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Versteckt in den schmutzigen Nebengassen von London unter einem falschen Namen, verstoßen, ohne Freunde und Helfer, dem Mitleid fremder Leute preisgegeben infolge einer Krankheit, die sie darnieder geworfen an Leib und Seele, so mußte er sie wiedersehen, die Frau, die seinem Geiste eine neue Welt der Schönheit erschlossen hatte, die Frau, die durch einen Blick die Liebe in ihm entzündet hatte! Was für ein entsetzliches Mißgeschick hatte sie so grausam getroffen, sie so tief gebeugt! Welche geheimnißvolle Macht hatte ihn in der Stunde ihrer höchsten Noth an den Zufluchtsort ihrer Armuth und Verzweiflung geführt?

– Wenn es bestimmt ist, daß ich sie noch im Leben wiedersehen soll, so werde ich sie wiedersehen.

Diese Worte kamen ihm wieder bei, jene merkwürdigen Worte, die er beim Abschied zu seiner Schwester gesagt hatte. Mit diesem Gedanken in seiner Seele war er gegangen, wohin ihn seine Pflicht gerufen. Monde auf Monde waren vergangen, Tausende und aber Tausende von Meilen, die sich über die nie rastenden Gewässer hingezogen, waren während desselben durchmessen worden. Und durch diesen Zeitraum und über die Wellen des Weltmeeres hinweg, Tag für Tag und Nacht für Nacht, wie die Winde des Himmels wehten und das wackere Schiff sich vor ihnen her arbeitete, war er der Bestimmung, die seiner harrte, näher gerückt, er war blindlings und willenlos auf das Zusammentreffen auf der Schwelle dieser elenden Thür hingetrieben. – —

– Was hat mich hierher gebracht! sagte er flüsternd. Die Gnade des Zufalls? Nein! Die Gnade des Höchsten!

Er wartete nicht achtend des Ortes, nicht achtend der Zeit, bis der Klang Von Schritten auf der Treppe plötzlich zwischen ihn und seine Gedanken trat. Die Thür ging auf, und der Arzt wurde ins Zimmer geführt.

– Dr. Merrick! sagte die Wirthin indem sie einen Stuhl für ihn hinstellte.

– Mr. Merrick, sagte der Fremde, ruhig lächelnd, indem er den Stuhl nahm. Ich bin kein Arzt, ich bin Wundarzt mit unbeschränkter Praxis.

Ob Arzt oder Wundarzt, es war Etwas in seinem Gesicht und seiner Art und Weise, was Kirke auf den ersten Blick sagte, daß dies der rechte Mann sei.

Nach wenigen einleitenden Worten von beiden Seiten schickte Mr. Merrick die Wirthin in die Kammer, um nachzusehen, ob seine Patientin wach sei oder schlafe. Die Frau kam wieder und sagte, sie sei »so zwischen Beidem mitten drin, wieder aufgeregt und in Fieberhitze«. Der Arzt ging sogleich in die Kammer, indem er der Frau ihm zu folgen und die Thür hinter sich zuzumachen hieß.

Eine lange Zeit verging, ehe er wieder in das Vorderzimmer trat. Als er wieder erschien, sprach sein Gesicht statt seiner, ehe eine Frage gestellt werden konnte.

– Ist es eine ernste Krankheit, sagte Kirke, indem er seine Stimme senkte und die Augen auf das Gesicht des Arztes heftete.

– Es ist eine gefährliche Krankheit, sagte Mr. Merrick mit Nachdruck auf dem Worte.

Er zog seinen Stuhl näher zu Kirke hin und sah ihn aufmerksam an.

– Darf ich Ihnen einige Fragen verlegen; welche nicht rein medicinischer Art sind? frug er.

Kirke nickte.

– Können Sie mir sagen, was sie für ein Leben gehabt, ehe sie in dies Haus gekommen und erkrankt ist.

– Ich kann es unmöglich wissen. Ich bin eben nach langer Abwesenheit nach England zurückgekehrt.

– Wußten Sie, daß sie hierher kam?

– Ich erfuhr es nur zufällig.

– Hat sie keine weiblichen Verwandten? Keine Mutter? Keine Schwester? Niemand außer Ihnen, der sich ihrer annehmen könnte?

– Niemand, bevor ich ihre Verwandten ausfindig gemacht, Niemand außer mir selbst.

Mr. Merrick versank in Schweigen. Er sah Kirke noch aufmerksamer an und dachte:

– Sonderbar. Er ist hier allein und hat für sie zu sorgen, und ist dies Alles, was er weiß?

Kirke sah den Zweifel auf dessen Angesicht und ging unmittelbar auf diesen Punkt los, ehe noch ein Wort weiter zwischen ihnen gesprochen wurde.

– Ich sehe, daß meine Stellung hier Sie überrascht, sagte er ruhig. Wollen Sie dieselbe einfach als die Stellung eines Verwandten, die Stellung ihres Bruders oder ihres Vaters ansehen, bis ihre Verwandten ausfindig gemacht werden?

Seine Stimme zitterte, und er legte ergriffen seine Hand auf den Arm des Arztes.

– Ich habe dies Vertrauen für mich beansprucht, sprach er, und Gott ist mein Zeuge, ich werde desselben nicht unwerth sein!

Das arme müde Haupt lag, als er diese Worte sprach, wieder an seiner Brust, und die fiebernden Finger klammerten sich wieder um seine Hand.

– Ich glaube Ihnen, sagte der Arzt mit Wärme. Ich halte Sie für einen rechtschaffenen Mann. – Um Ihnen und mir selber Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, lassen Sie mich Ihnen sagen, daß die, eben Von mir gethanen Fragen nicht von bloßer Neugier eingegeben wurden. Keine gewöhnliche Ursache kommt hier in Frage, um zu erklären, wodurch mein Kranker auf das Siechlager geworfen wurde. Sie hat irgend welche schreckliche und geistige Leiden durchzumachen gehabt und ist unter der Last derselben zusammengebrochen. Es würde mir von Nutzen gewesen sein, wenn ich erfahren hätte, welcher Art jene Leiden waren und auch, wie lange oder wie kurze Zeit verging, ehe sie ihnen erlag. In dieser Hoffnung sprach ich.

– Als Sie mir sagten, daß es eine gefährliche Krankheit sei, sprach Kirke, meinten Sie da Gefahr für ihren Geist oder für ihr Leben?

– Für Beides, versetzte Mr. Merrick Ihr ganzes Nervensystem ist zerrüttet, alle gewöhnlichen Verrichtungen ihres Gehirns sind in dem Zustande völliger Erschöpfung. Ich kann Ihnen von der Art der Krankheit keine deutlichere Erklärung geben, als diese, das Fieber, welches die Leute im Hause erschreckt, ist lediglich die Folge davon. Die Ursache ist, was ich Ihnen gesagt habe. Sie kann auf dem Bette Wochen auf Wochen liegen, indem sie abwechselnd aus einem Zustande des Phantasierens in einen der Ruhe übergeht. Sie dürfen sich keine Sorge machen, wenn ihr Schlaf weit über die natürliche Zeit hinaus dauert. Jener Schlaf ist ein besseres Heilmittel, als ich verordnen kann, und Nichts darf ihn stören. Alles, was unsere Kunst thun kann, ist, sie zu überwachen, ihr mit Reizmitteln zu helfen und abzuwarten, was die Natur thun wird.

– Muß sie hier bleiben? Ist keine Hoffnung, daß wir im Stande sind, sie an einen bessern Ort zu bringen?

– Für den Augenblick keine Hoffnung. Sie ist bereits gestört worden, wie ich höre, und sie befindet sich darum auch schon schlechter. Selbst wenn sie besser wird, wenn sie wieder zu sich selber kommt, würde es ein gefährliches Beginnen sein, sie zu früh zu bewegen, die geringste Aufregung oder Beunruhigung würde gefährlich für sie sein. Sie müssen aus dieser Wohnung machen, was zu machen ist. Die Wirthin hat meine Weisungen, und ich will eine gute Wärterin zu ihrer Beihilfe senden. Es läßt sich nicht mehr thun. So weit ihr Leben in eines Menschen Hand gegeben ist, ist dasselbe in Ihre Hände eben so gut, als in die Meinigen gegeben. Alles kommt auf die Pflege an, die sie unter Ihrer Einleitung in diesem Hause hat.

Mit diesen Worten zum Abschied stand er auf und verließ das Zimmer.

So allein gelassen, schritt Kirke an die Verbindungsthür, und leise daran pochend sagte er der Wirthin, daß er mit ihr sprechen wolle.

Er war nach seiner Unterredung mit dem Arzte viel gefaßter, hatte sein früheres entschlossenes Wesen schon mehr wiedergefunden, als vor der Unterredung. Ein Mann, der in der künstlichen gesellschaftlichen Atmosphäre lebte, die dieser Mann niemals geathmet hatte, würde die weltliche Seite der Lage schmerzlich empfunden haben, deren Neuheit und Sonderbarkeit, die ernste unmittelbare Schwierigkeit, die sie ihm auferlegte, die zahllosen Mißdeutungen in der Zukunft, zu welchen sie Anlaß geben konnte. Kirke dachte mit keinem Gedanken an die Lage. Er sah Nichts als die Pflicht, die sie ihm auferlegte, die Pflicht, die ihm die Abschiedsworte des Arztes klar vor die Seele gestellt hatten. Alles hing ab von der Pflege, die sie unter seiner Aufsicht in diesem Hause fand. Das war seine Aufgabe, und er handelte sofort, ohne sich zu bedenken, darnach, gerade wie er in einem dringenden Falle an Bord seines Schiffes mit Frauen und Kindern verfahren wäre. Er frug die Wirthin in kurzen, scharfen Sätzen. Die einzige Veränderung bei ihm lag in dem leiseren Tone seiner Stimme und in dem ängstlichen Blicke, den er von Zeit zu Zeit auf das Zimmer warf, in dem sie lag.

– Verstehen Sie, was der Arzt zu Ihnen gesagt hat?

– Ja, Sir.

– Das Haus muß ruhig sein. Wer wohnt in dem Hause?

– Nur ich und meine Tochter, Sir, wir wohnen in den Erdgeschoßzimmern. Die Zeiten sind schlecht gewesen seit Mariä Verkündigung. Beide Zimmer hier über diesem stehen leer.

– Ich werde sie beide nehmen und die beiden Zimmer hier unten ebenso. Kennen Sie einen thätigen, raschen, zuverlässigen Mann, der Gänge für mich besorgen kann?

– Ja, Sir. Soll ich gehen…?

– Lassen Sie Ihre Tochter gehen. Sie dürfen das Haus nicht verlassen, bevor die Wartefrau kommt. Schicken sie den Boten nicht herauf. Menschen von dieser Classe treten zu schwer auf: ich will hinuntergehen und ihn an der Thür empfangen.

Er ging hinunter, als der Bote kam, und schickte ihn zuerst nach Feder, Tinte und Papier. Der zweite Auftrag des Mannes war, daß er eine Person suchen mußte, welche das Geräusch vorbeirollender Wagenräder auf der Straße durch Ausstreuen von Lohe vor dem Hause dämpfen konnte. Als dies ausgeführt war, erhielt der Bote zwei Briefe, um sie zur Post zu schaffen. Der erste war an Kirke’s Schwager gerichtet. Er erzählte demselben in kurzen deutlichen Worten, was vorgefallen war, und überließ es ihm, die Nachricht seiner Frau beizubringen, wie er es für gut fände. Der zweite Brief war an den Wirth des Hotels in Aldborough gerichtet. Magdalenens angenommener Name auf Northsteinvilla war der einzige Name, unter dem sie Kirke kannte, und die einzige Möglichkeit, ihre Verwandten zu ermitteln, die ihm einfiel, war, daß er ihre vermeintlichen Verwandten, Oheim und Tante, mittelst Nachforschungen von Aldborough aus ausfindig machte.

 

Gegen Ende des Nachmittags kam eine anständige Frau in den mittleren Jahren ins Haus mit einem Briefe von Mr. Merrick Sie war dem Arzt bekannt als eine zuverlässige und gewissenhafte Person, welche seine eigene Frau gepflegt hatte, und sie würde, schrieb er, bisweilen durch eine Dame unterstützt, welche zu einer religiösen Schwesterschaft in dem Stadtviertel gehöre, und deren wärmstes Mitgefühl in dem beregten Falle lebendig geworden sei. Gegen acht Uhr des Abends werde der Arzt selber vorkommen und nachsehen, daß der Kranken Nichts abgehe.

Die Ankunft der Wärterin und der Trost, daß sie zuverlässig sei, gaben endlich Kirke Luft, an sich selber zu denken. Sein Gepäck lag fertig gepackt da, für seine für den andern Tag beabsichtigte Reise nach Suffolk. Es war nur nöthig, dasselbe von dem Gasthofe nach der Wohnung in Aarons Anbau schaffen zu lassen. Er hielt auf seinem Wege nach dem Gasthofe nur ein Mal an, um in einen Spielzeugladen in einem der großen Durchgänge zu schauen. Die Kinderschiffe in dem Fenster erinnerten ihn an seinen Neffen.

’– Mein kleiner Namensvetter wird sehr betrübt sein, wenn er mich morgen nicht sieht, dachte er. Ich muß es bei dem Knaben wieder gut wachsen, indem ich ihm Etwas von seinem Oheim sende. Er ging in den Laden und kaufte eins von den Schiffen. Es wurde in seiner Gegenwart in eine Kiste gelegt, verpackt und mit Adresse versehen. Er legte eine Karte auf das Verdeck des Kinderschiffleins, ehe der Deckel der Kiste zugenagelt wurde, worauf die Worte standen:

Ein Schiff für den kleinen Seemann und vom großen Seemann einen herzlichen Gruß dazu.

– Kinder haben es gern, wenn man an sie schreibt, beste Frau, sagte er wie zur Entschuldigung zu der Dame hinter dem Ladentische. Schicken Sie die Kiste, so schnell sie können, – es liegt mir daran, daß der Knabe sie morgen bekommt.

Gegen die Abenddämmerung hin kam er mit seinem Gepäck nach Aarons Anbau zurück. Er zog seine Stiefeln in der Flur aus und trug feinen Koffer selber hinauf, indem er, als er am ersten Stock vorbeikam anhielt, um seine Nachfragen anzustellen. Mr. Merrick war gerade da und konnte ihm Rede stehen.

– Sie war munter und redete irre, sagte er, ein paar Minuten vorher. Allein wir sind so glücklich gewesen, sie zur Ruhe zu bringen, und sie schläft jetzt.

– Sind ihr keine Worte entschlüpft, Sir, welche dazu verhelfen könnten, ihre Verwandten ausfindig zu machen?

Der Arzt schüttelte mit dem Kopfe.

– Wochen und Wochen können noch vergehen, sagte er, und die Geschichte des armen Kindes kann immer noch ein verschlossenes Geheimniß für uns alle sein. Wir können nur abwarten.

So endigte der Tag, der erste von den vielen, die da kommen sollten.

Zweites Capitel

Das warme Sonnenlicht des Juli sanft durch einen grünen Fenstervorhang scheinend,.. ein offenes Fenster mit frischen Blumen, die auf dem Gesims standen,.. ein fremdes Bett in einem fremden Zimmer,.. eine riesige Gestalt weiblichen Geschlechts, wie ein Traumgebilde von Mrs. Wragge aufragend an der einen Seite des Bettes und versuchend, in die Hände zu schlagen,.. eine andere Frau – eine Fremde – diese Hände festhaltend, ehe sie Geräusch machen konnten,.. eine milde klagende Stimme – wieder wie ein Traum von Mrs. Wragge, die das Schweigen mit folgenden Worten brach…

– Sie kennt mich, werthe Frau, sie kennt mich, wenn ich mich nicht freuen kann, so wird es mein Tod sein!

Das waren die ersten Seufzer, die ersten Töne, für welche nach sechs Wochen der Bewußtlosigkeit Magdalene plötzlich und wunderbar erwachte.

Nach einem Weilchen wurden die sichtbaren Dinge wieder düsterer, und die Töne sanken in Schweigen. Schlaf, der barmherzige Bruder, Umfaßte sie und lullte sie ein zur Ruhe.

Einen Tag weiter, und schon waren die Erscheinungen deutlicher, die Töne lauter. Noch einen weiter, und sie hörte eine Männerstimme durch die Thür herein fragen nach Kunde von dem Krankenzimmer. Die Stimme war ihr fremd, sie war immer noch aus Vorsicht leise und von demselben ruhigen Tone. Sie frug nach ihr am Morgen, wenn sie erwachte, am Mittag, wenn sie Speise zu sich nahm, des Abends, ehe sie sich wieder zur Ruhe zurecht legte.

– Wer ist so besorgt um mich?

Das war der erste Gedanke, den ihr Geist stark genug war zu fassen.

– Wer ist so besorgt um mich? —

Noch wenige Tage weiterhin, und sie konnte mit der Wärterin an ihrem Bette reden, sie konnte auf die Fragen eines ältlichen Herrn antworten, der weit mehr von ihr wußte, als sie selbst von sich wußte, und welcher ihr sagte, daß es Mr. Merrick, der Arzt sei. Sie konnte, gestützt von Kissen, im Bette aufsitzen, sich darüber wundernd, was mit ihr geschehen war und wo sie war. Sie konnte eine wachsende Neugier empfinden ob jener ruhigen Stimme, welche von draußen durch die Thür herein immer nach ihr fragte, Morgens, Mittags und Abends.

Noch einen Tag Aufschub, und Mr. Merrick frug sie, ob sie stark genug sei, eine alte Freundin zu sehen. Eine demüthige Stimme, welche sich von hoch oben herab vernehmen ließ, sagte:

– Ich bins nur.

Der Stimme folgte die fabelhafte leibliche Erscheinung von Mrs. Wragge mit ganz verschobener Haube und nur einem Schuh (der andere befand sich im nächsten Zimmer).

– Ach, seht her, seht her! schrie Mrs. Wragge in voller Ausgelassenheit und sank mit einem Krach, der das Haus erschütterte, an Magdalenens Bette aus die Kniee. Gott stärke sie, sie ist wahrlich schon wohlauf genug, um über mich zu lachen. »Hurrah, Jungens, Hurrah…« Ich bitte Sie um Entschuldigung, Doctor, mein Benehmen ist nicht fein, ich weiß es wohl. Es ist mein Kopf, Sir; ich bin’s nicht. Ich muß mir irgendwie Luft machen, sonst würde mir der Kopf bersten…

Kein zusammenhängender Satz,um auf irgend eine Frage zu antworten, konnte aus Mrs. Wragge den Morgen herausgebracht werden. Sie erhob sich von einem Gipfel der Sprachverwirrung auf den andern und endigte ihren Besuch unter dem Bette, indem sie blindlings nach ihrem zweiten Schuh herumsuchte.

Der Morgen kam, und Mr. Merrick versprach, daß sie den Tag darauf auch einen alten Freund sehen sollte. Am Abend, als die fragende Stimme sich nach ihr wie gewöhnlich erkundigte und die Thür ein paar Zoll weit geöffnet wurde, um die Antwort zu geben, antwortete sie mit schwacher Stimme selbst für sich:

– Ich befinde mich besser, ich danke Ihnen.

Es trat eine augenblickliche Stille ein, und dann gerade, als die Thür wieder geschlossen wurde, sank jene Stimme zu einem Flüstern herab und sagte feurig:

– Gott sei Dank!

Wer war er? Sie hatte Alle gefragt, und Niemand wollte es ihr sagen. Wer war er nur?…

Der nächste Tag kam, und sie hörte ihre Thür leise öffnen. Rasche Schritte trippelten ins Zimmer, eine kleine flinke Gestalt näherte sich dem Bette. War es wieder ein Traum? Nein! Da war er mit seiner immergrünen Wirklichkeit, mit dem weich von den Lippen strömenden Redeflusse, mit dem zuckenden Zuge von Humor, der in seinen verschiedenfarbenen Augen flackerte, da war er, kecker, aufschwatzender, anständiger, als je, in einem Anzuge von glänzendem Schwarz mit fleckenloser weißer Binde und einer fröhlich hervorsprossenden Krause, der nie erröthende, der unverwüstliche, der unveränderliche Wragge!

– Kein Wort, mein liebes Kind! sagte der Hauptmann und setzte sich in seiner alten vertraulichen Art bequem an ihrem Bette zurecht. Ich werde das Sprechen allein übernehmen, und ich denke, daß eine für diesen Zweck geeignetere Person unmöglich aufzufinden sein dürfte. Ich bin wirklich erfreut, aufrichtig erfreut, wenn ich ein so augenscheinlich hier unabwendbares Wort gebrauchen darf, Dich wiederzusehen und zu sehen, wie es Dir besser geht. Ich habe oft an Dich gedacht, ich habe Dich oft vermißt, ich habe oft zu mir selbst gesagt… doch gleichviel, was ich gesagt habe… Man mache die Bühne frei und lasse den Vorhang fallen über die Vergangenheit. Dum vivimus, vivamus!38 Verzeih den Zopf einer lateinischen Redewendung, mein Kind und sage mir, wie ich aussehe? Bin ich oder bin ich nicht das Bild eines wohlhabenden Mannes?

Magdalene versuchte ihm zu antworten. Die Wortsindfluth des Hauptmanns kam aber augenblicklich wieder hereingestürzt.

– Strenge Dich nicht selber an, sagte er. Ich will alle Deine Fragen an Deiner Statt stellen. – Wo ich gesteckt habe? – Warum ich so merkwürdig wohl aussehe? Und wie in aller Welt ich meinen Weg zu diesem Hause gefunden habe? – Liebes Kind, ich bin, seitdem wir uns zuletzt gesehen, damit beschäftigt gewesen, meine alten Berufsgewohnheiten allmählich zu ändern. Ich bin von der moralischen Bewirthschaftung zur medicinischen Bewirthschaftung übergegangen. Früher machte ich meine Rechnung auf das Mitgefühl des Publikums, jetzt mache ich sie auf den Magen des Publikums. Magen und Mitgefühl, Mitgefühl und Magen – sieh Beiden fest ins Gesicht, wenn Du über die Fünfzig hinaus bist, und Du wirst zugeben, daß sie beinahe auf Eins hinauskommen. Wie dem auch sein mag, hier stehe ich, so unglaublich es auch scheinen mag, endlich als ein vermögender Mann. Die Gründer meines Vermögens sind drei an der Zahl. Ihre Namen sind: Aloe,, Scammonium (Windenharz) und Gummigutti. Mit einem Worte, ich lebe von einer Pillensorte. Ich legte mir, wie Du Dich erinnerst, durch meine Geschäftsbeziehungen zu Dir einiges Geld zurück. Ich legte noch Etwas dazu in Folge des glücklichen Ablebens – requiescat in peace!39 – der Verwandten von Mrs. Wragge, von welcher, wie ich Dir früher erzählte, meine Frau einmal Etwas zu erwarten hatte. Sehr gut. Was denkst Du nun wohl, das ich that? Ich Verwandte mein ganzes Capital mit einem kühnen Wurfe zu Ankündigungen und kaufte meine Spezereien und meine Pillenschachteln auf Borg. Der Erfolg liegt jetzt vor Deinen Augen. Hier stehe ich, eine große finanzielle Thatsache. Hier stehe ich in Kleidern, die wirklich bezahlt sind, mit einem Guthaben im Buche des Banquiers, mit meinem Diener in Livree und meinem Gig vor der Thür, zahlungsfähig, Glück machend, beliebt – und alles Das Dank einer gewissen Pille.

Magdalene lächelte. Das Gesicht des Hauptmanns nahm einen Ausdruck von schalkhaftem Ernst an, er sah aus, als gäbe es auch eine ernste Seite der Frage und als wollte er dieselbe zunächst hervorheben.

– Es gibt hier nichts zu lachen für das Publikum, mein Kind, sagte er. Die Leute können meiner und meiner Pillen nicht entrathen, sie müssen uns nehmen. Es gibt keine einzige Form in der ganzen Mannigfaltigkeit der Ankündigungem die ein Mensch erlassen kann, die ich nicht in diesem Augenblick dem unglücklichen Publikum gegenüber anwendete. Leih Dir die letzte neue Novelle, und siehe, ich bin bereits darinnen auf dem Umschlage des Buches. Laß Dir das letzte neue Musikstück holen: in dem Augenblicke, wo Du die Blätter aufschlägst, falle ich daraus Dir entgegen. Nimm einen Cab: ich fliege roth zum Fenster herein. Kaufe eine Büchse Zahnpulver im Kräutergewölbe, ich springe Dir auf der Verpackung blau in die Augen. Zeige Dich im Theater, ich flattere gelb auf Dich hernieder. Die bloßen Titel meiner Anzeigen sind ganz unwiderstehlich. Laß mich nur einige ans der Ausgabe von letzter Woche anführen:

Titel mit Sprichwort:
Eine Pille zu rechter Zeit
schützet oft vor Schmerz und Leid
Gemüthlicher Titel:
Entschuldigen Sie. wie stehts mit Ihrem Magen?
Patriotischer Titel:
Welches sind die drei Merkmale einen wahren Engländers?
– sein Herd. seine Heimath und seine – Pille
Titel in Gestalt eines Kindergesprächs:
– Mamma, mir ist nicht wohl
– Was fehlt Dir, mein Püppchen?
– Ich mochte eine kleine Pille
Titel in Gestalt einer geschichtlichen Anekdote:
Neue Entdeckung in den Quellen der englischen
Geschichte. Als die Prinzen 40 im Tower erstickt wurden, sammelte ihr treuer Diener alle von ihnen hinterlassenen kleinen Besitzstücke. Unter diesen rührenden Kleinigkeiten, die den armen Kindern theuer waren, fand er eine zinnerene Büchse. Sie enthielt die Pille jener Zeit. Ist es erst nöthig zu sagen. wir weit jene Pille unter ihrer modernen Nachfolgerin stand, welche Prinz und Bauer, einer so gut als der Andere, erhalten kann?
Und so weiter und so weiter

– Der Ort, wo meine Pille gemacht wird, ist an sich eine Ankündigung. Ich habe einen von den größten Läden in London inne. Hinter einem Ladentische, welcher für das Publikum durch schimmernde Wände von Tafelglas sichtbar ist, stehen vierundzwanzig junge Leute mit weißen Schürzen, welche die Pille anfertigen. Hinter einem andern Tische sind vierundzwanzig junge Leute in weißen Cravatten beschäftigt, die Schachteln zu machen. Im Hintergrunde des Ladens sind drei ältere Comtoiristen thätig, die umfänglichen Geldgeschäfte, welche mit der Pille gemacht werden, in drei ungeheure Bücher einzutragen. Ueber der Thür steht mein Name mit Bildniß und Namenszug, vergrößert in kolossalen Verhältnissen und umgeben von dem Motto des Geschäfts in fließenden Buchstaben:

 

Nieder mit den Doktoren!

– Sogar Mrs. Wragge trägt ihr Scherflein zu dieser wunderbaren Unternehmung bei. Sie ist »die berühmte Frau«, welche ich aus unbeschreiblichen Schmerzen von jeder Beschwerde unter der Sonne geheilt habe. Ihr Bildniß ist auf allen Umschlägen gestochen mit folgender Unterschrift darunter:

Ehe diese Kranke die Pille nahm, hätte man sie wie eine Feder wegblasen können. Sehe man sie dafür jetzt an!!!

– Endlich aber kommt das Beste, mein liebes Kind. Die Pille ist die Ursache, daß ich mich zu diesem Hause gefunden habe. Meine Obliegenheit bei dem bereits erwähnten wunderbaren Unternehmen ist, das Vereinigte Königreich in einem Gig zu durchstreifen und aller Orten Agenturen zu errichten. Während ich nun eine dieser Agenturen gründete, hörte ich von einem gewissen Freunde, der eben erst nach einer langen Seereise in England gelandet war. Ich bekam seine Adresse in London, er wohnte in diesem Hause. Ich besuchte ihn sofort und war betroffen durch die Nachricht von Deiner Krankheit. – Das ist in kurzen Worten die Geschichte von meiner wirklich bestehenden Verbindung mit britischer Arzneikunde, und so kommt es, daß Du in gegenwärtigem Augenblicke auf diesem leibhaften Stuhle sitzen siehst Deinen wie immer aufrichtig ergebenen Freund und Oheim, Horatio Wragge.

In diesen Worten brachte der Hauptmann seine Darstellung, soweit sie ihn selber anging, zum Abschluß. Er sah immer aufmerksamer auf Magdalene, je näher er dem Schlusse kam. Gab es eine geheime Bedeutung, die sich an seine letzten Worte knüpfte, die nicht gleich offen am Tage lag? Allerdings Sein Besuch im Krankenzimmer hatte einen tieferen Zweck, und diesem Zweck war er nun nahe gekommen.

Als Hauptmann Wragge die Umstände schilderte, unter denen er mit Magdalenens gegenwärtiger Lage bekannt geworden sei, hatte er mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit einen weiten Bogen geschlagen um die äußersten Grenzen der Wahrheit. Der Hauptmann hatte, angereizt durch den Umstand, daß ein öffentlicher Scandal in Verbindung mit Noël Vanstones Verheirathung oder mit seinem Tode, der in den Zeitungen angekündigt worden, ausgeblieben war, sich bei seinen Streifzügen in den östlichen Marken des Landes vor ungefähr vierzehn Tagen nach Aldborough zurück gewagt, um daselbst eine Agentur für den Verkauf seiner wunderthätigen Pille zu errichten. Niemand hatte ihn erkannt außer der Wirthin des Hotels, welche sofort darauf bestand, daß er ins Haus trete und Kirkes Brief an ihren Mann lese. Denselben Abend schon war Hauptmann Wragge in London und schloß sich mit dem Seemann auf dem Zimmer des zweiten Stockes in Aaron’s Straßenhäusern ein.

Die ernste Natur der Lage, die nicht wegzuleugnende Gewißheit, daß Kirke vergeblich sich abmühen werde, Magdalenens Familie ausfindig zu machen, wenn er nicht vorher wußte, wer sie eigentlich war, hatte den Hauptmann entschieden, wenigstens einen Theil der Wahrheit zu enthüllen. Indem er sich weigerte, auf Einzelheiten einzugehen, aus Familienrücksichten welche Magdalene bei ihrer Wiederherstellung nach Gefallen erklären könne, setzte er Kirke durch die Mittheilung in Erstaunen, daß die verlassene Frau, die er gerettet und welche er bis zu dieser Stunde immer nur als Miss Bygrave gekannt hatte, keine andere als die jüngere Tochter von Andreas Vanstone war. Die Entdeckung von Seiten Kirkes, daß er dem Vater mit dem jungen Offizier in Canada genau bekannt gewesen, war natürlich auf die Enthüllung von Magdalenens wahrem Namen gefolgt. Ein vierzehn Tage später, als die Genesung der Kranken dem Arzte die ernste Schwierigkeit bereitete, den Fragen Stand halten zu müssen, welche Magdalene sicherlich an ihn richten würde, war wie gewöhnlich der Scharfsinn des Hauptmanns auf ein Auskunfsmittel verfallen.

– Die Wahrheit können Sie ihr nicht sagen, sprach er, ohne schmerzliche Erinnerungen an ihren Aldborougher Aufenthalt zu erwecken, auf die ich nicht näher eingehen darf. Geben Sie gerade jetzt noch nicht zu, daß Mr. Kirke sie nur als Miss Bygrave von Nordsteinvilla kannte, als er sie in diesem Hause fand. Erzählen Sie ihr dreist, daß er gewußt habe, wer sie sei und daß er das Gefühl hatte – das er haben mußte – als ob er ein angestammtes Recht darauf habe, ihr Beistand zu leisten, so wahr er seines Vaters Sohn sei.

– Ich selber bin, wie ich Ihnen bereits mitgetheilt, fuhr der Hauptmann an seiner alten Behauptung wirklicher Blutsverwandtschaft festhaltend fort, ein weitläufiger Verwandter der Combe-Ravener Familie, und falls niemand Anderes zur Hand ist, um Ihnen über diese Schwierigkeit hinweg zu helfen, so stehe ich Ihnen mit Vergnügen zu Diensten.

Es war allerdings niemand Anderes zur Hand, und der Fall war dringend. Wenn fremde Personen die Verantwortung über sich genommen hätten, so hätten sie unwissentlich die Wunden früherer Erinnerungen wieder aufreißen können, deren Erneuerung vielleicht ihr Tod gewesen wäre. Nähere Verwandte konnten, falls sie zu früh am Bette erschienen, denselben beklagenswerthen Erfolg haben. Die Wahl lag so: es galt entweder, sie durch Unbeantwortet lassen ihrer Fragen zu reizen und zu beunruhigen, oder sich dem Hauptmann Wragge zu vertrauen. Nach der Ansicht des letzteren war das zweite Uebel das kleinere. Darum saß jetzt der Hauptmann an dem Bette Magdalenens, indem er den ihm anvertrauten Auftrag ausführte.

Ob sie wohl die Frage that, auf welche leicht und unvermerkt bei ihr hinzuarbeiten Hauptmann Wragges heimliche Absicht bei seinen einleitenden Worten war?

Allerdings Sobald sein Schweigen ihr die Möglichkeit gab, zu Worte zu kommen, that sie die Frage.

– Wer war derjenige Ihrer Freunde, der mit im Hause wohnte?

– Du solltest ihn eigentlich eben so gut als ich kennen, sprach der Hauptmann. Er ist der Sohn von einem Kriegskameraden Deines seligen Vaters von Canada aus, als derselbe mit seinem Regiment in Amerika stand. Deine Wangen brauchen nicht roth zu werden. Wenn sie es doch werden, gehe ich fort.

Sie war überrascht, aber nicht aufgeregt. Hauptmann Wragge hatte damit angefangen, sie für eine ferne Vergangenheit zu interessieren, die sie nur vom Hörensagen kannte, ehe er sich auf das heikle Gebiet ihrer eigenen Lebenserinnerungen wagte.

Einen Augenblick später ging sie zu ihrer nächsten Frage über:

– Wie war sein Name?

– Kirke, fuhr der Hauptmann fort. Hörtest Du nie von seinem Vater, Major Kirke, Commandant des Regiments in Canada? – Hörtest Du nie davon, daß dieser Major Deinem Vater aus einer großen Verlegenheit half, wie nur der beste Kamerad und Freund es thun kann?

Ja. Sie hatte eine dunkle Erinnerung, daß sie Etwas über ihren Vater und einen Offizier gehört hatte, welcher sehr gut gegen ihn gehandelt habe, als er noch ein junger Mann war. Aber sie konnte nicht so lange rückwärts in die Vergangenheit blicken. —

– War Mr. Kirke arm?

Selbst Hauptmann Wragges Scharfsinn wurde durch diese Frage in Verlegenheit gesetzt. Er gab auf gut Glück die Antwort:

– Nein, sagte er, nicht arm.

Ihre nächste Frage zeigte an, was sie gedacht hatte.

– Wenn Mr. Kirke nicht arm war, wie kam es, daß er in einem solchen Hause wohnte?

– Sie hat mich in die Falle gelockt, dachte der Hauptmann. Es gibt nur einen Weg, um wieder herauszukommen: ich muß ihr eine zweite Gabe Wahrheit verabreichen.

– Mr. Kirke entdeckte Dich hier durch einen Zufall, fuhr er laut fort, wie Du krank und nicht eben gut verpflegt warest. Es war Jemand nöthig, der sich Deiner annahm, so lange Du nicht im Stande warst, allein fertig zu werden. Warum nicht Mr. Kirke? Er war der Sohn von Deines Vaters altem Freunde, was beinahe eben soviel heißt, als Dein eigener alter Freund. Wer hatte eher das Recht, nach einem ordentlichen Arzt zu schicken und eine ordentliche Wärterin anzunehmen, – wenn ich selber nicht zur Stelle war, um Dich mit meiner wunderthätigen Pille zu curiren? – Gemach, gemach, Du darfst den Schooß meines pikfeinen schwarzen Rockes nicht so geradezu fassen.

38So lange wir das Leben haben, laßt es uns genießen.
39Friede ihrer Seele!
40d. h. die Söhne Eduards.