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– Lassen Sie mich aus dem Spiele, Sir, rief Mrs. Lecount, indem sie anmuthig ihre fleischigen weißen Hände rieb. Ich kann es nicht ertragen! Ich muß hier vermitteln. Lassen Sie mich – ach wie nennen Sie es doch im Englischen? – einen Vorschlag einbringen. Lieber Mr. Noël Sie verschmähen es recht verkehrter Weise, sich selbst gerecht zu werden. Sie haben bessere Gründe, als den Grund, den Sie Miss Garth angegeben haben. Sie befolgen das Ihnen von Ihrem ehrwürdigen Vater gegebene Beispiel, Sie halten es für eine Pflicht gegen sein Andenken, in dieser Sache gerade so zu handeln, wie er vor Ihnen gehandelt hat. Das ist ein Grund, Miß Garth – ich beschwöre Sie auf meinen Knien, fassen Sie Dies als seinen Grund auf. Er wird thun, was sein theurer Vater that, nicht mehr und nicht weniger. Sein theurer Vater machte ein Anerbieten, und er selbst will dieses Erbieten wieder machen. Ja, Mr. Noël, Sie werden sich erinneren, was das arme Mädchen in seinem Briefe Ihnen sagte. Ihre Schwester ist genöthigt gewesen, als Erzieherin in die Welt zu gehen, und sie selbst hat außer dem Verlust ihres Vermögens zugleich die Hoffnung, sich vermählt zu sehen, auf viele, viele Jahre schwinden lassen müssen. Sie werden sich daran erinneren – und nicht wahr, Sie werden auch die hundert Pfund der Einen und die hundert Pfund der Andern geben, wie sie Ihr bewundernswerther Vater früher angeboten hat? Wenn er Dies thut, Miss Garth, wird er da genug thun? Wenn er jeder von diesen unglücklichen Schwestern hundert Pfund gibt …?

– Er wird diese Beleidigung bereuen bis an sein letztes Stündlein, sagte Magdalene.

In dem Augenblick, wo diese Antwort über ihre Lippen ging, hätte sie Alles darum gegeben, wenn sie dieselbe hätte zurücknehmen können. Mrs. Lecount hatte endlich ihren Stachel an der rechten Stelle eingesenkt. Jene jähen Worte Magdalenens waren ihr leidenschaftlich herausgefahren – in ihrer eignen Stimme.

Nur die Gewohnheit des öffentlichen Auftretens bewahrte sie davor, den gefährlichen Fehler, den sie eben begangen, noch handgreiflicher zu machen, indem sie etwa versuchte, ihn zu verbessern. Hier kam ihr ihre frühere Uebung von der dramatischen Unterhaltung zu Hilfe und vermochte sie augenblicklich, in Miss Garths Stimme fortzufahren, als wenn Nichts vorgefallen wäre.

– Sie meinen es gut, Mrs. Lecount, fuhr sie fort, aber Sie verletzen, anstatt wohlzuthun. Meine Schülerinen werden kein solches Erbieten, wie Sie es machen, annehmen. Ich bedaure, eben noch heftig gesprochen zu haben, ich bitte, entschuldigen Sie.

Sie blickte dabei scharf forschend der Haushälterin ins Angesicht, während sie jene versöhnlichen Worte sprach. Mrs. Lecount Vereitelte dies scharfe Ansehen indem sie das Taschentuch vor ihre Augen hielt. Hatte sie den augenblicklichen Uebergang in Magdalenens Stimme von dem Tone, den sie angenommen hatte, zu ihrer natürlichen Sprache wahrgenommen oder nicht? Es war unmöglich zu sagen.

– Was kann ich mehr thun! murmelte Mrs. Lecount hinter ihrem Taschentuche. Geben Sie mir Zeit zu denken, geben Sie mir Zeit mich zu fassen. Darf ich einen Augenblick hinausgehen, Sir? Meine Nerven sind durch diese traurige Scene erschüttert. Ich muß ein Glas Wasser haben, oder ich falle in Ohnmacht, glaube ich. Gehen Sie noch nicht, Miss Garth. Ich bitte Sie, lassen Sie uns Zeit, diesen trübseligen Gegenstand gründlich zu erledigen; ich bitte Sie, bleiben Sie, bis ich zurückkomme. Es waren zwei Eingangsthüren in das Zimmer. Eine, die Thür in das vordere Empfangszimmer dicht an Magdalenens linker Seite. Die andere, die Thür in das hintere Zimmer, welche hinter ihr lag. Mrs. Lecount zog sich höflich zurück durch die offenen Flügelthüren, und zwar durch diesen letzteren Ausgang anscheinend deswegen, um nicht den Gast zu stören durch Vorbeigehen. Magdalene wartete, bis sie die Thür hinter sich öffnen und wieder schließen hörte, und entschloß sich dann, die Gelegenheit, sich mit Noël Vanstone allein zu finden, aufs Beste zu benutzen. Die gänzliche Hoffnungslosigkeit, in dieser gemeinen Seele eine großmüthige Regung hervorzubringen, war ihr nun aus eigener Erfahrung nur zu klar geworden. Die letzte übrige Aussicht war, ihn zu behandeln, wie es seine feige Natur verlangte, und durch seine Furcht Einfluß auf ihn zu gewinnen. Ehe sie aber sprechen konnte, brach Mr. Noël Vanstone selbst das Schweigen. So pfiffig er auch es verbergen wollte, er war halb ärgerlich, halb ängstlich darüber, daß seine Haushälterin ihn im Stiche gelassen hatte. Er konnte seinen Gast nicht mehr fest ansehen, er zeigte eine nervöse Aengstlichkeit, sie zur Ruhe zu sprechen, bis Mrs. Lecount zurückkäme.

– Ich bitte Sie, bedenken Sie, Madame, ich habe niemals in Abrede gestellt, daß der Fall ein harter wäre, begann er. Sie sagten vorhin, daß Sie nicht die Absicht hätten, mich zu beleidigen – und ich mag meinerseits Sie auch nicht beleidigen… Darf ich Ihnen ein paar Erdbeeren anbieten? Wollen Sie vielleicht meines Vaters Einkäufe besehen? … Ich versichere Sie, Madame, ich bin von Natur ein galanter Mann und habe Gefühl für diese beiden Schwestern, namentlich die jüngere. Fassen Sie mich bei meiner Gutmüthigkeit, so haben Sie meine schwache Seite gefunden. Nichts würde mir mehr Vergnügen machen, als wenn ich hörte, daß Miss Vanstones Geliebter (ich nenne sie wahrlich immer Miss Vanstone, und Mrs. Lecount nennt sie auch so) – ich sage also, Madame, Nichts würde mir mehr gefallen, als wenn ich hörte, daß Miss Vanstones Geliebter zurückgekommen wäre und sie geheirathet hätte. Wenn eine Summe Geldes, die man ihm darliehe, ihn vielleicht zurückführen könnte, wenn die gebotene Sicherheit gut wäre, und wenn mein Advocats sich damit zufrieden erklärte…

– Halten Sie ein, Mr. Vanstone, sagte Magdalene. Sie haben eine ganz falsche Meinung von der Person, mit der Sie es zu thun haben. Sie sind vollkommen im Irrthume, wenn Sie annehmen, daß die Verheirathung der Jüngern Schwester – wenn sie auch binnen hier und acht Tagen geschehen könnte – irgend welchen Unterschied machen würde in der Ueberzeugung, in der sie sich an Ihren Vater und an Sie zu schreiben gedrungen fühlte. Ich will nicht in Abrede stellen, daß sie sich an die Hoffnung klammert, ihre Verheirathung zu beschleunigen und an die Hoffnung, ihre Schwester aus einem Leben von Abhängigkeit und Demüthigung zu befreien. Allein wenn nun auch diese beiden Ziele auf andere Weise erreicht wären, Nichts würde sie dazu vermögen, Sie im ruhigen Besitze des Erbes zu belassen, das ihr Vater seinen Kindern zugedacht hatte. Ich kenne sie, Mr. Vanstone, Sie ist ein namenlos, heimathlos, freundlos Wesen. Das Gesetz, welches sich Ihrer angenommen, das Gesetz, welches sich aller ehelichen Kinder annimmt, wirft dies Wesen hilflos auf die Gasse: es ist Ihr Gesetz, nicht das seinige Sie erkennt es nur als das Werkzeug schmählicher Unterdrückung, eines unerträglichen Unrechts an. Das Gefühl jenes Unrechts treibt sie einher, wie von bösen Geistern erfaßt. Der Entschluß, dies Unrecht zu rächen, brennt in ihr, wie die Fackel der Nemesis. Wenn jenes arme und elende Mädchen morgen verheirathet und reich wäre um viele Tonnen Geldes, glauben Sie, es würde einen Finger breit von seinem Vorsatze weichen? Ich sage Ihnen, sie würde bis zum letzten Athemzuge Widerstand leisten dem schnöden Unrecht, welches die hilflosen Kinder durch das Unglück von ihres Vaters Hintritt betroffen hat! Ich sage Ihnen, sie würde vor keinem Mittel zurückschrecken welches nur ein verzweifeltes Weib ergreifen kann, Ihre geschlossenen Hände aufzubrechen, und sollte sie bei dem Versuche sterben!

Sie hielt plötzlich inne. Noch einmal hatte ihr eigenes Wesen, daß sich nicht verleugnen ließ, sie verrathen. Noch einmal hatte der angeborene Adel dieses irregeleiteten Charakters die Oberhand gewonnen über die Täuschung, welche sie eben im Begriff war zu vollbringen. Das Scheingewebe des Augenblicks schwand aus ihren Gedanken, und der Entschluß ihres Lebens that sich unaufhaltsam kund nach Außen in ihren eigenen Worten, ihren eigenen Tönen, heiß und immer heißer aus ihrem Herzen strömend. Sie sah den kläglichen Kobold vor sich, der schweigend auf seinem Stuhle kauerte. Hatte seine Furcht ihm Besinnung genug gelassen, den Wechsel in ihrer Stimme zu bemerken? Nein, sein Gesicht sprach die Wahrheit, die Furcht hatte ihn ergriffen. Diesmal war der Augenblick ihr günstig gewesen. Die Thür hinter ihrem Stuhle hatte sich noch nicht geöffnet.

– Keine Ohren außer den seinigen haben mich gehört, dachte sie mit dem Gefühle unsäglicher Befriedigung. Ich bin Mrs. Lecount entgangen.

Dies war aber mit nichten der Fall. Mrs. Lecount hatte gar nicht das Zimmer verlassen. —

Nachdem die Haushälterin die Thür geöffnet und sie, ohne hinauszugehen, wieder geschlossen hatte, kniete sie geräuschlos hinter Magdalenens Stuhle nieder. Indem sie sich an den Pfosten der Flügelthür lehnte, nahm sie eine Scheere aus ihrer Tasche, wartete, bis Noël Vanstone (dessen Blicken sie ebenfalls ganz verborgen war) Magdalenen anredete und deren Aufmerksamkeit auf sich zog. Dann beugte sie sich vor mit der offenen Scheere in der Hand. Der Saum von dem Kleide der falschen Miss Garth, der braune, weißtüpflige Alpacarock, berührte den Boden im Bereich der Haushälterin, Mrs. Lecount hob den äußeren von den beiden rund um den Rand des Gewandes laufenden Besätzen einen über den andern in die Höhe und schnitt leise ein kleines unregelmäßiges Stück des Stoffes aus der inneren Frisur, legte dann die äußere wieder glatt über dieselbe um die Lücke zu verbergen. Während sie die Scheere wieder eingesteckt hatte, aufgestanden: war und sich hinter der Pfoste der Flügelthür verborgen hatte, war eben Magdalene mit ihren letzten Worten fertig. Mrs. Lecount wiederholte ruhig die Ceremonie des Oeffnens und Schließens der Thür des Hinterzimmers und begab sich auf ihren Platz zurück.

– Was ist in meiner Abwesenheit vorgefallen, Sir? fragte sie mit Erstaunen im Angesichte, an ihren Herrn sich wendend. Sie sind bleich, Sie sind aufgeregt! Ach, Miss Garth, haben Sie die Warnung vergessen, welche ich Ihnen in der andern Stube gegeben habe?

 

– Miss Garth hat Alles vergessen, rief Mr. Noël Vanstone, indem er durch das Wiedererscheinen von Mrs. Lecount seine verlorene Fassung wiederfand. Miss Garth hat mir in der unerhörtesten Weise gedroht. Ich verbiete Ihnen, eines von den beiden Mädchen noch zu bedauern, Lecount, namentlich nicht das jüngere. Dies ist das verzweifeltste Geschöpf, von dem ich je gehört habe! Wenn sie mein Geld nicht im Guten bekommen kann, droht sie, schon im Bösen dazu kommen zu wollen. Miss Garth hat mir Das ins Gesicht gesagt. Mir ins Gesicht! wiederholte er, indem er seine Arme übereinander schlug und tödtlich beleidigt aussah.

– Beruhigen Sie sich, Sir, sagte Mrs. Lecount, ich bitte, beruhigen Sie sich und lassen Sie mich mit Miss Garth sprechen – Ich bedaure hören zu müssen, Madame, daß Sie vergessen haben, was ich Ihnen im nächsten Zimmer gesagt habe. Sie haben Mr. Noël aufgeregt, Sie haben den Interessen, für die Sie hier wirken wollten, ins Gesicht geschlagen und haben doch nur wiederholt, was wir schon wußten. Die Sprache, die Sie sich erlaubt haben in meiner Abwesenheit, ist dieselbe Sprache, welche Ihre Schülerin thöricht genug war zu führen, als sie den zweiten Brief an meinen verstorbenen Herrn schrieb. Wie kann eine Dame von Ihren Jahren und Erfahrungen im Ernste solchen Unsinn wiederholen? Dies Mädchen macht sich groß und droht. Sie will Dies thun, will Jenes thun. Sie besitzen ihr Vertrauen, Madame. Sagen Sie mir, wenn Sie so gut sein wollen, was kann sie denn thun?

So scharf auch der Pfeil gespitzt war, er prallte ohne zu treffen ab. Mrs. Lecount hatte ihren Stachel schon zu oft angewendet. Magdalene, vollkommen wieder mächtig ihrer angenommenen Rolle, erhob sich und beendigte mit Fassung die Unterredung. Unbekannt wie sie war mit Dem, was hinter ihrem Stuhle vorgegangen war, sah sie doch eine Veränderung in Mrs. Lecounts Blick und Benehmen, die ihr nichts Gutes weissagte und ihr längeres Verweilen im Hause nicht räthlich erscheinen ließ.

– Ich bin nicht im Vertrauen meiner Schülerin, sagte sie. Ihre eigenen Handlungen werden Ihre Frage beantworten, wenn die Zeit gekommen ist. Ich kann Ihnen nur aus meiner eigenen Erfahrung von ihr sagen, daß sie keine leere Prahlerin ist. Was sie an Mr. Michael Vanstone schrieb, Das war sie bereit auszuführen; sie war wirklich im Begriff es zu thun, als ihre Pläne für seinen Tod zerstört wurden. Mr. Michael Vanstones Sohn braucht nur in seines Vaters Fußtapfen zu treten, um über kurz oder lang zu erfahren, daß ich mich in meiner Schülerin nicht geirrt habe und daß ich nicht hierher gekommen bin, um ihn durch leere Drohungen einzuschüchtern. Mein Geschäft ist zu Ende. Ich lasse Mr. Noël Vanstone die Wahl zwischen zwei Wegen. Ich lasse ihm die Wahl, mit Mr. Andreas Vanstones Töchtern zu theilen, oder bei seiner gegenwärtigen Weigerung zu verharren und der Folgen zu gewärtigen.

Sie verbeugte sich und ging nach der Thür.

Mr. Noël Vanstone sprang auf, Unwillen und Schrecken auf seinem weißen Gesichte, Beides um die Oberhand kämpfend. Bevor er die Lippen öffnen konnte, senkten sich Mrs. Lecounts fleischige Hände auf seine Schultern, drückten ihn sanft auf seinen Stuhl zurück und stellten den Teller mit Erdbeeren in die vorige Lage auf seinen Schooß.

– Erquicken Sie sich, Mr. Noël, mit noch ein paar Erdbeeren, sagte sie, und überlassen Sie Miss Garth mir.

Sie folgte Magdalenen in den Gang und schloß die Thür des Zimmers hinter ihr.

– Wohnen Sie in London, Madame? fragte Mrs. Lecount.

– Nein, erwiderte Magdalene. Ich wohne in der Provinz.

– Wenn ich an Sie zu schreiben hätte, wohin kann ich meinen Brief adressieren?

– Auf die Post in Birmingham, sagte Magdalene, indem sie den Ort nannte, den sie zuletzt verlassen hatte und nach welchem alle Briefe an sie gerichtet wurden.

Mrs. Lecount wiederholte die Angabe, um sie sich einzuprägen, ging zwei Schritte im Gange vor und legte ruhig ihre rechte Hand auf Magdalenens Arm.

– Ein Wort als guten Rath, Madame, sagte sie, ein Wort zum Abschied. Sie sind eine kühne Frau und eine schlaue Frau. Seien Sie nicht zu kühn, seien Sie nicht schlau. Sie wagen mehr, als Sie denken.

Sie erhob sich plötzlich auf die Zehen und flüsterte die nächsten Worte in Magdalenens Ohr:

– Ich habe sie ganz in meiner Hand! sagte Mrs. Lecount mit schneidender, starker Betonung auf jeder Sylbe.

Ihre linke Hand schloß sich fest zusammen, als sie sprach. Es war die Hand, in der sie das Stückchen Zeug aus Magdalenens Kleide verborgen trug, die Hand, welche es in diesem Augenblicke fest zusammendrückte.

– Was wollen Sie damit sagen? fragte Magdalene, sie von sich stoßend.

Mrs. Lecount ging höflich voraus, um die Hausthür zu öffnen.

– Ich will Nichts damit sagen, sagte sie, warten Sie ein wenig, und die Zeit wird es lehren. Eine letzte Frage, Madame, ehe ich Ihnen Lebewohl sage. Als Ihre Schülerin ein kleines unschuldiges Kind war, spielte sie da manchmal mit Kartenhäusern.

Magdalene antwortete ungeduldig durch eine bejahende Gebärde.

– Sahen Sie sie da manchmal ihr Haus höher und höher aufbauen, fuhr Mrs. Lecount fort, bis es eine Pagode von Karten war? Sahen Sie, wie ihre kleinen Kinderaugen da sich weit öffneten und darauf blickten und so stolz waren auf Das, was sie schon vollbracht hatte, daß sie gern noch mehr thun,mochte? Sahen Sie da, wie sie ihre kleine hübsche Hand still und ihren unschuldigen Athem an sich hielt und noch eine Karte auf die Spitze legte, und dadurch das ganze Haus einen Augenblick später in einen Trümmerhaufen auf den Tisch zusammenbrach? Ach, Sie haben Das gesehen! Bestellen Sie doch, wenn Sie so gut sein wollen, folgende freundliche Mittheilung an sie. Ich möchte behaupten, sie hat nun das Haus hoch genug gebaut, und ich empfehle ihr, sich in Acht zu nehmen, ehe sie noch eine Karte auflegt.

– Ich werde es an sie bestellen, sagte Magdalene mit Miss Garths Herbigkeit und Miss Garths nachdrucksvollem Kopfnicken. Aber ich zweifle sehr, daß sie sich daran kehren wird. Ihre Hand ist doch noch fester, als Sie denken, und ich meine wohl, sie wird die andere Karte auflegen.

– Und das Haus zusammenwerfen, sagte Mrs. Lecount.

– Und es wieder aufbauen, antwortete Magdalene. Ich wünsche Ihn einen guten Morgen.

– Guten Morgen, sagte Mrs. Lecount und öffnete die Thür. Ein letztes Wort, Miss Garth. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen im Hinterzimmer gesagt habe! Versuchen Sie doch die Goldene Salbe gegen das traurige Leiden Ihrer Augen!

Als Magdalene über die Schwelle der Thür schritt, begegnete sie dem Briefträger, der die Haupttreppe herauf kam, einen Brief aus seinem Bunde in der Hand.

– Noël Vanstone, Esq.? hörte sie den Mann sagen, als sie durch das Gärtchen am Hause nach der Straße ging.

Sie ging durch das Gartenthor, unbewußt, vor welch neuer Schwierigkeit und Gefahr ihr rechtzeitiges Gehen sie bewahrt hatte. Der Brief, den der Briefträger eben in die Hände der Haushälterin gelegt hatte, war kein anderer, als der anonyme Brief an Noël Vanstone von – Hauptmann Wragge.

Viertes Capitel

Mrs. Lecount kehrte in das Empfangszimmer zurück, in der einen Hand das Stück von Magdalenens Kleide, in der andern Hauptmann Wragges Brief.

– Sind Sie das Frauenzimmer los geworden? fragte Mr. Noël Vanstone. Haben Sie endlich die Thür geschlossen hinter Miss Garth.

– Nennen Sie das Weib nicht Miss Garth, Sir, sagte Mrs. Lecount mit verächtlichem Lächeln. Sie ist eben sowenig Miss Garth, als Sie es sind. Wir haben das Vergnügen gehabt, uns ein Stück Mummenschanz recht gut vormachen zu lassen, und wenn wir unserm Gaste die Verkleidung genommen hätten, so würden wir, denke ich, niemand Anderes als Miss Vanstone selbst darunter gefunden haben. – Hier ist ein Brief für Sie, Sir, den der Briefträger eben dagelassen hat.

Sie legte den Brief auf den Tisch, ihrem Herrn zu Händen. Mr. Noël Vanstone in seinem Erstaunen über die ihm eben kundgethane Entdeckung blickte mit seiner ganzen Aufmerksamkeit unverwandt auf das Gesicht seiner Haushälterin. Er sah nicht einmal den Brief an, als sie ihm denselben vorlegte.

– Nehmen Sie mein Wort darauf, Sir, fuhr Mrs. Lecount fort und setzte sich ruhig nieder, – wenn sie, unser Gast, nach Hause kommt, wird sie ihr graues Haar in einen Koffer legen und wird jene schlimme Entzündung in ihren Augen mit warmem Wasser und einem Schwamme beseitigen. Wenn sie die Runzeln in ihrem Gesichte so gut gemalt hätte, als die Entzündung in ihren Augen, so würde das Licht mir Nichts gezeigt haben, und ich wäre gewiß betrogen worden. Aber ich durchschaute diese Malerei, ich sah unter ihrer dunkeln Gesichtsfarbe die Haut eines jungen Frauenzimmers, ich hörte in diesem Zimmer ebenso eine wahre Stimme, von Leidenschaft bewegt, als eine falsche Stimme, verstellt durch einen fremden Accent – und so traue ich denn nicht einem Stücke der äußern Erscheinung der Dame von Kopf bis zu Füßen. Das Mädchen selbst wars nach meiner Ansicht, Mr. Noël, ein verwegenes Mädchen.

– Warum schlossen Sie nicht die Thür und schickten nach der Polizei? frug Mr. Noël. Mein Vater würde nach der Polizei geschickt haben. Sie wissen so gut als ich selbst, Lecount, mein Vater hätte nach der Polizei geschickt.

– Erlauben Sie, Sir, sagte Mrs. Lecount, ich denke, Ihr Vater hätte erst noch abgewartet, bis er mehr Handhaben für die Polizei gehabt hätte, als wir deren jetzt haben. Wir werden die Dame wiedersehe, Sir, Vielleicht wird sie das nächste Mal mit ihrem eigenen Gesichte und ihrer eigenen Stimme hierherkommen. Ich bin neugierig zu sehen, wie ihr Gesicht aussieht; ich bin neugierig zu wissen, ob ich von ihrer Stimme in der leidenschaftlichen Erregung genug gehört habe, um die Stimme auch im ruhigen Tone wiederzuerkennen. Ich besitze ein kleines Andenken an ihren Besuch, von dem sie nichts weiß; und sie wird mir nicht so leicht entgehen, als sie wohl denkt. Wenn es sich als ein nützliches Andenken erweist, dann sollen Sie erfahren, was es ist. Wenn nicht, so will ich es unterlassen, Sie mit einem solchen kleinen Gegenstande zu behelligen – Erlauben Sie mir, Sir, Sie an den Brief, den Sie zur Hand haben, zu erinneren. Sie haben ihn noch nicht angesehen.

Mr. Noël Vanstone erbrach den Brief. Er fuhr zusammen, als sein Auge auf die ersten Zeilen fiel, zauderte und las ihn dann in Eile vollends durch. Das Papier entfiel seiner Hand, und er sank in seinen Stuhl zurück. Mrs. Lecount erhob sich mit der Lebhaftigkeit einer jungen Frau und hob den Brief auf.

– Was ist Vorgefallen, Sir? fragte sie.

Ihr Gesicht verwandelte sich, als sie die Frage stellte, und ihre großen schwarzen Augen blickten starr in aufrichtigem Staunen und Schrecken.

– Schicken Sie nach der Polizei! schrie ihr Herr. Lecount, ich bestehe darauf, daß ich Schutz erhalte. Schicken Sie nach der Polizei!

– Darf ich den Brief lesen, Sir?

Er winkte schwach mit der Hand. Mrs. Lecount las den Brief aufmerksam durch und legte ihn, als sie fertig war, ohne ein Wort auf den Tisch.

– Und Sie haben mir Nichts zu sagen? fragte Mr. Noël Vanstone, indem er seine Haushälterin in heller Verzweiflung ansah. Lecount, ich soll beraubt werden! Der Schurke, der den Brief schrieb, weiß Alles und will mir Nichts sag, bis ich ihn dafür bezahle. Ich soll beraubt werden! Hier auf dem Tische liegt Eigenthum im Werthe von Tausenden von Pfunden, Eigenthum, das gar nicht ersetzt werden kann, Eigenthum, das alle gekrönten Häupter in Europa nicht aufzuweisen hätten, wenn sie’s auch versuchten. Schließen Sie mich ein, Lecount, und schicken Sie nach der Polizei!

Anstatt nach der Polizei zu schicken, nahm Mrs. Lecount einen großen grünen Papierfächer vom Kaminsims und setzte sich vor ihren Herrn.

– Sie sind aufgeregt, Mr. Noël, sagte sie, Sie sind erhitzt. Lassen Sie mich Ihnen Kühlung geben.

Mit einem Gesicht, das so hart wie je war, mit weniger Zärtlichkeit in Blick und Wesen, als die meisten Frauen gezeigt haben würden, wenn sie eine halbertrunkene Fliege aus einem Milchkruge gerettet hätten, fächelte sie ihn schweigend und geduldig fünf Minuten oder noch länger. Keinem sachverständigen Auge, das die eigenthümliche bläuliche Blässe seiner Farbe und die auffallende Anstrengung, mit der er athmete, gesehen hätte, würde es entgangen sein, daß das große Organ des Lebens in diesem Manne für die Verrichtung, zu der es bestimmt war, zu schwach war. Das Herz arbeitete bei ihm so schwer, als wenn es das Herz eines lebensmatten alten Mannes gewesen wäre.

– Haben Sie sich erholt, Sir? fragte Mrs. Lecount. Können Sie ein wenig denken? Können Sie Ihre bessere Einsicht wieder walten lassen?

 

Sie stand auf und legte ihre Hand auf sein Herz, mit gerade so viel kalter Aufmerksamkeit und so wenig ursprünglicher Theilnahme, als wenn sie die Schüsseln beim Mittagsessen angefühlt hätte, um sich zu versichern, ob sie gehörig gewärmt wären.

– Ja, fuhr sie fort, indem sie sich wieder setzte und die Bewegung des Fächers fortsetzte, Sie bessern sich schon, Mr. Noël. – Fragen Sie mich nicht über diesen anonymen Brief, bis Sie selbst darüber nachgedacht und selbst zuerst Ihre Meinung zu erkennen gegeben haben.

Sie fuhr mit dem Fächeln fort und sah ihn dabei fest an.

– Denken Sie, sagte sie, denken Sie über die Sache nach, Sir, ohne jedoch sich anzustrengen, Ihre Gedanken auszusprechen. Vertrauen Sie meiner innigen Theilnahme für Sie, da ich sie schon aus Ihren Augen lese. Ja, Mr. Noël, dieser Brief ist ein elender Versuch, sie einzuschüchtern. Was will er besagen? Er besagt, daß Sie der Gegenstand einer von Miss Vanstone geleiteten Verschwörung sind. Wir wissen Das bereits – die Dame mit den entzündeten Augen hat es uns erzählt. Wir haben bereits die ganze Verschwörung beinahe in der Hand. Was sagt der Brief weiter? Er sagt, der Schreiber habe Ihnen werthvolle Mittheilungen zu machen, wenn Sie ihn dafür bezahlen wollten. Wie nannten Sie doch diese Person eben selbst, Sir?

– Ich nannte sie einen Schurken, sagte Mr. Noël Vanstone, indem er nunmehr seine Selbstbeherrschung wiedererlangte und sich mehr und mehr in seinem Stuhle aufrichtete.

– Ich bin darin mit Ihnen vollkommen einverstanden, Sir, wie ich in jeder andern Beziehung es mit Ihnen bin, fuhr Mrs. Lecount fort. Es ist entweder ein Schurke, der wirklich diese Mittheilung macht und aufrichtig meint, was er sagt – oder aber ein Werkzeug der Miss Vanstone, und sie hat ihn zu diesem Briefe veranlaßt, zum Zwecke, uns noch unter einer andern Form der Verkleidung irre zu führen. Ob nun der Brief wahr ist oder ob der Brief falsch ist – lese ich nicht jetzt Ihre eigenen weiseren Gedanken, Mr. Noël? —: Sie wissen etwas Besseres zu thun, als Ihre Feinde durch vorzeitiges Anrufen der Polizei dahin zu bringen, daß sie auf ihrer Hut sind. Ich bin darin ganz mit Ihnen einverstanden, jetzt noch keine Polizei. Sie werden diesen anonymen Mann oder diese anonyme Frau gern in dem Glauben lassen, daß Sie leicht zu erschrecken sind. Sie werden ihm wegen der Mittheilung zum Danke eine Schlinge legen, wie er sie Ihnen wegen des Geldes gelegt hat; Sie werden auf den Brief antworten und sehen, was aus der Antwort wird; und Sie werden erst dann die kostspielige Hilfe der Polizei anrufen, wenn Sie wissen, daß die Ausgabe nöthig ist. Ich bin wieder mit Ihnen einverstanden, keine Ausgaben, wenn es sich umgehen läßt. In jedem Stücke, Mr. Noël, sind meine und Ihre Meinung in dieser Sache eins.

– Sehen Sie die Sache in diesem Lichte, Lecount, wirklich? sagte Mir. Noël Vanstone. Ich denke so, ich denke wahrlich so. Ich würde keinen Pfennig für die Polizei ausgeben, wenn ichs umgehen könnte.

Er nahm den Brief wieder auf und wurde beim zweiten Male Lesen ärgerlich und verwirrt.

– Aber der Mann will Geld haben! brach er ungeduldig heraus. Sie scheinen zu vergessen, Lecount, daß der Mann Geld braucht.

– Geld, das Sie ihm anbieten, Sir, erwiderte Mrs. Lecount, aber, wie Ihre Gedanken bereits zum Voraus wissen, Geld, das Sie ihm nicht geben. Nein, nein! Sie sagen zu diesem Manne: Halten Sie Ihre Hand auf, mein Herr – und wenn er sie aufhält, so geben Sie ihm einen Klapps für seine Mühe und stecken Ihre Hand wieder in die Tasche. – Ich freue mich außerordentlich, Sie wieder lachen zu sehen, Mr. Noël, freue mich, zu sehen, wie Sie Ihre gute Laune wieder bekommen. Wir wollen den Brief durch eine Anzeige in der Zeitung beantworten, wie der Schreiber angibt; eine Anzeige ist so wohlfeil! Ihre arme Hand zittert ein wenig, soll ich statt Ihrer die Feder führen? Ich bin nicht geschickt dazu, mehr zu thun; aber ich kann immer Versprechens, die Feder zu halten.

Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie in das Hinterzimmer und kehrte mit Feder, Tinte und Papier zurück. Indem sie eine Löschpapierunterlage auf ihren Knien hielt und aussah wie ein Musterbild heiterer Unterwürfigkeit, setzte sie sich noch einmal gerade vor den Stuhl ihres Herrn.

– Soll ich schreiben, Sir, wie Sie es. mir vorsagen? oder soll ich einen kleinen Entwurf machen, und Sie verändern ihn dann? Ich will einen kleinen Entwurf machen. Lassen Sie mich den Brief sehen. Wir sollen es in die Times einrücken lassen und folgende Aufschrift machen:

EIN UNBEKANNTER FREUND

– Was soll ich sagen, Mr. Noël? Warten Sie, ich will es schreiben, und dann können Sie es selbst sehen:

EIN UNBEKANNTER FREUND wird ersucht mittels Ankündigung eine Adresse anzugeben, unter der ein Brief ihn finden kann. Für die Mittheilung, die er anbietet, wird er bei Empfang belohnt werden durch eine Zahlung von…

– Welche Summe wünschen Sie angegeben zu sehen, Sir?

– Setzen Sie Nichts hin, sagte Mr. Noël Vanstone mit einem plötzlichen Ausbruch von Ungeduld. Geldsachen sind mein Geschäft, ich sage, Geldsachen sind mein Geschäft, Lecount. Ueberlassen Sie die mir.

– Ganz gewiß, Sir, versetzte Mrs. Lecount und überreichte ihrem Herrn das Conceptbuch. Sie werden doch nicht vergessen, bei dem Gelderbieten um so mehr freigebig zu sein, als Sie von vornherein mit sich eins sind, daß Sie Nichts hergeben werden?

– Sagen Sie mir Nichts vor, Lecount! Ich will Nichts von Dictiren wissen! sagte Mr. Noël Vanstone, indem er seine Selbständigkeit immer ungeduldiger geltend machte. Ich bin willens, dies Geschäft selbst zu erledigen. Ich bin hier Herr, Lecount!

– Sie sind allerdings hier Herr, Sir.

– Vor mir war mein Vater hier Herr. Und ich bin meines Vaters Sohn. Ich sage Ihnen, Lecount, ich bin meines Vaters Sohn!

Mrs. Lecount verneigte sich mit unterwürfiger Miene.

– Ich bin willens, diejenige Geldsumme zu setzen, welche ich für gut finde, fuhr Mr. Noël Vanstone fort, indem er heftig seinen kleinen Flachskopf schüttelte. Ich bin willens, diese Anzeige selber abzuschicken. Die Dienstmagd soll sie zur Annahmestelle beim Papierhändler tragen, um sie in die »Times« rücken zu lassen. Wenn ich zwei Mal klingele, so schicken Sie mir das Mädchen. Verstehen Sie mich, Lecount? Schicken Sie mir das Mädchen.

Mrs. Lecount verneigte sich abermals und ging langsam nach der Thür. Sie wußte es, wann sie ihren Herrn lenken konnte und wann sie ihn allein gehen lassen mußte. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, ihn in allen Hauptsachen zu gängeln, um ihn dafür nachher in allen Siebensachen gewähren zu lassen. Es war ein Merkmal seines schwachen Charakters, – wie eines jeden schwachen Charakters – sich auf Kleinigkeiten zu steifen. Das Ausfüllen der Lücke in der Anzeige war die Kleinigkeit bei dieser Sache; und Mrs. Lecount beschwichtigte den Argwohn ihres Herrn, als gängele sie ihn, dadurch, daß sie augenblicklich nachgab.

– Mein Maulthier hat hinten ausgeschlagen, dachte sie bei sich in ihrer Sprache, als sie die Thür öffnete. Ich kann heute Nichts mehr mit ihm anfangen.

– Lecount! rief ihr Herr, als sie in den Gang hinaustrat. Kommen Sie zurück.

Mrs. Lecount kam .zurück.

– Sie sind doch nicht böse auf mich, nicht wahr nicht? frug Mr. Noël Vanstone unruhig.

– O gewiß nicht, Sir, erwiderte Mrs. Lecount. Wie Sie bereits gesagt haben: Sie sind hier Herr.

– Gute Seele, geben Sie mir eine Hand!

Er küßte ihr die Hand und lächelte übers ganze Gesicht vor Freude über dies sein zärtliches Beginnen.

– Lecount, Sie sind eine ganz ehrenwerthe Person!

– Ich danke Ihnen, Sir, sagte Mrs. Lecount.