Missbrauchte Gottesdienerinnen

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Missbrauchte Gottesdienerinnen
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Walter Brendel

Missbrauchte Gottesdienerinnen

Missbrauchte Gottesdienerinnen

Walter Brendel

Impressum

Texte: © Copyright by Walter Brendel

Umschlag: © Copyright by Walter Brendel

Verlag: Das historische Buch, 2021

Mail: walterbrendel@mail.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Vorwort

Fakten und Fragen

Verbrecher in Kirchengewändern

Gehorsam zur sexuellen Gewalt

Enthüllungen zum Missbrauch

Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche unter dem Pontifikat von Papst Franziskus

Missbrauch ohne Strafe

Opfer packen aus

Das Schweigen der Lämmer

Die Wahrheit wird unterdrückt

Das Priestertum bleibt straffrei

Sklavinnen der Sexlust der Priester

Abgetrieben

Berichte, die nie erscheinen sollten

Der Vatikan vor dem UN-Ausschusses gegen Folter

Bücher zu dieser Thematik

Quellen

Vorwort

Dieses Buch thematisiert sexualisierte Gewalt durch Kleriker gegen Nonnen und die Versuche der katholischen Kirche, diese Taten zu vertuschen. Wir stellen fest, dass Nonnen überall auf der Welt von hierarchisch über ihnen stehenden Klerikern sexuell missbraucht wurden und werden. Eine zentrale Rolle spielt der Fall des M.D. der jahrzehntelang Nonnen vergewaltigte, ohne dass die Kirche einschritt. Die systematischen Vergewaltigungen reichen bis hin zu Strukturen, in denen Ordensschwestern wie Sexsklavinnen an Priester verkauft wurden. 2018 räumte der Vatikan ein, dass die Berichte begründet seien und das Problem weiterbestehe.

D. eine betroffene ehemaligen Nonnen, hat bereits vorher auf das Problem der sexualisierten Gewalt gegen Ordensschwestern aufmerksam gemacht, etwa in ihrem autobiografischen Buch „Nicht mehr ich – die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“ oder mit einem Artikel in der katholischen Kulturzeitschrift Stimmen der Zeit. 2019 erschien ihr zweites Buch „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“.

Als Nonne trat sie im Jahr 2003 in den katholischen Orden „Das Werk“ ein. Sie berichtet von einer Vergewaltigung durch einen Pater und einen Übergriff ihres Beichtvaters. 2012 reichte sie eine kirchenrechtliche Klage ein. Der beschuldigte Pater verlor seinen Posten im Staatssekretariat, ist aber bis heute in der Seelsorge des Ordens tätig. Der Beichtvater zog sich nach der Anschuldigung in diesem Jahr von seinem Posten zurück.

Der beschuldigte Pater sagt, es sei einvernehmlicher Geschlechtsverkehr gewesen. Auch der Beichtvater weist bis heute die Vorwürfe von sich. Bei dem Versuch, vor weltlichen Gerichten Gerechtigkeit zu erfahren, hatte D. keinen Erfolg. Die Gerichte sahen keinen hinreichenden Tatverdacht. Einer der beschuldigten Priester von „Das Werk“ erwirkte am Hamburger Landgericht wegen der Dokumentation eine einstweilige Verfügung gegen Arte. Weitere einstweilige Verfügungen sind gegen Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und das Deutschlandradio im Zusammenhang mit dem Film erreicht worden.

In den 1990er Jahren hatten bereits mehrere Ordensschwestern auf den weitverbreiteten sexuellen Missbrauch in u. a. afrikanischen Klöstern aufmerksam gemacht, unter ihnen M., die 1994 einen Bericht über Fälle in 23 Ländern nach Rom sandte. Dieser Bericht kam erst 2001 durch den National Catholic Reporter an die Öffentlichkeit. Erst danach gab es ein Statement aus Rom, in dem diese Fälle bestätigt wurden, das Problem allerdings trotz der vielen dokumentierten Fälle aus verschiedenen Ländern als „auf einen begrenzten geografischen Raum“ relativiert wurde. Später im selben Jahr bat der damalige Papst Johannes Paul II. in einer Botschaft um Entschuldigung gegenüber den Opfern.

Bei einer Umfrage unter 578 Nonnen in den 1990er Jahren in den USA gaben 39,9 Prozent der Befragten an, sexuellen Missbrauch erlebt zu haben, 29,3 Prozent waren während ihrer Zugehörigkeit zur jeweiligen Gemeinschaft sexuell missbraucht worden.

Neben der Pädophilie versucht die Kirche ein weiteres Verbrechen zu vertuschen. Weltweit begehen Priester sexuellen Missbrauch an Ordensfrauen, die ihrer Autorität unterstehen.“ Auch D. schreibt: „Das kirchliche Einrichtungen sich zwar einerseits der Schwere interner Vorfälle offensichtlich bewusst sind, aber andererseits kaum andere Maßnahmen ergreifen als diese möglichst von der Öffentlichkeit fernzuhalten, ist ein Phänomen, mit dem wir schon in den Kindesmissbrauchsfällen traurige Bekanntschaft gemacht haben.“

Bei der Frage, wie ist es möglich ist, dass Ordensfrauen in einer so hohen Zahl Opfer von sexuellem Missbrauch werden konnten, spricht sie u. a. die Machtverhältnisse zwischen Oberinnen bzw. Priestern und Schwestern an sowie den Zölibat, den Umgang mit Tätern und die Frage nach der Stellung von Ordensfrauen im kirchlichen Machtgefüge.

Der vom Sender Arte produzierte Film „Religieuses abusées, l’autre scandale de l’Église“ zu dieser Thematik musste am 20. März 2019 aus der Mediathek entfernt werden. Dazu lag eine gerichtliche einstweilige Verfügung vor, die es dem Sender untersagte. Dagegen geht Arte vor Gericht. Der Sprecher der Geistlichen Familie „Das Werk“ in Bregenz, Pater Georg Gantioler, erklärte auf Anfrage der Katholische Nachrichten-Agentur, ein Rechtsanwalt der Gemeinschaft habe eine einstweilige Verfügung gegen Arte TV, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Deutschlandfunk erwirkt. Eine hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen.

Die viel beachtete Arte-Dokumentation hat Anfang März erschütternde Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche offengelegt. Weltweit sollen Priester demnach Nonnen erpresst und vergewaltigt haben, während die Kirche den Skandal jahrelang zu vertuschen versuchte. Nun aber darf der Kultursender Arte die Doku nicht mehr zeigen.

"Eine Einzelperson", die darin zu sehen ist, fühlt sich nach Angaben des Senders in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt und erwirkte eine einstweilige Verfügung. Das Landgericht Hamburg habe Arte daraufhin am 20. März jede weitere Verbreitung der Dokumentation in ihrer derzeitigen Fassung untersagt.

Arte hat den Beitrag also aus der Mediathek entfernt; auf Facebook aber stellen ihn einige Nutzer noch zur Verfügung, auf der Video-Plattform Youtube ist ein zehnminütiger Ausschnitt zu finden. Der deutsch-französische Sender will sich gegen die einstweilige Verfügung wehren. "Arte hält diese Entscheidung aus formalen wie aus sachlichen Gründen für falsch und hat sich daher entschlossen, Widerspruch einzulegen", sagt Claude Savin, die Pressesprecherin des Senders.

Die Dokumentation war am Abend des 5. März zur besten Sendezeit gelaufen. Insgesamt verfolgten sie in Deutschland und Frankreich, wo sich Arte empfangen lässt, zweieinhalb Millionen Menschen. Der Marktanteil in Frankreich lag mit 6,6 Prozent drei Mal so hoch wie der tägliche Durchschnitt; in Deutschland brachte es die Sendung mit 2,2 Prozent immerhin auf das Doppelte des Durchschnitts. Wie noch keine andere zuvor, gab die Dokumentation tiefe Einblicke in den Missbrauch an Nonnen in der katholischen Kirche, insbesondere in Frankreich und Afrika. Die Dokumentarfilmer Eric Quintin und Jean Marie Raimbault hatten zwei Jahre lang weltweit betroffene Ordensfrauen ausfindig gemacht, die bereit waren, über die Übergriffe zu sprechen.

Die Muster in deren Erzählungen ähnelten sich: Häufig machten Priester die Frauen als geistliche Begleiter und Beichtväter seelisch von sich abhängig, bevor sie sexuelle Gewalt ausübten. Nonnen, die schwanger wurden, drohte der Verstoß aus ihren Gemeinschaften und wurden zur Abtreibung gezwungen. Kirchenobere wussten offenbar nicht nur Bescheid, sondern schützten die Täter. Anfang Februar 2019 gab Papst Franziskus den Skandal offiziell zu. "Ich glaube, es wird immer noch getan", sagte er über den Missbrauch an Nonnen.

"Arte prüft alle rechtlichen Möglichkeiten in dieser Angelegenheit", sagt Sprecherin Savin. Bei einem Widerspruch gegen eine einstweilige Verfügung würde es zu einem Hauptsacheverfahren mit Verhandlungstermin kommen. Arte werde die Dokumentation vorerst nicht mehr zeigen, betont Savin mit Verweis auf drohende Strafen. Bei Verstößen gegen die Verfügung drohen nach Auskunft des Hamburger Landgerichts ein Ordnungsgeld von bis zu 250 000 Euro oder eine Ordnungshaft von bis zu zwei Jahren.

Das Bundesverfassungsgericht nahm unter den Aktenzeichen - 1 BvR 1078/19 – und - 1 BvR 1260/19 – die Verfassungsbeschwerde nicht an. Dazu Auszüge aus der Begründung:

 

Die Beschwerdeführerinnen sind Medienunternehmen. Ihnen wurde in einstweiligen Verfügungsverfahren ohne mündliche Verhandlung und ohne Anhörung im gerichtlichen Verfahren unter Androhung von Ordnungsmitteln untersagt, bestimmte Äußerungen beziehungsweise Bildnisse zu verbreiten. Sie machen geltend, dass die Abmahnungen, die ihnen gegenüber vorprozessual ausgesprochen wurden, nicht identisch waren mit von den jeweiligen Antragstellern bei Gericht eingereichten Verfügungsanträgen und deren Begründung. Die Beschwerdeführerinnen sehen sich hierdurch in ihren Verfahrensrechten verletzt und rügen mit ihren Verfassungsbeschwerden jeweils die Verletzung ihrer Rechte auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG.

Die Verfahren haben nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 30. September 2018 zu den Aktenzeichen 1 BvR 1783/17 und 1 BvR 2421/17 keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung mehr. Auch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte nicht mehr angezeigt. Denn nicht jede Verletzung prozessualer Rechte unter Berufung auf die prozessuale Waffengleichheit kann im Wege einer auf Feststellung gerichteten Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Vielmehr bedarf es eines hinreichend gewichtigen Feststellungsinteresses. Die Geltendmachung nur eines error in procedendo reicht hierfür nicht.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Nun, der Autor erspart sich jeden Kommentar dazu. Laut der SZ hat bei dem Fall eine Lagerbildung in den Medien stattgefunden. Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, das Deutschlandradio und Arte zitierten D. als „Betroffene der Gewalt und glaubwürdige Analytikerin klerikaler Strukturen“. „Konservativ-katholische Publikationen“ wie die Herder-Korrespondenz, die Tagespost oder die Nachrichtenseite kath.net legten ihren Fokus der Berichterstattung dagegen auf die Positionen der beiden Priester.

Stellen wir dazu an Hand des Filmes von Arte fest:

Der sexuelle Missbrauch innerhalb der Katholischen Kirche ist seit Jahren traurige und erschütternde Realität. Mit dem zunehmenden Bekanntwerden des sexuellen Missbrauchs an Ordensfrauen durch katholische Priester weltweit hat diese Thematik eine neue Dimension erreicht.

Der Inhalt dieser Dokumentation ist wahrlich keine leichte Kost. Es werden mutige Ordensfrauen gezeigt, die über ihre Erfahrungen von sexuellem Missbrauch durch Priester erzählen. Oft brauchen sie Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, bis sie über das Erlebte öffentlich zu sprechen wagen. Sie erzählen von Abhängigkeiten zu Seelsorgern, die sie eigentlich spirituell begleiten anstatt sexuell missbrauchen sollten. Ein klarer Fall von Amtsmissbrauch.

Nonnen werden weltweit sexuell missbraucht. Es gibt kaum Menschen, mit denen sie über ihre Erlebnisse sprechen können. Oft werden Nonnen zu Ausbildungszwecken nach Rom geschickt und geraten dort in Kontakt mit Kirchenmännern, die sie sexuell missbrauchen.

In ärmeren Ländern werden Nonnen sexuell missbraucht, weil ihre Jungfräulichkeit Garantie für die Täter ist, sich nicht mit AIDS anzustecken. Die Armut der Nonnen sowie deren Familien ist willkommenes Druckmittel, um die Nonnen erpressen zu können. Hilfe wird nur dann gewährt, wenn sie sexuelle Dienste leisten.

Amtsmissbrauch und sexueller Missbrauch sind jedoch keine Skandale, die ausschließlich in Entwicklungsländern stattfinden, sondern sind weltweit verbreitet. Die physischen und psychischen Verletzungen bleiben ein Leben lang präsent. Werden Nonnen als Folge von sexuellem Missbrauch schwanger, so werden sie zur Abtreibung oder zur Freigabe zur Adoption ihrer Kinder gezwungen.

Abtreibung gilt in der Kirche als große Sünde, denn es bedeutet das Töten eines Gott gewollten Lebens. Die Kirche macht sich hier mitschuldig und kommt damit derzeit ungestraft davon.

Oft werden Nonnen nach einer Abtreibung aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen und ihr Schweigen über die Vorfälle mit Geld erkauft. Sie haben somit alles verloren: Ihr Kind, ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und ihren ursprünglich in die Gemeinschaft eingebrachten Besitz. Sie stehen vor dem Nichts. Ihrer Würde und Jungfräulichkeit beraubt, können sie oft auch nicht auf familiäre Hilfe hoffen. Sie wollten Gott und den Menschen dienen und wurden nur betrogen und ausgenutzt.

Im Film werden Personen gezeigt, die zu ersten Anlaufstellen für betroffene Nonnen geworden sind. Sie sind Ansprechpersonen, begleiten die psychologische Aufarbeitung oder das Einleiten rechtlicher Schritte. Der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein, doch wichtig und unerlässlich in einem noch lang andauernden Prozess, der erst langsam ins Bewusstsein der Öffentlichkeit tritt. Diese Dokumentation trägt wesentlich zur Bewusstseinsbildung bei. Aus rechtlichen Gründen wird in diesem Buch auf Bildmaterial von Opfern und Tätern verzichtet. Die Namen wurden geändert

Fakten und Fragen

Als der Produzent Harvey Weinstein im Herbst 2017 von mehreren Schauspielerinnen sexueller Übergriffe angeklagt wurde, zeigte sich in den folgenden Wortmeldungen aus Hollywood ein Muster, das wir so ähnlich auch von den Missbrauchsfällen am Canisius-Kolleg und an der Odenwaldschule kennen: Obwohl scheinbar jeder wusste, dass es diesen Missbrauch gab, waren doch alle überrascht, als er öffentlich wurde. Das heißt, beinahe alle, die etwas wussten oder ahnten, haben es hingenommen anstatt Stellung zu beziehen. Während die, die zwar nichts Genaues wussten – aber es gekonnt hätten, wenn sie nur gewollt hätten – einfach stillschweigend davon ausgegangen sind, dass es so schlimm dann sicher doch nicht sein könne. Und wieder andere haben die Vorkommnisse geradeheraus bagatellisiert oder Witze darüber gemacht. Es waren ja nur absurde Gerüchte – oder etwa nicht?

Eben diese Mischung aus Gerüchten, Verdrängung und Witzen kennen vermutlich nicht wenige katholische Gläubige in Bezug auf eine Opfergruppe, die es bisher noch kaum je geschafft hat, als solche ernst genommen zu werden: Ordensfrauen. Auch über die „sexuellen Erfahrungen“ von „Nonnen“ macht man lieber Witze. Mancher glaubt, es wäre alles doch eher harmlos, das heißt, auf wenige einvernehmliche sexuelle Handlungen beschränkt, zu der auch die eine oder andere Ordensfrau sich einmal hinreißen lässt – was für eine unterhaltsame Vorstellung, nicht? Auch Ordensfrauen sind ja nur Menschen. Andere, die diese Vorstellung weniger lustig finden mögen, gehen vielleicht davon aus, dass es da außer Gerüchten gar nichts gibt. Wie auch immer Einzelne damit umgehen: Es ist traurig. Denn wir sind über die Stufe bloßer Gerüchte längst hinaus. Die Faktenlage über den von Ordensfrauen erlittenen sexuellen Missbrauch ist schlicht und einfach bedrückend. In der Kirche vernimmt man dazu bislang allerdings nur dröhnendes Schweigen. – Dieses Schweigen kann ein Artikel allein freilich nicht beenden. Aber er kann zumindest die gesammelten, längst allen zugänglichen Fakten einmal mehr ins Licht der Öffentlichkeit stellen.

Die Nonnen von Sant’Ambrogio – Geschichte eines Missbrauchssystems

Vor einigen Jahren hat der Kirchenhistoriker Hubert Wolf mit seinem Buch „Die Nonnen von Sant’Ambrogio“ einen Bestseller gelandet. Die von ihm analysierten Quellen werfen Licht auf eine Geschichte, die der Feder von Dan Brown entsprungen sein könnte. Bedauerlich ist, dass sie von der kirchlichen Öffentlichkeit auch so behandelt zu werden scheint. Denn man kann und darf dieses Buch gerade nicht wie reine Fiktion zur Seite schieben, schließlich zitiert Wolf über Seiten hinweg eins zu eins historische Quellen. Er erzählt die Geschehnisse in einem römischen Frauenkloster im 19. Jahrhundert vor allem als die einer falschen Heiligen, der hochrangige Kleriker – darunter brisanterweise ein sehr prominenter Verfechter des Unfehlbarkeitsdogmas – auf den Leim gehen. Dabei ist diese Geschichte zugleich, wenn nicht vor allem, die Geschichte eines Missbrauchssystems. Über viele Seiten hinweg zitiert Wolf Aussagen, in denen Betroffene en detail schildern, wie die „Mutter Äbtissin“ kraft ihrer Machtposition und ihrer „Aura der Heiligkeit“ die ihr anvertrauten Schwestern nicht nur systematisch sexuell missbraucht, sondern diesen Missbrauch auch noch zum Gnadenerweis deklariert hat, ohne dass jemand es gewagt hätte, sich ihr zu verweigern oder gar sich ihr in den Weg zu stellen. Was Wolf hier zu Tage gefördert hat, ist ein Paradebeispiel eines Missbrauchssystems: Eine Person, die über andere praktisch absolut verfügen kann, nutzt ihre Machtfülle aus, um sich an den von ihr Abhängigen sexuell zu vergehen, und lässt die wenigen Personen, die eigentlich eine Kontrollfunktion wahrnehmen könnten, auch noch bei diesem Missbrauch assistieren.

Umso mehr erstaunt es, dass die missbrauchten Frauen im Buch kaum als Opfer in den Blick kommen. Denn auch wenn Wolf das Geschehen ausdrücklich als sexuellen Missbrauch bezeichnet, scheint sich manchem der Einwand aufzudrängen, den der Rezensent der Neuen Zürcher Zeitung wie folgt formuliert: „Ob die Ausdrücke ‚sexueller Missbrauch’ und ‚lesbische Sexualität’ dem Fühlen und Denken von Ordensschwestern, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einfachsten ländlichen Verhältnissen aufwuchsen, gerecht werden, steht dahin.“ Nun ist es tatsächlich möglich, dass die Opfer sich selbst nicht unbedingt als Opfer gesehen haben, waren sie doch fest davon überzeugt, Gnadenerweise zu erhalten – ähnlich vielleicht wie eine junge Schauspielerin ein Treffen mit einem einflussreichen Produzenten als Gnadenerweis erleben kann. Zudem dürften bei Novizinnen im 19. Jahrhundert tatsächlich weder das Bewusstsein für ihr Recht auf persönliche und sexuelle Selbstbestimmung noch die zur Benennung des erlebten Unrechts nötigen Begriffe vorhanden gewesen sein. „Sexuellen Missbrauch“, „übergriffiges Verhalten“ oder „Grenzverletzungen“ hat es im 19. Jahrhundert als Begriffe wohl kaum gegeben. Dabei sind solche Begriffe gerade für Opfer von zentraler Bedeutung, nicht nur um das Erlebte auszudrücken, sondern zu allererst um es selbst zu begreifen. Die Nonnen von Sant’ Ambrogio hatten also kaum eine Chance, begreifen zu können, welches Unrecht ihnen angetan wurde. Aber aus diesem mangelnden Bewusstsein der Opfer zu schlussfolgern, dass das, was diese Frauen erlebt haben, kein Missbrauch gewesen wäre, hieße Machtmissbrauch für unbedenklich zu erklären, solange nur eben den Missbrauchten das Bewusstsein für das ihnen angetane Unrecht fehlt. Es hieße, den Tätern in die Hand zu spielen, zu deren Strategie es gehört, ihren Opfern einzureden, der Missbrauch wäre keiner, sondern etwas ganz Normales, wenn nicht gar eben ein besonderer Gnadenerweis. Ein allzu großes Verständnis für eine Zeit oder eine andere Kultur, in der Missbrauch vermeintlich normal erscheint, verbietet sich spätestens dann, wenn es sich um einen Missbrauch handelt, der unserer Zeit und Kultur näher ist, als wir es uns wünschen können.

Denn auch wer geneigt sein mag, den Missbrauch der Nonnen von Sant’ Ambrogio als Vergangenheit abzutun – als etwas, das es früher gegeben haben mag, das uns heute vielleicht noch erschrecken kann, dessen Existenz es natürlich auch irgendwie anzuerkennen und das es vielleicht aufzuarbeiten gilt, das aber sonst keinen Handlungsdruck mehr nach sich zieht, weil die Täterinnen, die Täter und Opfer von damals nicht mehr unter uns sind – kann nicht wirklich davon ausgehen, dass solche Übergriffe Vergangenheit sind. Jeder, der es sehen will, weiß, dass es auch in unseren Ordensgemeinschaften heute noch Täter, Täterinnen und Opfer von sexuellem Missbrauch gibt.

Die Berichte von M.

Wer eine Zeit lang auf dem afrikanischen Kontinent gelebt hat oder wer in den vergangenen zwanzig Jahren in Rom Theologie studiert oder unterrichtet hat, kennt vermutlich einschlägige anzügliche Witze über afrikanische Klöster, Priester und Ordensschwestern, über ihren Kinderreichtum und ihre Verhütungsprobleme. Dass diese Witze augenzwinkernd beiseitegeschoben werden, macht es nicht besser. Im Gegenteil: Angesichts der längst bekannten Fakten erscheint es völlig unverständlich, dass das Leid der betroffenen Frauen, die sich ja in den Dienst der Kirche gestellt haben, niemanden in der Kirche ernsthaft zu interessieren scheint. Und es ist schlichtweg unbegreiflich und empörend, dass dieses Problem immer noch als ein nicht allzu ernst zu nehmendes und allenfalls rein afrikanisches wahrgenommen wird. Es ist ja nicht so, dass die Fälle den zuständigen kirchlichen Verantwortlichen, insbesondere der Ordenskongregation in Rom, nicht bewusst wären. Es scheint nur einfach nichts dagegen unternommen zu werden. Dieser Umstand wird besonders deutlich, wenn man sich die Diskrepanz vor Augen führt, die zwischen den Ausmaßen der bekannt gewordenen Vorfälle und der offiziellen kirchlichen Reaktion auf diese Fälle besteht. Neben M. von dem Missionaries of Our Lady of Africa und der Benediktinerin E. war es vor allem O’D. von den Medical Missionaries of Mary, die in den 1990er-Jahren auf das Problem aufmerksam machte. Die amerikanische Ordensfrau und Entwicklungshelferin arbeitete jahrelang in verschiedenen afrikanischen Ländern und wurde in dieser Zeit immer wieder mit Fällen konfrontiert, in denen Ordensfrauen von Priestern missbraucht worden waren. Die schiere Anzahl und Schwere der Fälle veranlassten sie schließlich dazu, eine umfassende Dokumentation darüber nach Rom zu schicken. Im Jahr 1995 ging ihr Bericht, zusammen mit denen anderer, an den damaligen Vorsitzenden der Religiosenkongregation, Eduardo Martínez Somalo.

 

In diesen Berichten ist von weitverbreitetem Missbrauch (widespread abuses) von Ordensfrauen durch Priester die Rede. Priester fürchteten, sich bei Prostituierten und anderen sexuell aktiven Frauen mit AIDS anzustecken, und würden daher Schwestern als „sichere“ Sexualpartnerinnen betrachten. Es soll vorgekommen sein, dass „eine Oberin von Priestern aufgefordert wurde, ihnen Schwestern für sexuelle Gefälligkeiten zur Verfügung zu stellen. Als die Oberin das ablehnte, erklärten die Priester, dass sie ansonsten gezwungen wären, ins Dorf zu gehen, um dort Frauen zu finden, und dass sie so AIDS bekommen könnten“. Priester würden den sexuellen Kontakt unter anderem im Austausch für Empfehlungsschreiben erzwingen, auf die die Schwestern angewiesen wären. In einem Fall wären 29 Ordensfrauen ein und derselben Gemeinschaft in Malawi von Diözesanpriestern schwanger geworden. Als die Oberin sich beim Bischof darüber beschwerte, sei sie vom Diözesanbischof abgesetzt worden.

In vielen Fällen, in denen Schwestern schwanger geworden wären, hätten Priester milde Ermahnungen erhalten, während die schwangeren Frauen ihre Gemeinschaften verlassen mussten, was sie nicht selten in extreme existenzielle Notlagen brachte. Für ihre Familien eine Schande, von ihren Gemeinschaften verstoßen, sahen sich manche – dann alleinstehende Mütter – gezwungen, als Zweit- oder Drittfrauen in eine Ehe einzuwilligen oder aber sich zu prostituieren, um ihr eigenes Überleben und das ihres Kindes zu sichern, wobei sie sich zusätzlich der Gefahr aussetzten, sich mit AIDS zu infizieren. Am meisten schockieren Fälle, in denen es zum Tod der Opfer oder zu erzwungenen Abtreibungen gekommen sein soll. So berichtet O’D. unter anderem über einen Fall, in dem ein Priester eine junge Ordensfrau, die von ihm schwanger geworden war, zur Abtreibung in ein Krankenhaus gebracht hatte. Die Frau wäre während des Eingriffs verstorben. Derselbe Priester, der sie missbraucht und zur Abtreibung gezwungen hatte, habe anschließend die Requiem-Messe für sie gehalten.

Wie fiel die offizielle Reaktion auf diese Berichte aus? Zunächst blieben beide – die Berichte ebenso wie eventuelle Reaktionen der Ordenskongregation – geheim. Erst als die Berichte 2001 an die Öffentlichkeit kamen und unter anderem vom National Catholic Reporter und der New York Times aufgegriffen wurden, gab der damalige vatikanische Pressesprecher, Joaquín Navarro-Valls, eine Erklärung ab, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Ja, diese Fälle wären in Rom bekannt. Allerdings wäre das Problem auf einen kleinen geographischen Raum beschränkt. Man würde daran arbeiten, die Ausbildung dort zu verbessern und einzelne Fälle zu lösen. Auch dürfe der heldenhafte Glaube der großen Mehrheit von Ordensleuten nicht vergessen werden. Viel mehr als die Herausgabe dieses Statements scheint seither nicht geschehen zu sein.

Auch wenn die gängigen Gerüchte und Witze über afrikanische Klöster zeigen, dass diese Kommunikationsstrategie, nämlich die Rede von einem „kleinen geographischen Raum“, aufgegangen zu sein scheint, spricht tatsächlich nicht viel dafür, dass Navarro-Valls mit der Behauptung der lokalen Beschränktheit des Phänomens Recht gehabt haben könnte. Denn erstens liefert er in seinem Statement keinerlei Evidenz für diese Behauptung, und zweitens werden in den Berichten immerhin Vorfälle in dreiundzwanzig Ländern genannt, darunter auch Italien, Irland, die Philippinnen, Indien, Brasilien und die Vereinigten Staaten.

Eine amerikanische Studie mit erschreckendem Befund

Navarro-Valls hätte zudem eine Studie kennen können, die einige Jahre zuvor in den Vereinigten Staaten durchgeführt worden war. Ausgangspunkt der Studie war der klinische Alltag: US-amerikanische Psychologen, die mit den Traumata sexuell missbrauchter Ordensfrauen vertraut waren, fassten Mitte der 1990er-Jahre den Entschluss, sich systematisch mit der Thematik auseinanderzusetzen. Weil die Literatur zu solchen Fällen ausgesprochen mager – um nicht zu sagen non-existent – war, brachten sie selbst eine Untersuchung zu diesem Thema auf den Weg. Sie befragten 578 Ordensfrauen aus drei verschiedenen Instituten in den USA. Im Ergebnis erwies sich sexueller Missbrauch als erschreckend normal. Von den befragten Frauen gaben 39,9 Prozent an, sexuellen Missbrauch erlebt zu haben. 29,3 Prozent sagten, sie wären während ihrer Zugehörigkeit zur jeweiligen Gemeinschaft sexuell missbraucht worden. In 39 Prozent aller berichteten Fälle kam es auch zu genitalem Kontakt.

Die häufigste Form des Missbrauchs war sexuelle Ausbeutung. Sie ist dadurch definiert, dass ein in einer professionellen Beziehung bestehendes Machtungleichgewicht vom überlegenen Part, der eigentlich zur professionellen Distanz verpflichtet wäre, dazu ausgenutzt wird, sich der ihm anvertrauten Person sexuell zu nähern. Aufgrund des bestehenden Machtungleichgewichts und der Rolle des professionellen Parts kann es in solchen Beziehungen keine einvernehmlichen sexuellen Kontakte geben. Die Forscher dazu: „Sexuelle Ausbeutung lässt sich am besten im Sinne einer Verletzung der Berufsethik definieren. Sie liegt vor, wenn eine Person in einer professionellen Verantwortungsposition die Abhängigkeit und Verwundbarkeit einer ihr anvertrauten Person ausnutzt. [...] Es ist immer die Aufgabe des Verantwortlichen, sexuelles Verhalten in diesen Beziehungen zu vermeiden, weil: (a) es eine Verletzung der Professionalität darstellt; (b) es sich um einen Missbrauch von Autorität und Macht handelt; (c) Verwundbarkeit und Abhängigkeit einer schwächeren Person ausgenutzt werden; und (d) eine sinnvolle Zustimmung unmöglich ist, da die Zustimmung zu sexuellen Handlungen nur in einer Atmosphäre der Gegenseitigkeit und Gleichheit erfolgen kann.“ Das bedeutet auch: „Ausbeutung geschieht unabhängig davon, ob der unterlegene Part glaubt, freiwillig eine sexuelle Beziehung mit dem Professionellen einzugehen oder nicht.“ Zwei Umstände ließen die Opfer tatsächlich in vielen Fällen glauben, sie hätten in die Handlungen eingestimmt: Dass der Priester durch die Taten sein eigenes Zölibatsversprechen brach, erzeugte für die Schwestern eine Illusion von Augenhöhe zwischen ihnen und dem jeweiligen Täter. Zum anderen bauten die Täter oder Täterinnen in vielen Fällen den Eindruck einer besonderen, womöglich gottgefälligen Liebesbeziehung auf. Viele Opfer realisieren erst spät, dass sie ausgenutzt und missbraucht wurden, etwa wenn die vermeintlich liebende Person ihr freundliches Gesicht ablegte, ein „Nein“ des Opfers nicht akzeptierte oder über dessen Nöte und Ängste gleichgültig oder gewaltsam hinwegging und das Machtungleichgewicht dadurch wieder im vollen Umfang spürbar wurde. Ein Schlüsselerlebnis schien für viele die Erkenntnis zu sein, dass derselbe Täter oder dieselbe Täterin auch sexuellen Umgang mit anderen Schwestern pflegte.

Wie schon angedeutet, gab es auch Täterinnen: Um die 13 Prozent der Befragten gaben an, sexuelle Ausbeutung oder Belästigung durch eine Mitschwester erlebt zu haben. In den weitaus meisten Fällen waren die Täter aber männlich und Kleriker. Meistens waren sie die Beichtväter und geistlichen Begleiter ihrer Opfer. Die Opfer nennen als Folgen der Missbrauchserfahrungen unter anderem Schuld- und Schamgefühle, eine gestörte Gottesbeziehung, Depressionen bis hin zu Suizidgedanken.

Über die Studie wurde in zwei amerikanischen Fachzeitschriften berichtet: Im Sommer 1998 erschien eine Zusammenfassung der Ergebnisse in der Review for Religious, im Dezember desselben Jahres in der Review of Religious Research. Was waren die Folgen? Was ist seither geschehen? Ein Zeitungsbericht zitiert einen der Forscher mit den Worten, die Forschergruppe hätte damals zusagen müssen, keine Pressemitteilung über die Studie herauszugeben, weil die Leadership Conference of Women Religious (LCWR) besorgt gewesen wäre, die Daten könnten sensationalistisch ausgeschlachtet werden. Der Forschungsleiter hätte den Eindruck gehabt, man wolle seine schmutzige Wäsche lieber nicht in der Öffentlichkeit waschen. Offizielle Reaktionen auf die Studie scheint es in den vergangenen zwanzig Jahren weder von der LCWR noch von einzelnen Instituten gegeben zu haben.