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Der Hauptmann öffnete den Brief und las folgende Zeilen:

Werther Herr!

Mr. Noël Vanstone ersucht mich an Sie zu schreiben und Ihnen mitzutheilen, daß er diesen Tag zu einer längeren Spazierfahrt nach einem Orte an der Küste, welcher Dunwich heißt, benutzen will. Er wünscht nun zu wissen, ob Sie mit ihm einen Wagen zusammen nehmen und ihm das Vergnügen Ihrer und Miß Bygraves Gesellschaft auf diesem Ausfluge gönnen wollen. Es ist mir freundlich Verstattet worden, mit von der Partie zu sein, und, wenn ich ohne unbescheiden zu sein, mich so ausdrücken darf, so möchte ich hinzufügen, daß ich eben soviel Vergnügen als mein Herr empfinden würde, wenn Sie und ihre junge Dame so gefällig sein wollten, sich uns anzuschließen. Wir beabsichtigen Aldborough pünktlich elf Uhr zu verlassen..

Gestatten Sie mir, werther Herr, mich zu nennen

Ihre
gehorsame Dienerin,
Virginie Lecount

– Von wem ist der Brief? frug Magdalene, als sie auf des Hauptmanns Gesicht eine Verwandlung bemerkte, während er fort las. Was wünscht man von uns auf Villa Amsee?

– Erlauben Sie, versetzte der Hauptmann mit gewichtiger Miene, dies verlangt Erwägung. Lassen Sie mir ein paar Minuten Zeit, mich zu bedenken.

Er machte einige Gänge im Zimmer auf und ab, trat dann plötzlich an einen Seitentisch in einer Ecke, auf welchem Schreibmaterialien lagen.

– Oho, ich bin nicht von gestern, Madame, sagte der Hauptmann in scherzhaftem Selbstgespräche.

Er kniff sein braunes Auge zu, ergriff die Feder und schrieb die Antwort.

– Können Sie nun reden? forschte Magdalene als die Dienerin das Zimmer verlassen hatte. Was besagt jener, Brief, und wie haben Sie ihn beantwortet?

Der Hauptmann legte ihr den Brief in die Hand.

– Ich habe die Einladung angenommen, versetzte er ruhig.

Magdalene las das Billet.

– Geheime Feindseligkeit gestern – sagte sie – und offene Freundschaft heute? Was soll das heißen?

– Das soll heißen, sagte Hauptmann Wragge, – Mrs. Lecount ist doch noch schlauer als ich glaubte. Sie hat Sie entdeckt.

– Unmöglich, rief Magdalene. Vollständig unmöglich in der kurzen Zeit!

– Ich kann nicht sagen, wie sie Sie entdeckt hat, fuhr der Hauptmann mit voller Seelenruhe fort; – sie kennt vielleicht Ihre Stimme noch genauer, als wir Beide voraussetzten. Oder sie hat bei näherem Zusehen herausgefunden, daß wir eine verdächtige Familie seien, und irgend etwas Verdächtiges, das mit einem Frauenzimmer in Zusammenhang stand, hat vielleicht ihren Geist zurückgeführt zu jenem Ihrem Morgenbesuche auf der Vauxhallpromenade. Wie es auch immer zugegangen sein mag, der Grund dieser jähen Umwandlung ist deutlich genug. Sie hat Sie entdeckt: und sie will nun Beweise für die Richtigkeit ihrer Entdeckung haben, dadurch, daß sie unter dem Deckmantel eines kleinen freundschaftlichen Gesprächs eine oder ein paar verfängliche Fragen einfließen läßt. Meine Menschenkenntniß ist eine sehr vielartige, und Mrs. Lecount ist nicht der erste abgefeimte Kopf im Unterrocke, mit welchem ich es zu thun gehabt habe. Die ganze Welt ist eine Bühne, liebes Kind – und auf unserer kleinen Bühne ist eben von diesem Augenblick an eine Scene abgeschlossen.

Mit diesen Worten nahm er sein Exemplar von Joyces Wissenschaftlichen Gesprächen aus seiner Tasche.

– Mit Dir bin ich nun bereits fertig, mein Freund! sagte der Hauptmann und gab seinem nutzbaren Leitfaden einen Schlag zum Lebewohl und schloß ihn in den Wandschrank ein.

– So ist es mit der menschlichen Popularität, fuhr der unverbesserliche Vagabund fort, indem er den Schlüssel fröhlich in seine Tasche steckte. Gestern noch war Joyce mein Einziges und Alles! Heute mache ich mir nicht mehr soviel aus ihm!

Er schnippte mit den Fingern und setzte sich zum Frühstück.

– Ich verstehe Sie nicht, sagte Magdalene und sah ihn unwillig an. Wollen Sie mich für die Zukunft mir selbst überlassen?

– Liebes Kind! rief der Hauptmann Wragge, können Sie sich noch immer nicht an den Flug meines Humors gewöhnen? Ich bin zu Ende mit meiner gemeinfaßlichen Wissenschaft, einfach deswegen, weil ich vollkommen überzeugt bin, daß Mrs. Lecount auch damit zu Ende ist, mir Glauben zu schenken. Habe ich nicht die Einladung nach Dunwich angenommen? Seien Sie unbesorgt. Die Hilfe, die ich Ihnen bereits geleistet habe, will Nichts besagen im Vergleich mit der Hilfe, die ich Ihnen jetzt leisten werde. Meine Ehre steht auf dem Spiele, Mrs. Lecount das Paroli zu biegen. Dieser ihr letzter Schachzug hat es zu einer persönlichen Angelegenheit zwischen mir und ihr gemacht.

– Das Weib denkt jetzt wirklich, es kann mich in die Tasche stecken! schrie der Hauptmann indem er mit seinem Messerstiel auf den Tisch klopfte in einer Anwandlung von sittlicher Entrüstung. Beim Himmel, ich war noch nie in meinem Leben so beleidigt! Rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch, meine Liebe, und schenken Sie mir eine halbe Minute lang Ihre Aufmerksamkeit mit Bezug auf Das, was ich Ihnen zu sagen habe.

Magdalene willfahrte ihm. Hauptmann Wragge senkte vorsichtig seine Stimme, ehe er fortfuhr.

– Ich habe Ihnen immer gesagt, sprach er, daß das Einzige, was nöthig ist, darin besteht, daß Mrs. Lecount Sie niemals in Aufwallung und Aufregung belauschen darf. Ich sage Dasselbe, nach dem, was diesen Morgen vorgefallen ist. Lassen Sie sie nur mißtrauisch gegen Sie sein! Ich wette, sie findet nun und nimmer einen Anhaltspunct für ihren Verdacht, wenn wir ihr nicht etwa selbst in die Hände arbeiten. Wir werden heute sehen, ob sie thöricht genug gewesen ist, sich ihrem Herrn zu verrathen, ehe sie Thatsachen in den Händen hat, um ihre Behauptungen zu erhärten. Ich bezweifle es. Wenn sie es ihm gesagt hat, so wollen wir Beweise unserer Identität mit den Bygraves in Strömen auf sein schwaches Köpfchen herabregnen lassen, daß er schließlich unter der Last seiner Ueberzeugung erseufzen soll. Sie haben auf diesem Ausflug nur zweierlei zu thun. Erstlich mißtrauen Sie einem jeden Worte, das aus Mrs. Lecounts Munde kommt. Zweitens setzen Sie Ihren ganzen Zauber in Thätigkeit, um die Sache mit Mr. Noël Vanstone von diesem Tage an richtig zu machen. Ich will Ihnen die Gelegenheit geben, sobald wir den Wagen verlassen und unsern Spaziergang nach Dunwich antreten. Tragen Sie Ihren Hut, tragen Sie Ihr Lächeln auf den Lippen, lassen Sie Ihre Gestalt zur vollen Geltung kommen, schnüren Sie sich knapp, legen Sie Ihre hübschesten Schuhe und hellsten Glacés an, binden Sie die elende kleine Spottgeburt an ihr Schürzenband, binden Sie ihn fest und überlassen Sie die ganze Anordnung der Sache nachher nur mir. Achtung! Hier ist Mrs. Wragge, wir müssen jetzt doppelt vorsichtig sein und sie wohl im Auge behalten. – Zeige mir Deine Haube, Mrs. Wragge! zeige mir auch Deine Schuhe! Was muß ich auf Deiner Schürze erblicken? Einen Flecken? Ich will keine Flecken haben! Nimm sie nach dem Frühstück ab und leg eine andere an. Rücke Deinen Stuhl nach der Mitte des Tisches, – mehr links, noch mehr. Mach das Frühstück.

Ein Viertel vor Elf wurde Mrs. Wragge mit ihrer eigenen vollen Zustimmung in das Hinterzimmer entlassen, um sich für den Rest des Tages in die Wissenschaft des Kleidermachens zu vertiefen. Pünctlich mit dem Glockenschlage fuhren Mrs. Lecount und ihr Herr vor dem Thor der Nordstein-Villa vor und fanden Magdalene und Hauptmann Wragge ihrer im Garten wartend.

Aus dem Wege nach Dunwich fiel Nichts vor, um den Genuß der Spazierfahrt zu trüben. Mr. Noël Vanstone war bei vortrefflicher Gesundheit und äußerst gewecktem Humor. Die Lecount hatte wegen des kleinen Mißverständnisses vom Abend vorher um Verzeihung gebeten, sie hatte sich den Ausflug als eine Prüfung für sie selbst ausgebeten. Er dachte an diese Zugeständnisse und blickte auf Magdalene und grinste und lächelte in Einem fort. Mrs. Lecount spielte ihre Rolle vortrefflich. Sie war gegenüber Magdalenen mütterlich zärtlich und gegen Noël Vanstone liebevoll aufmerksam. Sie nahm den regsten Antheil an Hauptmann Wragge's Unterhaltung und war einigermaßen betreten darüber, daß selbige sich auf allgemeine Gegenstände mit Ausschluß der Wissenschaft erstreckte. Nicht ein Wort oder ein Blick entschlüpfte ihr, welcher im entferntesten Grade auf ihr wirkliches Endziel hindeutete. Sie hatte sich mit gewohnter Eleganz und Sauberkeit gekleidet und war an dem schwülen Sommertage die einzige Person, welche in der heißesten Zeit des Tages vollkommen kühl war und blieb.

Als sie bei ihrer Ankunft zu Dunwich den Wagen verließen, ergriff der Hauptmann einen Augenblick, wo Mrs. Lecounts Auge von ihm abgewandt war, und prägte Magdalenen durch ein einzig Wort noch einmal seine Warnungen und Verhaltungsregeln ein.

– Nehmen Sie, sich vor der Katze in Acht! flüsterte er. Sie wird ihre Krallen auf dem Rückwege zeigen.

Sie verließen das Dorf und wandelten zu den Ruinen eines nahegelegenen Klosters, dem letzten Ueberbleibsel von der einst volkreichen Stadt Dunwich, das die Zerstörung des Orts durch die Alles verschlingende See um Jahrhunderte überlebt hatte. Nachdem sie die Ruinen besehen hatten suchten sie den Schatten eines kleinen Gehölzes zwischen dem Dorfe und den niedrigen Sandhügeln, welche über, die Nordsee hinwegschauen, auf. Hier wußte es Hauptmann Wragge einzurichten, daß er Magdalenen und Noël Vanstone einige Schritt vor sich und Mrs. Lecount voraus ließ, schlug den falschen Weg ein und verlor sofort mit der größten Geschicklichkeit den Weg. Nachdem sie einige Minuten in der falschen Richtung fortgegangen waren, erreichten sie eine offene Stelle am Meere, und nun schlug er vor – indem er seinen Feldstuhl der Haushälterin zur Verfügung stellte – so lange hier zu verweilen, bis die vermißten Glieder der Gesellschaft dieses Weges einher kämen und sie entdeckten.

Mrs. Lecount nahm den Vorschlag an. Sie war sich vortrefflich bewußt, daß ihr Begleiter sich mit Willen verirrt hatte, aber diese Entdeckung übte keinen störenden Einfluß auf die sanfte Liebenswürdigkeit ihres Benehmens. Der Tag der Abrechnung mit Hauptmann Wragge war noch nicht gekommen; sie fügte nur diesen neuen Zug seinem Sündenregister hinzu und setzte sich auf seinen Feldstuhl zurecht. Hauptmann Wragge lagerte sich in einer romantischen Stellung zu ihren Füßen hin, und die beiden erbitterten Feinde, gruppiert wie ein Liebespaar auf einem Bilde, kamen in eine so leichte und anmuthige Unterhaltung, als wenn sie schon seit zwanzig Jahren Freunde gewesen wären.

 

– Ich kenne Sie, Dame, dachte der Hauptmann, während Mrs. Lecount mit ihm sprach. Sie möchten mich wohl gern wieder bei meiner populären Wissenschaft ertappen, und Sie hätten Nichts dawider, wenn ich in dem Wasserthierbehälter des Professors ersöffe!

– Du Schurke mit dem braunen und dem grünen Auge! dachte Mrs. Lecount, als der Hauptmann den Ball der Unterredung seinerseits auffing und weiter gab, – so dick Deine Haut ist, ich will sie doch noch durchstechen!

In dieser Gemüthsstimmung gegen einander sprachen sie fließend über allgemeine Gegenstände, über öffentliche Angelegenheiten, über die Oertlichkeit und ihren Anblick, über die Gesellschaft in England und in der Schweiz, über Gesundheit, Klima, Bücher, Heirathen und Geld, sprachen ohne einen Augenblick aufzuhören, ohne sich gegenseitig einen Augenblick mißzuverstehen, wohl eine Stunde lang, ehe Magdalene und Noël Vanstone des Weges daher kamen und die Partie von vier wieder vollzählig machten.

Als sie den Gasthof, in welchem das Geschirr auf sie wartete, erreichten, ließ sie Hauptmann Wragge im ungestörten Besitz ihres Herrn und gab Magdalenen einen Wink einen Augenblick hinten zurückzubleiben und mit ihm zu sprechen.

– Ging es gut? fragte der Hauptmann in flüsterndem Tone, ist er fest an Ihrem Schürtzenbande?

Sie schauderte von Kopf bis zu Fuße zusammen, als sie antwortete.

– Er hat mir die Hand geküßt, sagte sie. Sagt Ihnen Das genug? Lassen Sie ihn nicht neben mir sitzen auf dem Nachhausewege. Ich habe ertragen, so viel ich ertragen konnte… für den Rest des Tages schonen Sie mich.

– Ich will Sie auf dem Vordersitz des Wagens unterbringen, versetzte der Hauptmann, neben mir.

Auf dem Heimwege bewahrheitete Mrs. Lecount Hauptmann Wragges Voraussage Sie zeigte ihre Krallen.

Die Zeit hätte nicht besser gewählt werden können, die Umstände konnten sie kaum mehr begünstigen. Magdalenens Geist war niedergedrückt, sie war müde an Leib und Seele, und sie saß gerade der Haushälterin gegenüber, welche durch die neue Anordnung genöthigt war, den Ehrensitz neben ihrem Herrn einzunehmen. In der besten Lage und Gelegenheit, die geringsten Veränderungen wahrzunehmen, welche auf Magdalenens Angesicht vor sich gingen, versuchte Mrs. Lecount ihren ersten Fühler, indem sie die Unterhaltung auf London und die beziehentlichen Vortheile, welche die verschiedenen Viertel der Hauptstadt auf beiden Seiten des Flusses für Niederlassungen hüten. Der immer schlagfertige Wragge durchschaute ihre Absicht eher, als sie geglaubt hatte, und legte sich sofort ins Mittel.

– Sie kommen jetzt zur Vauxhallpromenade, Madame, dachte der Hauptmann, ich will dort sein noch vor Ihnen.

Er ging nun auf eine ganz und gar aus der Luft gegriffene Beschreibung der verschiedenen Stadtviertel von London ein, in denen er gewohnt haben wollte, und rettete, indem er geschickt Vauxhallpromenade als eins derselben anführte, Magdalenen vor der plötzlichen Frage bezüglich dieser Gegend, mit welcher Mrs. Lecount sich vorgenommen hatte, sie zu verblüffen. Von seinen Wohnungen ging er leicht auf sich selber über und ergoß nun seine ganze Familiengeschichte in der Rolle als Mr. Bygrave in die Ohren der Haushälterin, indem er dabei keineswegs das Grab seines Bruders in Honduras mit dem Denkmal von der Hand des schwarzen Naturkünstlers und seines Bruders ungeheuerlich beleibtes Eheweib auf der Hausflur des Hotel garni zu Cheltenham vergaß. Als Mittel, Magdalenen Zeit zu lassen, sich zu fassen, erreichte dieser Ausbruch von selbstbiographischen Mittheilungen seinen Zweck, aber er diente auch zu weiter nichts Anderem. Mrs. Lecount hörte zu, ohne daß sie einem einzigen Worte des Hauptmanns Glauben schenkte. Er bestärkte sie nur in ihrer Ueberzeugung, daß es unnütz sein würde, Mr. Noël Vanstone in ihr Vertrauen zu ziehen, bevor sie thatsächliche Unterlagen gegen Hauptmann Wragges sonst unangreifbare Stellung in der von ihm angenommenen Identität in den Händen habe. Sie wartete ruhig, bis er fertig war und erneuerte dann ihren Angriff.

– Es ist ein eignes Zusammentreffen von Umständen, daß Ihr Oheim einmal auf der Vauxhallpromenade gewohnt haben soll, sagte sie, zu Magdalenen gewandt. Mein Herr hat in derselben Stadtgegend ein Haus, und wir wohnten dort, ehe wir nach Aldborough kamen. Darf ich mir die Frage erlauben, Miss Bygrave, ob Sie Etwas von einer Dame Namens Miss Garth wissen?

Dies Mal stellte sie die Frage, ehe sich der Hauptmann dazwischen legen konnte. Magdalene hätte durch das Vorhergegangene darauf vorbereitet sein sollen; allein ihre Nerven waren durch die früheren Ereignisse des Tages erschüttert worden, und sie konnte die Frage nur nach einer augenblicklichen Pause, um sich zu fassen, beantworten. Ihr Zögern war nur von der Dauer eines Augenblicks und konnte daher keiner Person, die nicht von vornherein argwöhnisch war, auffallen. Allein es dauerte lange genug, um Mrs. Lecounts geheime Ueberzeugung zu bestärken und sie zu ermuntern, ein wenig weiter vorzugehen.

– Ich fragte nur, fuhr sie, die Augen immer fest auf Magdalenen gerichtet, immer die Anstrengungen, welche Hauptmann Wragge machte, um mit ins Gespräch zu kommen, vereitelnd, fort: – weil Miss Garth eine fremde Person für mich ist, und ich bin neugierig, soviel als möglich Näheres von ihr zu erfahren. Den Tag, bevor wir London verließen, Miss Bygrave, machte mir eine Person, welche sich unter dem obengenannten Namen vorstellte, unter sehr außerordentlichen Umständen einen Besuch. Mit einer sanften, einschmeichelnden Art und Weise, mit einem so fein zugespitzten Hohne, der in seiner schlauen Annahme der Sprechweise des Mitleids schier teuflisch zu nennen war, beschrieb sie nun dreist Magdalenens Erscheinung in der Verkleidung in Magdalenens eigener Gegenwart. Sie berührte flüchtig den Herrn und die Frau auf Combe-Raven als Personen, welche allezeit dem älteren und achtbareren Zweige der Familie ein Aergerniß gewesen wären; sie beklagte die Kinder, welche in die Fußtapfen ihrer Eltern träten und von Mr. Noël Vanstone Gelder zu ziehen suchten unter dem Schutze des Charakters einer achtbaren Person und deren Namen. Geschickt ihren Herrn in die Unterhaltung hereinziehend, um zu verhüten, daß, der Hauptmann nach dieser Seite eine Abschwenkung machte, keinerlei kleine Uebertreibungen sparend, jede zarte Stelle verwundend, die die Zunge eines bösen Weibes treffen kann: würde sie ohne allen Zweifel ihren Zweck erreicht und Magdalenen so lange gemartert haben, bis sie sich selbst verrieth, hätte sie nicht Hauptmann Wragge in vollem Laufe angehalten durch einen lauten Schreckensruf und einen plötzlichen Griff nach Magdalenens Hand.

– Zehntausend Mal Verzeihung, meine theure Madame! schrie der Hauptmann. Ich sehe an meiner Nichte Gesicht, ich fühle an meiner Nichte Puls, daß einer ihrer heftigen Nervenanfälle wiedergekommen ist. Liebes Kind, warum zögern Sie unter Freunden zu gestehen, daß Sie leidend sind? Welche übel angebrachte Höflichkeit! Ihr Gesicht zeigt, daß sie Schmerzen hat, nicht wahr, Mrs. Lecount? Durchbohrende Schmerzen, Mr. Vanstone, bohrende Schmerzen auf der linken Seite des Kopfes. Schlagen Sie Ihren Schleier herunter, meine Liebe, und lehnen Sie sich an mich. Unsere Freunde werden Sie entschuldigen; unsere trefflichen Freunde werden Sie entschuldigen für den Rest des Tages.

Bevor Mrs. Lecount einen Augenblick Zweifel hegen konnte an der Wirklichkeit des Nervenanfalls, äußerte sich ihres Herren unruhige Sympathie genau, wie der Hauptmann vorhergesehen hatte, in den thätigsten Kundgebungen. Er ließ halten und bestand auf einen sofortigen Wechsel der Plätze, der bequeme Rücksitz für Miss Bygrave und ihren Oheim, der Vordersitz für ihn selbst und Mrs. Lecount. Hatte Lecount ihr Riechfläschchen bei sich? Vortreffliches Geschöpf! Sie mag es gleich an Miss Bygrave abgeben, und per Kutscher fahre vorsichtig weiter. Wenn der Kutscher Miss Bygrave erschüttert, so soll er keinen Heller Trinkeld erhalten. Magnetismus20 war sehr oft in derlei Fällen nützlich. Mr. Noël Vanstone's Vater war der kräftigste Magnetiseur in ganz Europa; und Mr. Noël Vanstone war seines Vaters Sohn. Sollte er sie magnetisiren? Sollte er den Verwünschten Kutscher anweisen an einen schattigen dazu passenden Ort zu fahren? Oder wäre ärztliche Hilfe hier vorzusehen? Konnte man ärztlichen Beistand irgendwo eher als in Aldborough haben? Jener Esel von einem Kutscher wußte es nicht. Halten Sie jeden anständigen Mann, der in einem Gig vorüberfährt, an, und fragen Sie ihn, ob er ein Arzt ist!

So ging es bei Mr. Noël Vanstone in Einem fort, mit kurzen Pausen, wo er Athem schöpfte, und mit immer mehr steigender Sympathie und Wichtigthuerei auf der ganzen Fahrt nach Hause.

Mrs. Lecount nahm ihre Niederlage, ohne ein Wort zu sagen, hin. Von dem Augenblicke an, wo Hauptmann Wragge sie unterbrach, schlossen sich ihre dünnen Lippen und öffneten sich auf dem ganzen übrigen Wege nicht wieder. Die wärmsten Ausbrüche der Besorgniß ihres Herrn für die leidende junge Dame riefen bei ihr kein äußeres Zeichen von Aerger hervor. Sie nahm von ihm so wenig als möglich Notiz. Sie schenkte dem Hauptmann keine Aufmerksamkeit, der in seiner ausgesuchten Zuvorkommenheit gegen seinen aus dem Felde geschlagenen Feind höflicher wurde, als je zuvor. Je näher sie Aldborough kamen, desto schärfer sahen Mrs. Lecounts harte schwarze Augen auf Magdalenen, welche auf dem Sitze gegenüber lehnte, die Augen geschlossen und den Schleier herunter gelassen.

Erst als der Wagen vor Nordstein-Villa hielt und als Hauptmann Wragge Magdalenen heraushob, ließ sich die Haushälterin herab, ihm einige Beachtung zu schenken. Als er lächelte und den Hut abnahm am Wagenschlage, löste sich plötzlich der strenge Zwang, den sie sich auferlegt hatte, und sie schoß ihm einen Blick zu, welcher die Höflichkeit des Hauptmanns auf der Stelle erstickte. Er drehte sich sofort mit einem eiligen Dank für Noël Vanstones letzte theilnehmende Fragen um und führte Magdalenen in das Haus.

– Ich sagte Ihnen wohl, sie würde noch ihre Krallen zeigen, sagte er. Es ist meine Schuld nicht, daß sie Sie gekratzt hat, ehe ich ihr Einhalt thun konnte. Sie hat Sie doch nicht verletzt, nicht wahr?

– Sie hat mich verletzt, und das hat sein Gutes, sagte Magdalene, – sie hat mir den Muth gegeben, vorwärts zu gehen. Sagen Sie, was morgen geschehen muß, und verlassen Sie sich darauf, daß ich es thun werde.

Sie seufzte schwer, als sie jene Worte sagte und ging in ihr Zimmer hinauf.

Der Hauptmann ging gedankenvoll in das Wohnzimmer und setzte sich, um nachzudenken. Er fühlte sich keineswegs seiner Sache so gewiß, als er hätte wohl wünschen mögen, betreffs des nächsten Schachzugs von Seiten des Feindes nach dem Abschlagen des heutigen Angriffs. Der Abschiedsblick der Haushälterin hatte ihm klar gesagt, daß sie mit ihren Angriffsmitteln noch nicht zu Ende sei, und der alte Milizsoldat fühlte die ganze Wichtigkeit, bei guter Zeit ihr zuvorzukommen, wenn sie wieder einen Schritt vorwärts thäte. Er zündete sich eine Cigarre an und beschäftigte seinen vorsichtigen Geist mit den Gefahren der Zukunft.

Während Hauptmann Wragge in dem Wohnzimmer zu Nordstein-Villa nachsann, dachte Mrs. Lecount in ihrer Kammer auf Villa Amsee nach. Ihr leidenschaftlicher Grimm, ihren ersten Angriff, um den Anschlag ans Licht zu ziehen, Vereitelt zu sehen, hatte sie gegen die augenblickliche Nothwendigkeit, eine zweite Anstrengung zu machen, ehe Noël Vanstones wachsende Verzauberung ihn ihrem Einflusse entrückte, keineswegs blind gemacht. Da die Magdalenen gelegte Schlinge nicht Verfangen hatte, so mußte das nächste Auskunftmittel, Magdalenens Schwester zu verstricken, versucht werden. Mrs. Lecount ließ sich eine Tasse Thee bringen, öffnete ihr Schreibzeug und begann das Concept eines Briefes, der an Miss Vanstone die ältere mit der morgenden Post abgehen sollte.

So endigte das Scharmützel des Tages. Das eigentliche hitzige Gefecht sollte erst noch kommen. —

 
20Mesmerismus.