als bisher, so war es damit zu versuchen. Wenn nur eine auch doch so ferne Möglichkeit war, daß der Geheimartikel in einem von den verschlossenen Behältnissen im östlichen Flügel verwahrt wurde, so mußte dieselbe versucht werden.

 

Aber wann? – Ihre eigene Erfahrung beantwortete die Frage.

Zu der Zeit, wo kein Späherauge wach war und keine widrigen Zwischenfälle zu fürchten standen, wenn das Haus ruhig war, in der Stille der Nacht.

Sie wußte genug von ihrem veränderten Wesen, um den ankränkelnden Einfluß des Aufschubs zu fürchten. Sie entschloß sich, das Wagniß noch diese Nacht zu beginnen.

Sie beging noch weitere Versehen, als die Essenszeit kam; die tadelnden Bemerkungen des Admirals über ihre Bedienung bei Tische waren schärfer denn je. Seine härtesten Worte thaten ihr nicht weh, sie hörte sie kaum, ihr Geist war für alles Andere abgestorben, nur nicht für das Gefühl der bevorstehenden Probe. Der Abend, welcher ihr in der Nacht ihres ersten Versuches langsam vergangen war, verstrich diesmal schnell. Als es Schlafenszeit war, war sie erstaunt, daß es schon so weit war.

Sie wartete diesmal länger, als das vorige Mal. Der Admiral war ja zu Hause; er konnte seinen Sinn ändern und wieder heruntergehen, nachdem er auf sein Zimmer hinaufgegangen war; er konnte etwas in dem Bibliothekzimmer vergessen haben und umkehren, um es zu holen. Mitternacht schlug es an der Uhr in der Gesindestube, als sie sich aus ihrem Zimmer wagte, wieder die Schlüssel in der Tasche, wieder das Licht in der Hand.

Auf der ersten Stufe, die sie mit ihrem Fuße betrat, ergriff sie plötzlich ein Zaudern, das sich ihrer ganz und gar bemächtigte, eine unerklärliche Angst vor einer unbekannten Gefahr. Sie wartete und ging mit sich zu Rathe. Sie war vor keinem Opfer zurückgebebt, sie hatte keiner Furcht nachgegeben, um die List durchzuführen, durch die sie sich auf St. Crux Einlaß verschafft hatte, und jetzt, wo die lange Reihe von Hindernissen, die sich ihr beim Anfang entgegen gethürmt hatten, Dank ihrer Ausdauer, überwunden waren, jetzt, wo lediglich durch ihre Entschlossenheit der Ausgangspunkt gewonnen war, zögerte sie vorwärts zu gehen.

– Ich bebte vor Nichts zurück, um hierher zu gelangen, sprach sie zu sich selbst. Welcher Wahnsinn ergreift mich auf einmal, jetzt zurückzubeben?

Jeder Puls in ihr wurde bei dem Gedanken aufgeregt, die Scham belebte sie, befeuerte sie aufs Neue vorwärts zu gehen.

Sie stieg die Treppe vom dritten Stock in den zweiten herab, ohne sich einen Augenblick Zeit zu gönnen so nahe ihrem Zimmer. Eine Minute später hatte sie das Ende des Corridors erreicht, hatte den Vorsaal überschritten und war in das Besuchszimmer getreten. Erst als ihre Hand auf dem schweren Messinggriff der Schiebethür ruhte, erst in dem Augenblicke und, ehe sie die Thür zurückschob, hielt sie um Athem zu schöpfen. Die Banquethalle war dicht auf der andern Seite der hölzernen Scheidewand, dicht vor welcher sie eben stand: ihre erregte Einbildungskraft machte sie schon glauben, als fühlte sie den Todtenhauch der Kälte über sich gehen.

Sie schob die Schiebethür ein paar Zoll auf und hielt in plötzlichem Schrecken inne. Als der Admiral sie in ihrer Gegenwart heute geschlossen hatte, hatte sie kein Geräusch gehört. Als der alte Mazey sie öffnete, um ihr die Zimmer des östlichen Flügels zu zeigen, hörte sie kein Geräusch. Jetzt in der nächtlichen Stille bemerkte sie zum ersten Male, daß die Thür einen dumpfen, rauschenden Klang von sich gab, wie Windessausen.

Sie ermuthigte sich selbst und schob sie noch weiter zurück, halbwegs in die Höhle in der Wand, die dazu bestimmt war, sie aufzunehmen, hinein. Sie schritt muthig durch die Oeffnung und hatte nun plötzlich die Banquethalle als Nachtbild vor sich.

Der Mond kam hinter dem Südende des Hauses hervor. Seine bleichen Strahlen schienen durch die näheren Fenster herein und lagen in langen Streifen schrägen Lichtes auf dem Marmorboden der Bauquethalle. Die schwarzen Schatten der Zwischenwände zwischen jedem Fenster, die da abwechselten mit den Lichtstreifein erhöhten den matten Glanz des Mondlichtes auf den Steinfließen. Nach dem unteren Ende zu verschwamm die Halle geheimnißvoll in Finsterniß, die Decke wurde unsichtbar, das gähnende Kamin, der überhängende Mantel desselben, die lange Reihe Schlachtenbilder darüber wurden alle von der Nacht verschlungen. Nur ein einziger Gegenstand war zu unterscheiden außer den glitzernden Fenstern und dem Mondscheinbestrahlten Boden. Mitten in dem letzten und fernsten der Lichtstreifen erhob sich der Dreifuß auf seinen hageren schwarzen Füßen wie ein vom Monde ins Leben gerufenes Ungeheuer aufsteigend durch das Licht und sich nach oben in dem Schatten der Halle verlierend. Fern und nah, alle Töne schlummerten da, gebunden von der stehenden Kälte. Die milde Ruhe der Nacht war hier erschrecklich. Die tiefen Gründe der Finsterniß bargen noch unermeßlichere Tiefen des Schweigens.

Sie stand in dem Eingange unbeweglich, angestrengt spähend und lauschend. Sie sah nach Etwas, das sich bebewegte, sie lauschte auf irgend einen sich erhebenden Ton und spähete und lauschte vergeblich. Ein heftiges unablässiges Zittern rann ihr durch die Glieder von Kopf bis zu Fuße. Das Zittern der Furcht oder das Zittern vor Frost? Der bloße Zweifel stachelte ihren Willen zur Entschlossenheit auf.

– Jetzt, dachte sie, indem sie in dem Eingange einen Schritt vorwärts that, – jetzt oder nie! Ich will die Streifen des Mondlichts dreimal abzählen und über die Halle schreiten.

– Eins – zwei – drei – vier – fünf – Eins —

zwei – drei – vier – fünf – Eins – zwei – drei —

vier – fünf.

Als die letzte Zahl bei ihrem drittmaligem Zählen über ihre Lippen gekommen war, schritt sie über die Halle weg. Nach Nichts mehr sich umsehend, auf Nichts lauschend, in der einen Hand das Licht, mit der andern Hand unwillkürlich die Falten ihres Kleides umklammernd, eilte sie wie ein Geist die ganze Länge des geisterhaften Raumes durch. Sie erreichte die Thür des ersten der östlichen Zimmer, öffnete sie und stürzte hinein. Der plötzliche Trost, einen Zufluchtsort zu finden, der plötzliche Eintritt in eine neue Luft überwältigten sie einen Augenblick. Sie hatte nur noch Zeit das Licht sicher aus einen Tisch zu stellen, ehe sie schwindelig und athemlos in den nächsten Stuhl sank.

Allmählich fühlte sie, wie die Ruhe ihre Aufregung beschwichtigte In wenigen Minuten wurde sie sich des freudigen Gefühls bewußt, sich den Weg zu den östlichen Zimmern gebahnt zu haben. In wenigen Minuten war sie stark genug, um sich vom Stuhl zu erheben, die Schlüssel aus ihrer Tasche zu nehmen und sich umzublicken.

Der erste Gegenstand von Hausgeräth im Zimmer, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, war ein runder Schreibeschrank von geschnitztem Eichenholz, dann ein schwerer Tisch mit einem Schubkasten Sie versuchte erst den Schreibeschrank, er sah noch am Ehesten wie ein Aufbewahrungsort für Papiere aus. Drei von den Schlüsseln hatten die Größe für das Schloß, aber keiner von ihnen schloß es. Der Schrank war unnahbar. Sie ließ ihn und wartete einen Augenblick, um das Licht zu passen, ehe sie den Schubkasten daran vornahm.

In dem Augenblicke, wo sie ihre Hand nach dem Lichte erhob, hörte sie die Stille der Banquethalle durch einen schrecklichen Ton, einen schwachen und nur einen Augenblick dauernden Ton, wie das ferne Rauschen des Windes unterbrechen.

Hatte sich die Schiebethür im Besuchszimmer bewegt?

In welcher Weise hatte sie sich bewegt? Hatte eine unbekannte Hand sie in ihre Nische geschoben, weiter als sie dieselbe geschoben hatte oder sie zugeschoben und verschlossen? Der Schrecken, die ganze Nacht ausgeschlossen zu sein durch irgend eine unerkennbar wirkende Macht von dem Leben des Hauses war stärker in ihr als der Schrecken, einen Blick über die Banquethalle hinweg zu thun. Sie machte verzweifelt eine Bewegung nach der Thür zu. Sie war leise hinter ihr zugefallen, aber sie war nicht verschlossen. Sie stieß sie auf und blickte hinaus.