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– Habe ich das Vergnügen, die Dame vor mir zu sehen, welche diesen Morgen zum Besuch kam? fragte die Haushälterin. Spreche ich mit Miss Garth?

Etwas in dem Ausdrucke ihrer Augen, als sie diese Frage that, mahnte Magdalene, ihr Gesicht weiter ab von dem Fenster nach dem Zimmer hinein zu drehen, als sie es bisher gethan. Der bloße Gedanke, daß die Haushälterin vielleicht sie doch schon unter einem zu starken Lichte gesehen, erschütterte ihre Selbstbeherrschung für den Augenblick. Sie ließ sich Zeit, dieselbe wiederzugewinnen und antwortete nur durch eine Verneigung.

– Empfangen Sie meine Entschuldigung, Madame, wegen des Ortes, an welchem ich genöthigt bin Sie zu empfangen, fuhr Mrs. Lecount in fließendem Englisch, aber mit fremdem Accent, fort. Mr. Vanstone ist hier nur zu einem vorübergehenden Zwecke. Wir reisen morgen Nachmittag an die See, und es wurde für nicht der Mühe werth erachtet, das Haus ordentlich einzurichten. Wollen Sie nicht einen Stuhl nehmen und mich durch Angabe des Zweckes Ihres Besuches erfreuen?

Sie trat unmerklich Magdalenen einen bis zwei Schritte näher und stellte einen Stuhl für sie hin gerade gegenüber dem Lichte des Fensters.

– Bitte, nehmen Sie Platz, sagte Mrs. Lecount, indem sie mit dem zärtlichsten Interesse die entzündeten Augen ihres Gastes durch den Gazeschleier betrachtete.

– Ich leide, wie Sie sehen, an einem Augenübel, erwiderte Magdalene, indem sie fortwährend ihr Gesicht halb vom Fenster abhielt und ihre Stimme sorgsam dem Klange von Miss Garths Organe näherte. Ich muß Sie um die Erlaubniß bitten, meinen Schleier heruntergelassen zu tragen und mich vom Lichte abwärts zu setzen.

Sie sagte diese Worte und fühlte sich wieder Herrin ihrer selbst. Mit vollkommener Fassung zog sie den Stuhl in den Winkel des Zimmers vom Fenster zurück und setzte sich so, daß der Schatten ihres Hutes stark auf ihr Gesicht niederfiel. Mrs. Lecounts salbungsvoller Mund murmelte eine höfliche Beileidsbezeigung. Mrs. Lecounts liebenswürdige schwarze Augen sahen mit noch mehr Interesse auf die fremde Dame als zuvor. Sie stellte einen Stuhl für sich selbst hin, gerade in eine Linie mit Magdalenens Sessel und hielt sich so nahe an die Wand, daß ihr Gast genöthigt war, entweder sein Haupt ein weniger nach dem Fenster herumzuwenden, oder durch Nichtansehen der Person, mit der er sprach, unhöflich zu werden.

– Ja, sagte Mrs. Lecount mit einem vertraulichen kleinen Husten. Und welchem Umstande verdanke ich die Ehre Ihres Besuchs?

– Darf ich Sie erst fragen, ob mein Name Ihnen schon zufällig bekannt ist? sagte Magdalene, indem sie sich nothgedrungen zu ihr hinwendete, aber dabei kaltblütig ihr Taschentuch zwischen ihr Gesicht und das Licht hielt.

– Nein, antwortete Mrs. Lecount mit einem zweiten Hüsteln, das vielleicht ein wenig härter klang als das erste. Der Name Miss Garth ist mir nicht bekannt.

– In diesem Falle, fuhr Magdalene fort, werde ich die Veranlassung, die mich dazu bringt, Ihnen beschwerlich zu werden, am Besten erklären, wenn ich Ihnen sage, wer ich bin. Ich lebte viele Jahre als Erzieherin in der Familie des verstorbenen Mr. Andreas Vanstone auf Combe-Raven, und ich komme hierher im Interesse seiner verwaisten Kinder.

Mrs. Lecounts Hände, welche immer bis dahin rastlos sanft über einander weggeglitten waren, wurden auf einmal still, und Mrs. Lecounts Lippen, welche sich unwillkürlich schlossen, verriethen gleich zu Anfang der Unterredung, daß sie in der That, zu dünn waren.

– Ich bin überrascht, daß Sie draußen das Licht vertragen können ohne einen grünen Augenschirm, bemerkte sie gelassen, indem sie die Selbstvorstellung der Pseudo Miss Garth so vollständig unbeachtet ließ, als ob sie gar nicht gesprochen hätte.

Ich finde, daß ein Schirm über meinen Augen in dieser Jahreszeit sie zu sehr erhitzt, versetzte Magdalene, indem sie ohne Wanken der Haushälterin eine gleiche Ruhe entgegensetzte. Darf ich Sie fragen, ob Sie gehört haben, was ich Ihnen soeben über den Gegenstand meines Besuchs in diesem Hause gesagt habe?

– Darf ich meinerseits Sie fragen, Madame, in welcher Art dieser Gegenstand mich betreffen kann? antwortete Mrs. Lecount.

– Ei gewiß, sagte Magdalene. Ich komme zu Ihnen, weil Mr. Noël Vanstones Absichten in Bezug auf die beiden jungen Damen denselben kund gethan wurden in einem Briefe von Ihnen selbst.

Diese offene Antwort that ihre Wirkung. Sie belehrte Mrs. Lecount, daß die fremde Dame besser unterrichtet war, als sie Anfangs vermuthet hatte, und daß es unter diesen Umständen kaum gerathen sei, sie ungehört gehen zu lassen.

– Bitte um Verzeihung, sagte die Haushälterin, ich verstand erst nicht recht, jetzt verstehe ich Vollkommen. Sie sind im Irrthum, Madame, wenn Sie glauben, daß ich von Einfluß bin oder irgend etwas ausrichten kann in dieser unliebsamen Sache. Ich bin das Organ von Mr. Noël Vanstone, die Feder, die er hält, wenn Sie den Ausdruck gestatten wollen, – weiter Nichts. Er ist ein Manier, und wie andere Kranken hat er seine schlechten und seine guten Tage. Es war sein böser Tag, als seine Antwort an die junge Person geschrieben wurde. – (Soll ich sie Miss Vanstone nennen? – ich will es mit Vergnügen. Das arme Mädchen! Denn wer bin ich, daß ich Unterscheidungen machen sollte, und was geht es mich an, ob ihre Eltern verheirathet waren oder nicht? Wie ich schon gesagt habe, es war einer von Mr. Noël Vanstones bösen Tagen, als jene Antwort abgeschickt ward, und daher hatte ich sie zu schreiben, einfach als sein Secretär in Ermangelung eines Bessern. Wenn Sie in Angelegenheiten dieser jungen Damen – soll ich sie junge Damen nennen, wie Sie sie eben genannt haben? – nein, ich will sie die Miss Vanstones nennen, die armen Dinger.

– Wenn Sie in Angelegenheiten dieser Miss Vanstones sprechen wollen, so will ich Mr. Noël Vanstone Ihren Namen melden und den Zweck Ihres werthen Besuches bei mir. Er ist allein in dem Empfangszimmer und heute ist einer seiner guten Tage. Ich habe den Einfluß einer alten Dienerin über ihn, und ich will diesen Einfluß mit Vergnügen zu Ihren Gunsten anwenden. Soll ich gleich gehen? fragte Mrs. Lecount, indem sie mit dem freundlichsten Eifer, sich nützlich zu machen, aufstand.

– Wenn es Ihnen gefällig ist, sagte Magdalene mit dankbarer Heiterkeit, und wenn ich nicht Ihre Güte zu sehr in Anspruch nehme.

– Im Gegentheil, erwiderte Mrs. Lecount, Sie thun mir damit einen gefallen, indem Sie mir verstatten, in meinem beschränkten Kreise die Ausführung einer edelen That fördern zu dürfen.

Sie verneigte sich, lächelte und verschwand aus dem Zimmer.

Als Magdalene allein war, ließ sie dem Unwillen, den sie in Mrs. Lecounts Gegenwart hatte unterdrücken müssen, freien Lauf. Im Mangel eines bessern Gegenstandes für ihren Zorn nahm sie die Kröte vor. Der Anblick des häßlichen kleinen Gewürmes, welches behaglich auf seinem Felsenthrone saß und mit seinen glänzenden Augen ausdruckslos ins Leere starrte, regte jeden Nerv in ihrem Körper auf. Sie sah das Thier mit tiefem Haß und Abscheu an und redete zornig mit demselben durch ihre Zähne.

– Ich möchte wissen, wessen Blut am Kältesten fließt, sagte sie, Deines, Du kleines Scheusal, oder Mrs. Lecounts? Ich möchte wissen, welches das Schlammigste ist, ihr Herz oder Dein Rücken? Du abscheulicher Molch, weißt Du, was Deine Herrin ist? Deine Herrin ist ein Satan!

Die fleckige Haut unter dem Maul der Kröte zog sich geheimnißvoll zusammen, dann streckte sie sich wieder, als ob sie die eben an sie gerichteten Worte hinunter gewürgt hätte. Magdalene fuhr zurück aus Abscheu vor der ersten wahrnehmbaren Bewegung an dem Leib des Thieres, so gering sie war, und setzte sich wieder. Sie hatte sich keinen Augenblick zu früh gesetzt. Die Thür ging geräuschlos auf, und Mrs. Lecount erschien noch einmal.

– Mr. Vanstone will Sie empfangen, sagte sie, wenn Sie so gut sein wollen, ein paar Minuten zu verziehen. Er wird die Klingel des Sprechzimmers ziehen, wenn seine augenblickliche Beschäftigung beendigt, und er bereit ist, Sie zu empfangen. Nehmen Sie sich in Acht, Madame, daß Sie nicht seine Laune verderben oder ihn irgendwie aufregen. Sein Herz ist für Die, welche um ihn waren, von frühester Jugend auf ein Gegenstand ernster Sorge gewesen. Es ist kein wirkliches Leiden da, es ist nur chronische Schwäche, eine fettige Entartung, ein Mangel an Lebenskraft im Organe selbst. Sein Herz wird ganz ruhig gehen, wenn Sie seinem Herzen nicht zu viel zumuthen. Das ist der Rath all der Aerzte, die ihn besucht haben. Vergessen Sie Das nicht und halten Sie daher Maß in Ihrer Unterhaltung. Da wir einmal von Aerzten sprechen, haben Sie schon ein Mal die Goldene Salbe gegen Ihr trauriges Augenleiden versucht? Sie ist mir als ein treffliches Mitte! geschildert worden.

– Bei mir hat sie nicht angeschlagen, versetzte Magdalene scharf. Bevor ich Mr. Noël Vanstone sehe, fuhr sie fort, möchte ich fragen …

– Bitte um Entschuldigung, unterbrach sie Mrs. Lecount. Bezieht sich Ihre Frage irgendwie auf jene beiden armen Mädchen?

– Sie betrifft die Miss Vanstones.

– Dann kann ich nicht darauf eingehen. Entschuldigen Sie mich, ich kann mich in der That nicht über diese armen Mädchen auslassen (ich bin wirklich erfreut zu hören, daß Sie sie die Miss Vanstones nennen!), außer in Gegenwart meines Herrn und mit meines Herrn ausdrücklicher Erlaubniß. Lassen Sie uns von etwas Anderm sprechen, während wir hier warten. Wollen Sie meinen Schauthierbehälter in Augenschein nehmen? Ich habe allen Grund anzunehmen, daß er in England eine vollständige Neuigkeit ist.

– Ich nahm ihn in Augenschein, als Sie das Zimmer verlassen hatten, sagte Magdalene.

– Wirklich? Sie haben kein Interesse daran, möchte ich behaupten. Ganz natürlich. Ich nahm auch kein Interesse daran, bis ich heirathete. Mein theurer Gatte – todt seit vielen Jahren – bildete meinen Geschmack und erzog mich nach sich selbst. Sie haben doch von dem verstorbenen Professor Lecomte, dem ausgezeichneten schweizerischen Naturforscher, gehört? Ich bin seine Wittwe. Der englische Kreis in Zürich, in welchem ich in Diensten meines verstorben Herrn lebte, änderte meinen Namen englisch in Lecount um. Ihre edlen Landsleute wollen nichts Ausländisches um sich haben, selbst nicht einen Namen, wenn sie es irgend umgehen können. Aber ich sprach ja von meinem Gatten – meinem theuren Gatten, der mir gestattete, ihn in seinen Forschungen zu unterstützen. Ich habe nach seinem Tode nur noch ein einziges Interesse behalten, das Interesse an der Wissenschaft. Ausgezeichnet in Vielen Dingen, war der Professor groß in den Reptilien. Er hinterließ mir seine Exemplare und seinen Thierbehälter, ein anderes Vermächtniß hatte ich nicht. Hier ist der Behälter. Alle Exemplare starben, nur nicht dieser kleine ruhige Kerl, diese allerliebste kleine Kröte. Sind Sie verwundert, daß ich sie liebe? Da ist Nichts zu verwundern. Der Professor lebte lange genug, um mich über das gemeine Vorurtheil gegen das Geschlecht, »das da kreucht auf Erden«, zu erheben. Wenn mans recht betrachtet, ist das Reptiliengeschlecht schön zu nennen. Wenn mans recht zergliedert, ist das Reptiliengeschlecht lehrreich im höchsten Grade.

 

Sie streckte ihren kleinen Finger aus und streichelte sanft den Rücken der Kröte mit der Spitze desselben.

– So wohlthuend bei der Berührung, sagte Mrs. Lecount. So allerliebst und kühl in diesem Sommerwetter! Die Klingel des Sprechzimmers erscholl. Mrs. Lecount stand auf, beugte sich zärtlich über das Aquarium und zirpte beim Fortgehen der Kröte zu, als ob es ein Vogel gewesen wäre.

– Mr. Vanstone ist bereit, Sie zu empfangen. Folgen Sie mir, wenn es gefällig ist, Miss Garth.

Mit diesen Worten öffnete sie die Thür und ging voran aus dem Zimmer.

Drittes Capitel

– Miss Garth, Sir – sagte Mrs. Lecount, indem sie die Thür des Empfangszimmers öffnete und im Tone und der Art und Weise einer gut gezogenen Dienerin das Erscheinen des Besuches anmeldete.

Magdalene befand sich in einem langen, schmalen Zimmer, bestehend aus einem vorderen und einem hinteren Gemach, welche beide zu einem einzigen gemacht worden waren, indem man die Flügelthüren aufgemacht hatte. Nicht weit vom Fenster der Vorderseite, mit dem Rücken gegen das Licht gewandt, sah sie einen schwächlichem flachsblonden, selbstgefälligen kleinen Mann in einem schönen weißen Schlafrock, der viel zu groß für ihn war, auf der Brust im Knopfloche ein Veilchensträußchen, sitzen. Er sah dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt aus. Sein Gesicht hatte eine so zarte Farbe, wie das eines jungen Mädchens, seine Augen waren vom hellsten Blau, seine Oberlippe war geschmückt mit einem kleinen weißen Schnurrbärtchen, gewichst und an beiden Enden wie Miniaturkorkzieher gedreht. Wenn ein Gegenstand seine Aufmerksamkeit besonders erregte, so schloß er halb seine Augen und blinzelte darauf hin. Wenn er lächelte, runzelte sich die Haut seiner Schläfen in ein Gewirr kleiner Runzeln zusammen. Er hatte einen Teller mit Erdbeeren auf seinem Schooße mit einer Serviette darunter, um die Reinheit seines weißen Schlafrocks zu schonen. Zu seiner Rechten stand ein großer runder Tisch, bedeckt mit einer Sammlung fremdländischer Seltenheiten, welche aus den Vier Weltgegenden zusammengebracht schienen. Ausgestopfte Vögel aus Afrika, Porzellanungeheuer aus China, Silberzierrathen und Geschirr aus Indien und Peru, Mosaikarbeiten aus Italien und Bronzegüsse aus Frankreich waren Alles bunt durcheinander aufgeschichtet mit ihren plumpen Holzschachteln und schmutzigen Lederbüchsem in welche sie zur Reise Verpackt werden sollten. Der kleine Mann entschuldigte sich mit freundlichem, aber dummem Lächeln und in geziertem Tone wegen seines Raritätenkrimskrams, seines Schlafrocks und seiner schwachen Gesundheit, winkte mit der Hand nach einem Stuhle und erklärte sich mit gemessener Höflichkeit bereit, die Wünsche seines Gastes zu vernehmen. Magdalene sah auf ihn mit einem augenblicklichen Zweifel, ob Mrs. Lecount sie nicht getäuscht habe. War dies der Mann, welcher unbarmherzig den Weg verfolgte, auf dem sein unbarmherziger Vater vor ihm gewandert war? Sie konnte es kaum glauben.

– Nehmen Sie doch einen Stuhl, Miss Garth, wiederholte er.

Als er bemerkte, daß sie zweifelhaft war, nannte er seinen Namen mit erhobener, dünner, ärgerlich werdender Stimme:

– Ich bin Mr. Noël Vanstone Sie wünschten mich zu sprechen; hier bin ich.

– Erlauben Sie mir, mich zu entfernen, Sir? fragte Mrs. Lecount.

– Durchaus nicht! versetzte ihr Herr. Bleiben Sie hier, Lecount, und leisten Sie uns Gesellschaft – Mrs. Lecount besitzt mein vollstes Vertrauen, fuhr er zu Magdalenen gewendet fort. Was Sie mir auch zu sagen haben, sagen Sie ihr mit. Sie ist ein Stück des Hauses. Es giebt kein zweites Haus in England, das einen solchen Schatz wie Mrs. Lecount aufzuweisen hat.

Die Haushälterin hörte das Lob ihrer häuslichen Tugenden mit an, die Augen unverwandt auf ihr elegantes Vorhemdchen geheftet. Aber Magdalenens rascher Scharfblick hatte vorher einen zwischen Mrs. Lecount und ihrem Herrn gewechselten Blick belauscht, welcher ihr bewies, daß Mr. Noël Vanstone vorher seine Weisung erhalten hatte, was er in Gegenwart seines Gastes zu sagen und zu thun habe. Dieser Argwohn und die Hindernisse, welche das Zimmer bot, daß sie ihren Platz nicht so vom Lichte abgewendet wählen konnte, mahnten Magdalene, auf ihrer Hut zu sein.

Sie hatte ihren Stuhl erst beinahe inmitten des Zimmers gesetzt. Ein augenblickliches Ueberlegen bestimmte sie jedoch, ihren Sessel nach links zu setzen, um sich gerade an die innere Seite und zwar dicht neben den linken Pfosten der Flügelthür zu setzen. In dieser Stellung versperrte sie geschickt den einzigen Weg, aus welchem Mrs. Lecount um den großen Tisch herum kommen und, indem sie einen Stuhl neben ihrem Herrn nahm, Magdalenen von vorn ansehen konnte. Auf der rechten Seite des Tisches war der leere Raum durch das Kamin und seinen Vorraum, durch einige Reisetaschen und eine große Kiste eingenommen. Es blieb für Mrs. Lecount keine Wahl, sie mußte sich selbst in eine Linie mit Magdalene an den andern Pfosten der Flügelthür setzen, oder sich hinter dem Gaste unhöflich vorbei drängen, mit der zu deutlichen Absicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Mit einem bezeichnenden kleinen Husten, und mit einem festen Blick aus ihren Herrn gab die Haushälterin diesen Posten verloren und nahm ihren Platz an der rechten Thürpfoste.

– Warte ein wenig, dachte Mrs. Lecount, die Reihe kommt schon noch an mich!

– Geben Sie Acht, Madame, wo Sie sind, rief Mr. Noël Vanstone, als Magdalene zufällig an den Tisch kam, indem sie den Stuhl rückte. Geben Sie Acht auf die Aermel Ihres Mantels! Entschuldigen Sie, Sie hätten beinahe dort den silbernen Leuchter herunter gestoßen. Ich bitte, denken Sie nicht, daß es ein gewöhnlicher Leuchter ist. Es ist nichts von der Art, es ist ein Leuchter aus Peru. Es sind nur drei von dem Muster auf der Welt. Einer ist im Besitze des Präsidenten von Peru, einer ist im Vatikan eingeschlossen und einer steht auf meinem Tische. Kostet zehn Pfund, ist aber fünfzig werth. Einer von meines Vaters Einkäufen, Madame. Alle diese Sachen sind Einkäufe meines Vaters. Es giebt kein Haus in England, welches solche Seltenheiten besitzt, als dieses. Setzen Sie sich, Lecount; ich bitte, machen Sie es sich bequem. Mrs. Lecount ist wie die Seltenheiten, Miss Garth: sie ist einer von den Einkäufen meines Vaters. Sie sind einer von den Einkäufen meines Vaters, nicht wahr, Lecount? Mein Vater war ein merkwürdiger Mann, Madame; Sie werden hier an ihn aus jedem Schritte erinnert. Ich habe in diesem Augenblicke seinen Schlafrock an. Eine solche Leinwand wie diese wird jetzt nicht mehr gemacht, Sie können sie nicht bekommen um Geld und gute Worte. Wollen Sie vielleicht den Faden einmal anfühlen? Vielleicht verstehen Sie Nichts vom Faden? Vielleicht wollen Sie lieber mit mir von jenen beiden Fräulein, Ihren Schülerinnen, sprechen? Es sind zwei, nicht wahr? Sind es hübsche Mädchen? Voll, frisch, echt englische Schönheiten?

– Entschuldigen Sie, Sir, unterbrach ihn Mrs. Lecount mit traurigem Tone. Ich muß wirklich bitten, mich entfernen zu dürfen, wenn Sie von den armen Dingern in solcher Weise sprechen Ich kann nicht dabei sitzen, Sir, und hören, wie sie lächerlich gemacht werden. Nehmen Sie Rücksicht aus ihre Lage, Rücksicht ans Miss Garth.

– Sie gute Seele! sagte Mr. Noël Vanstone, indem er die Haushälterin mit blinzelnden Augen anschaute. Sie treffliche Lecount! Ich versichere Sie, Madame, Mrs. Lecount ist eine würdige Person. Sie werden bemerken, daß sie die beiden Mädchen bemitleidet. Ich gehe nicht so weit, allein ich kann ihnen Zugeständnisse machen. Ich bin ein Mann mit weitem Herzen. Ich kann für dieselben und für Sie nachgiebig sein.

Er lächelte mit der herzlichsten Artigkeit und nahm dabei eine Erdbeere von dem Teller auf seinem Schooße zu sich.

– Sie betrüben Miss Garth in der That, Sir, ohne daß Sie es beabsichtigen. Sie betrüben Miss Garth, erwiderte Mrs. Lecount. Sie ist nicht so an Sie gewöhnt, als ich es bin. Nehmen Sie Rücksicht auf Miss Garths Lage, Sir. Thun Sie mir den Gefallen, nehmen Sie Rücksicht aus Miss Garth.

So lange hatte Magdalene festes Stillschweigen bewahrt. Der herznagende Unwillen, welcher sie augenblicklich verrathen haben würde, wenn sie ihn hätte an die Oberfläche treten lassen, machte ihr Herz rasch und stolz aufwallen und warnte sie, so lange Noël Vanstone sprach, ihre Lippen ja geschlossen zu halten. Sie würde ihn ununterbrochen noch einige Minuten länger haben reden lassen, wenn Mrs. Lecount sich nicht zum zweiten Male eingemischt hätte. Die ausgesuchte Unverschämtheit des Mitleids der Haushälterin war eine weibliche Unverschämtheit und mahnte sie, sich unausgesetzt selbst zu beherrschen. Sie hatte Miss Garths Stimme und Wesen nie besser nachgeahmt als hier, indem sie die nächsten Worte sprach:

– Sie sind sehr gütig, sagte sie zu Mrs. Lecount; ich beanspruche nicht mit besonderer Rücksicht behandelt zu werden. Ich bin eine Erzieherin und erwarte Das nicht. Ich habe nur um eine Gefälligkeit zu bitten. Ich bitte Mr. Noël Vanstone um seiner selbst willen anzuhören, was ich ihm zu sagen habe.

– Verstehen sie, Sir? bemerkte Mrs. Lecount. Es scheint, daß Miss Garth Ihnen einige ernste Warnungen zu ertheilen hat. Sie sagt, Sie sollten sie anhören um Ihrer selbst willen.

Mr. Noël Vanstones schöne Farbe wurde sofort weiß. Er setzte den Erdbeerteller unter die Ankäufe seines Vaters. Seine Hand zitterte, und seine kleine Gestalt bewegte sich unruhig auf dem Stuhle. Magdalene beobachtete ihn aufmerksam.

– Schon eine Entdeckung, dachte sie, er ist ein Feigling! —

– Was meinen Sie damit, Madame? fragte Mr. Noël Vanstone mit deutlicher Furcht in Blick und Haltung. Was meinen Sie damit, daß Sie sagen, ich müßte es um meinetwillen anhören? Wenn Sie hierher kommen, mich einzuschüchtern, so kommen Sie an den unrechten Mann. Meine Charakterstärke war in unserm Kreise zu Zürich allgemein bekannt; nicht wahr, Lecount?

– Ja wohl, Sir, sagte Mrs. Lecount. Aber wir wollen Miss Garth hören; vielleicht habe ich sie mißverstanden?

– Im Gegentheil, versetzte Magdalene, Sie haben meine Meinung ganz richtig erfaßt. ein Zweck, daß ich hierher gekommen bin, ist, Mr. Noël Vanstone vor den Folgen des Verfahrens zu Warnen, welches er jetzt eingeschlagen hat.

– Lassen Sie Das! bat Mrs. Lecount. O, wenn Sie diesen armen Mädchen beistehen wollen, dann sprechen Sie nicht so! Mildern Sie seinen Entschluß durch Bitten, Madame, befestigen Sie ihn nicht durch Drohungen!

Sie übertrieb ein wenig den Ton der Demuth, in welchem sie diese Worte sprach, machte den tadelnden Blick, der sie begleitete, zu deutlich. Wenn Magalene nicht bereits deutlich genug gesehen hätte, daß es Mrs. Lecounts gewöhnlicher Kunstgriff war, Alles und Jedes anstatt ihres Herrn im Wege der ersten Instanz zu entscheiden und dann ihn zu überreden, daß er nicht nach dem Entschlusse seiner Haushälterin, sondern nach seinem eigenen handle: jetzt würde sie es gesehen haben.

– Hören Sie, was die Lecount eben gesagt hat? bemerkte Mr. Noël Vanstone. Sie hören das freiwillige Zeugniß einer Person, die mich von Kindesbeinen auf gekannt. Nehmen Sie sich in Acht, Miss Garth, nehmen Sie sich in Acht!

Er legte selbstgefällig die Zipfel seines Schlafrocks über seinen Knien zurecht und nahm seinen Teller mit Erdbeeren wieder auf den Schooß.

– Ich wünsche nicht, Sie zu beleidigen, sagte Magdalene. Ich möchte Ihnen nur gern die Augen öffnen für die Wahrheit. Sie kennen nicht die Charaktere der beiden Schwestern, deren Vermögen in Ihren Besitz gefallen ist. Ich habe sie von Kindheit auf gekannt, und ich komme, um Ihnen mit meiner Erfahrung in Ihrem und meiner Schülerinnen Interesse zur Seite zu stehen. Sie haben Nichts zu fürchten von der älteren der Beiden; diese nimmt das harte Loos, das Sie und vor Ihnen Ihr Vater über sie verhängt haben, geduldig hin. Der Sinn der jüngeren Schwester ist entgegengesetzter Art. Sie hat sich bereits geweigert, sich dem Beschlüsse Ihres Vaters zu fügen, und sie verschmäht es jetzt, sich mit Mrs. Lecounts Brief zufrieden zu geben. Nehmen Sie mein Wort darauf, sie ist im Stande, Ihnen ernstliche Noth zu machen, wenn Sie darauf beharren, sie zu Ihrer Feindin zu machen.

 

Mr. Noël Vanstone wechselte noch ein Mal die Farbe und begann auf dem Stuhle hin und her zu rücken.

– Ernstliche Noth zu machen, wiederholte er mit weit offenen Augen. Wenn Sie meinen, mit Briefschreiben, Madame, so hat sie schon Noth genug gemacht. Sie hat ein Mal an mich und zwei Mal an den Vater geschrieben. Einer von den Briefen an meinen Vater war ein Drohbrief, nicht wahr, Lecount?

– Sie sprach ihre Gefühle aus, das arme Kind, sagte Mrs. Lecount. Ich hielt es für hart, ihr den Brief zurückzusenden, aber Ihr theurer Vater mußte es ja am Besten wissen. Was ich damals sagte, war: Warum soll man sie nicht ihre Gefühle aussprechen lassen? Was sind nach Allem ein paar Drohworte? In ihrer Lage, du lieber Gott, sind es Worte und weiter Nichts.

– Ich rathe Ihnen, sich nicht zu sehr darauf zu verlassen, sagte Magdalene Ich kenne sie besser als Sie.

Sie hielt nach diesen Worten inne, hielt inne mit Schrecken. Der Stachel von Mrs. Lecounts Mitleid hatte sie beinahe gereizt, ihren angenommenen Charakter zu vergessen und – mit ihrer eigenen Stimme zu sprechen.

– Sie haben die von meiner Schülerin geschriebenen Briefe erwähnt, begann sie zu Noël Vanstone gewendet aufs Neue, als sie sich wieder ruhig fühlte. Wir wollen darüber nichts sagen, was sie an Ihren Vater geschrieben hat; wir wollen nur von Dem sprechen, was Dieselbe an Sie geschrieben hat. Ist etwas unziemendes in ihrem Briefe, Etwas darin gesagt, was nicht wahr ist? Ist es nicht wahr, daß diese beiden Schwestern grausam um den Theil gekommen sind, den ihres Vaters Testament für sie bestimmte? Sein Testament spricht noch heute für Dieselben und für ihn und spricht nur deshalb erfolglos, weil er sich nicht versah, daß seine Verheirathung ihn nöthige, es aufs Neue zu machen, und weil er starb, bevor er den Irrthum wieder gut machen konnte. Können Sie Das in Abrede stellen?

Mr. Noël lächelte und aß eine Erdbeere.

– Ich versuche nicht, es zu leugnen, sagte er. Fahren Sie fort, Miss Garth.

– Ist es nicht wahr, beharrte Magdalene, daß das Gesetz, welches diesen Schwestern das Geld genommen hat, deren Vater kein zweites Testament gemacht hat, dasselbe nun Ihnen gegeben hat, Ihnen, dessen Vater gar kein Testament gemacht hat? Dies ist doch hart für jene verwaisten Mädchen, nehmen Sie es, wie Sie wollen.

– Sehr hart, versetzte Noël Vanstone. Es erscheint Ihnen gewiß auch in jenem Lichte, Lecount?

Mrs. Lecount schüttelte den Kopf und schloß ihre hübschen schwarzen Augen.

– Merkwürdig, sagte sie, ich kann es nicht anders ausdrücken, merkwürdig. Wie nur die junge Person, nein, wie Miss Vanstone die jüngere herausbrachte, daß mein verstorbener ehrenwerther Herr kein Testament gemacht hat, Das bin ich nicht im Stande, mir zu erklären. Vielleicht hat es in den Zeitungen gestanden? Aber ich unterbreche Sie, Miss Garth. Sie haben Nichts mehr zu sagen über den Brief Ihres Zöglings?

Sie zog geräuschlos ihren Stuhl, als sie diese Worte sprach, einige Zoll über die Linie des Stuhles ihres Gastes nach vorn. Der Versuch war sehr hübsch ausgeführt, erwies sich aber unnütz Magdalene hielt nur ihren Kopf mehr nach links, und die Packkiste auf dem Boden verhinderte Mrs. Lecount, noch weiter vorzurücken.

– Ich habe nur noch eine Frage zu thun, sagte Magdalene. Meine Schülerin machte in ihrem Briefe Mr. Noël Vanstone einen Vorschlag. Ich bitte mir zu sagen, warum er abgelehnt hat, ihn zu berücksichtigen.

– Meine gute Dame! rief Mr. Noël Vanstone, indem er seine weißen Augenbrauen in spöttischem Erstaunen aufzog; sprechen Sie im Ernste? Wissen Sie, was das für ein Vorschlag war? Haben Sie den Brief gesehen?

– Ich spreche ganz im Ernste, sagte Magdalene, und ich habe auch den Brief gesehen. Er ersucht Sie, zu bedenken, wie Mr. Andreas Vanstone’s Vermögen in Ihre Hände gelangt ist, er theilt Ihnen mit, daß die eine Hälfte des Vermögens, getheilt zwischen seine Töchter, der ihnen durch sein Testament bestimmte Theil war, und er fordert von Ihrem Gerechtigkeitsgefühle, daß Sie für seine Kinder thun, was er für sie gethan hätte, wenn er am Leben geblieben wäre. In deutlichen Worten verlangt er von Ihnen, daß Sie die eine Hälfte des Geldes den Töchtern geben, die andere Hälfte überläßt er Ihnen. Das ist der Vorschlag. Warum haben Sie sich geweigert, ihn in Erwägung zu ziehen?

– Aus dem einfachsten Grunde, den es gibt, Miss Garth, sagte Mr. Noël Vanstone mit ausgezeichneter Laune. Gestatten Sie mir, Sie an das wohlbekannte Sprichwort zu erinneren: Was soll dem Narren Geld?11 Das will sagen: Ein Narr ist, wer sein Geld so leicht hergibt. Was ich auch sonst sein mag, ein Narr bin ich nicht.

– Nehmen Sie es nicht auf diese Weise, Sir, tadelte Mrs. Lecount. Seien Sie ernsthaft, ich bitte, seien Sie ernsthaft!

– Ganz unmöglich, Lecount, erwiderte ihr Herr. Ich kann nicht ernsthaft sein. Mein armer Vater, Miss Garth, stellte sich in dieser Sache auf einen hohen sittlichen Standpunct. Die Lecount stellt sich ebenfalls auf einen hohen sittlichen Standpunct, nicht wahr, Lecount? Ich mache es nicht so. Ich habe zu lange in der Luft des Festlands gelebt, als daß ich mir über sittliche Standpunkte den Kopf zerbrechen sollte. Mein Verfahren in dieser Angelegenheit ist so klar wie: zweimal zwei vier ist. Ich habe das Geld bekommen, und ich wäre ein Schwachkopf, wenn ich es wieder hergäbe. Das ist mein Standpunct! Einfach genug, nicht wahr? Ich streite nicht über meine Würdigkeit, ich habe mit Ihnen Nichts vor den Gerichten zu thun, welche ganz auf meiner Seite sind; ich verdenke es Ihnen nicht, daß Sie hierher gekommen sind als ganz fremde Person, um meinen Entschluß zu erproben und umzuwandeln, ich verdenke es den beiden Mädchen nicht, daß sie gern ihre Finger in meinen Beutel stecken möchten. Alles was ich sage, ist: ich bin nicht ein solcher Thor, daß ich ihn öffnete. Pas si bête! wie wir im englischen Kränzchen zu Zürich zu sagen pflegten. Sie verstehen doch Französisch, Miss Garth? Pas si bête!

Er setzte noch einmal seinen Erdbeerteller bei Seite und wischte seine Finger sauber an der schönen weißen Serviette ab.

Magdalene behielt ihre Ruhe. Wenn sie ihn durch eine Regung ihrer Hand in dem Augenblicke hätte tödten können, so würde sie dieselbe wahrscheinlich erhoben haben. Aber sie behielt ihre Ruhe.

– Soll ich Das so verstehen, fragte sie, daß die letzten Worte, die Sie in dieser Sache abzugeben haben, die Worte sind, welche Mrs. Lecount in Ihrem Namen gesagt hat?

– Vollkommen richtig, erwiderte Mr. Noël Vanstone.

– Sie haben Ihres eigenen Vaters Vermögen eben so gut, wie das von Mr. Andreas Vanstone geerbt, und doch fühlen Sie keine Verpflichtung, nach Billig- und Gerechtigkeitsrücksichten oder aus Großmuth gegen diese zwei Schwestern zu handeln? Alles was Sie ihnen sagen zu müssen glauben, ist: Sie haben das Geld bekommen, und Sie weigern sich, einen einzigen Heller davon fahren zu lassen.

– Höchst genau dargestellt! Miss Garth, Sie sind eine geschäftskundige Dame. Lecount, Miss Garth ist eine geschäftskundige Dame.

11A fool and bis money are soon parted.