Graphologie. Schriften 1

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Graphologie. Schriften 1
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Ulrich Sonnemann

Schriften in 10 Bänden

Herausgegeben von Paul Fiebig

Band 1

mit einem Geleitwort von Miriam Ehrenberg

zu Klampen

Ulrich Sonnemann

Graphologie

Handschrift als Spiegel

Irrationalismus im Widerstreit

Erste Auflage 2005

© 2005 zu Klampen Verlag, Springe

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung und Satz: Friedrich Forssman

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 978-3-866743-54-0

Die Schriften Ulrich Sonnemanns werden gefördert

von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

und der Ulrich Sonnemann-Gesellschaft.

Die Übersetzungen von ›Handwriting Analysis‹ und ›Existence and Therapy‹

wurden von der Universität Kassel im Rahmen eines Forschungsprojekts

der DFG über die Vorstudien zur ›Negativen Anthropologie‹

von Ulrich Sonnemann ermöglicht, das von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

und Rolf-Peter Warsitz unter Mitarbeit von Claus-Volker Klenke u. a.

durchgeführt wurde.

Mir ging es immer um die Gegenposition zur Hegelschen, die Vernunft entmächtigenden, Ausweitung ihres Begriffs auf ihr eigenes Gegenteil. Wenn das Ganze vernünftig ist, bleibt nichts, woran die Vernunft sich abzuarbeiten hätte. Ihre ganze eigene Aufgabe in der Welt, sich mit vielem auseinanderzusetzen, was auf den ersten Blick als irrational erscheint, vielleicht auch wirklich mit Recht dafür gilt, aber auch jedes Recht hat, selber nicht bereits Vernunftträger zu sein, wird verwischt, wo der Begriff der Vernunft sich so maßlos erweitert, daß es am Schluß überhaupt nichts mehr gibt, was ihm nicht subsumiert werden kann; oder dort, wo es nicht erfolgreich subsumiert werden kann, als gleichgültig ad acta gelegt wird.

Ulrich Sonnemann 1990

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Geleitwort

Erste Abteilung: Graphologie

Handschriftenanalyse im Dienste der Psychodiagnostik - Eine Darstellung der allgemeinen und klinischen Graphologie

I Einleitung

Wesen und Absicht der Graphologie. Geschichte und Grundannahmen

Die Probleme der Persönlichkeitspsychologie und die Theorie der Ausdrucksbewegung

Wie objektiv ist die Graphologie?

II Die graphologische Methode

Grundbegriffe

Die Schriftprobe als Ganzes

Die Bewertungsdimensionen

Die interpretative Synopse

III Allgemeine und klinische Anwendungen

Zwölf Zeilen von Joan. Eine Demonstration der graphologischen Methode

Ein Problem bei der Personalentscheidung

Graphologische und psychiatrische Persönlichkeitsbegriffe

Psychopathologische Haupttypen und ihr graphischer Ausdruck

Einige abnorme Schriftproben und ihre Analysen

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang zur ersten Abteilung

Lebenserwartung in der Handschrift

Graphologische Bewertung und Vorhersage der Eignung und des Erfolgs als Führungskraft

Handschrift als Spiegel

Zweite Abteilung: Das ›Irrationale‹

Über den Widerspruch im Irrationalismus

Hellseherei

Max Picard, ›Hitler in uns selbst‹

Der Teufel und sein deutsches Privileg

Die Feyerabend-Kontroverse

Theorieverbote des Wissenschaftsglaubens

Dei ex machinis

Auferstehung der Windmühlen

Astrologie und Erkenntnis

Beispiel Atlantis

Das wiederaufgetauchte Atlantis

Anamnesis. Warum Atlantis ans Licht will

Atlantis Trauma

Riegel des Gedächtnisses und des Golfstroms

Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?

Anhang zur zweiten Abteilung

Gurs 1941. Geschichte von der Gegenrichtung des Uhrzeigers

Editorische Nachbemerkung

Glossar

Personenregister

Fußnoten

Geleitwort

Auf Ulrich Sonnemanns nachgerade magische Kräfte als Graphologe wurde ich in den frühen neunzehnhundertfünfziger Jahren aufmerksam, als ich am College of the City of New York (das sich heute City University of New York nennt) an einem Seminar über projektive Techniken des Master of Arts-Programms im Fach Psychologie teilnahm. Geleitet wurde das Seminar von einem Psychiater, Bela Mittelmann, der uns als erstes eine Fallgeschichte eines seiner Patienten präsentierte und anschließend, einmal die Woche, mit dem Protokoll eines projektiven Tests bekanntmachte, dessen blind analysis von einem zuständigen Experten durchgeführt wurde. Den ›Thematischen Apperzeptions-Test‹ analysierte Leopold Bellak, der dafür der erste Fachmann war; den Szondi-Test kommentierte Susan Deri, die über ihn das maßgebliche amerikanische Buch geschrieben hatte; den ›Zeichne eine Person‹-Test betreute Karen Machover, Nummer eins auf diesem Gebiet; usw. Die Handschriftenanalyse war Ulrich Sonnemanns Domäne. Von all den graduierten Psychologie-Studenten des Seminars hatte zuvor noch keiner davon gehört, daß es sich bei der Handschriftenanalyse etwa um eine seriöse Angelegenheit handeln könnte; wir waren überrascht, daß sie es überhaupt unter die projektiven Tests geschafft hatte.

Die Analyse der Testprotokolle nun war durchaus bemerkenswert, mal war das Ergebnis mehr, mal weniger erhellend, keine aber erschloß das Wesen des Klienten, wie Mittelmann es vorab skizziert hatte. Als Sonnemann seine Interpretation der Handschriftenproben vortrug, war die Klasse baß erstaunt, niemand wollte ihm so recht glauben, daß er keine Vorkenntnisse über den betreffenden Klienten gehabt habe. Über seine außergewöhnlich weitreichende, lebendige Beschreibung der Persönlichkeit des Klienten hinaus ging Sonnemann ins genaue Detail, was die Belastungen auf dessen beruflicher Laufbahn und was dessen physische Kondition betraf. Beispiels- und korrekterweise hob er auf die Musikalität eines Klienten ab, bezeichnete ihn als »ausübenden Musiker«, verbesserte sich dann aber und sagte: »Nein, er ist zwar ausübender Musiker, in Wirklichkeit aber will er komponieren, er ist nur blockiert, er hat sich zum Trost aufs Instrumentale verlegt.« Sie werden es sich bereits gedacht haben, daß genau das der Konflikt war, unter dem dieser Klient litt. Ein anderes erstaunliches Detail, das Sonnemann aus einer Handschriftenprobe herauslas, kam in der Bemerkung zum Ausdruck, der Klient habe ein Geschwür im Verdauungstrakt, doch schon verbesserte er sich wieder: »Nein, ein Magengeschwür«, und erneut hatte er den Finger auf ein Hauptproblem gelegt.

 

Fasziniert von Ulrich Sonnemanns glänzenden Einsichten, folgte ich ihm an seine Unterrichtsstätte, die Graduate Faculty der New Yorker New School for Social Research (der heutigen New School University), wo ich mehr über Graphologie lernen und mein Graduiertenstudium unter seiner Mentorschaft fortsetzen konnte. Sonnemann hielt an der New School ein einjähriges Graphologie-Seminar ab, bei welchem er seinen Studenten durchaus eine gewisse Befähigung zum Handschriftenlesen vermitteln konnte, wenn auch keiner von uns seinem Genie auch nur nahekam. Das Unterrichtsmaterial bestand aus Schriftproben, die die Studenten aus ihrem Bekanntenkreis mitbrachten: die Klasse analysierte sie, Sonnemann verbesserte und erweiterte unsere Ergebnisse, und regelmäßig wurde das, was er herauslas, von denjenigen bestätigt, die uns die entsprechenden Handschriftenproben zur Verfügung gestellt hatten. Als Sonnemann die New School verließ, organisierte eine kleine Gruppe von Studenten ein privates Seminar mit ihm, um unsere Graphologie-Studien weiterzutreiben. Es traf sich gut, daß wir eine Mitstudentin hatten, deren Ehemann als Henry James-Biograph angesehen und überhaupt ein Homme de lettre war. Er versorgte uns mit Handschriftenproben etlicher literarischer Tagesgrößen, ohne deren Identität zu enthüllen, ehe wir mit unseren Analysen fertig waren. Stets wieder – wir erwarteten es längst nicht mehr anders – zeigte Sonnemann sich zielsicher in der Lage, eine Beschreibung sowohl der offensichtlichen wie versteckten Persönlichkeitszüge des Schreibers als auch von dessen Lebenskonflikten und gesundheitlichen Problemen zu liefern.

Ansonsten übernahm Sonnemann während seiner Zeit in den Vereinigten Staaten Handschriftenanalyse-Aufträge insbesondere für Vick Chemical Company und für die Metropolitan Life Insurance. Erstere wollte geklärt wissen, ob die Handschrift sinnvollerweise bei der Personalauswahl eingesetzt werden könnte. Obwohl die Untersuchungen rundum erfolgreich waren, indem sie den Beweis lieferten, daß auf diesem Wege präzise Angaben über künftige wie derzeitige Angestellte beizubringen sind, fügte Vick, meines Wissens, die Handschriftenanalyse ihrem Kriterienkatalog für die Personalauswahl nicht, jedenfalls nicht auf Dauer hinzu. Die Untersuchungen für die Metropolitan Life Insurance hatten mit dem Herauspicken von Leuten zu tun, die ein Versicherungs-Risiko darstellten, weil bei ihnen ein Herzleiden oder Krebs zu erwarten war. Sonnemanns Aufgabe bestand darin, Stöße von Handschriftenproben derzeit wie ehedem versicherter Personen mit nur ihm nicht bekannten Krankengeschichten in solche, die ernsthaft und lebensbedrohlich krank, und solche, die gesund waren, auseinander zu sortieren. Auch diese Untersuchungen blieben, wiewohl in hohem Maße erfolgreich, folgenlos für die praktische Anwendung der Graphologie. Da die Untersuchungen privatfinanziert waren, wurden die Berichte nie in vollem Umfang in den wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, sodaß sich am Negativ-Image der Handschriftenanalyse und ihres Nutzens in den Vereinigten Staaten bis heute so gut wie nichts geändert hat.

Mir war es möglich, etliche Personen für eine Diagnose an Ulrich Sonnemann zu verweisen, und immer gelang es ihm, in Auswertung der Handschriften aufsehenerregend genaue Personencharakterisierungen und im übrigen einschneidende Befunde zu liefern, derer die Schreiber nicht gewärtig gewesen waren. Einer der Fälle, die mir im Gedächtnis geblieben sind, war der eines Installateurs, der Hilfe suchte, weil er mit einem Male zu einem ängstlichen und deprimierten Menschen geworden war. Ohne über den Schreiber mehr zu wissen als wie alt, welchen Geschlechts und ob er Rechts- oder Linkshänder war, sagte Sonnemann, es treibe ihn eine große Sorge um seine, wörtlich, »interne Installation« um – was später als Störung im Magen-Darm-Trakt verifiziert wurde. Eine andere Handschriftenprobe identifizierte er zutreffend als die eines Architekten, der zwischen der Architektur und dem Wunsch nach einer Musikerlaufbahn hin- und hergerissen war. Überdies lehrte er mich, den Schriftzügen Hautstörungen abzulesen, wie sie sich in Form von Ausschlägen bemerkbar machten, bei Klienten, die buchstäblich zu dünnhäutig waren und übersensibel reagierten auf die Schwingungen der Personen in ihrer Umgebung. Einer derjenigen, die ich an Sonnemann für eine Handschriftenanalyse vermittelte, ein Unternehmensanwalt, war von den Ergebnissen derart beeindruckt, daß er, mit Sonnemann als Direktor, ein Graphologie-Institut errichten wollte, damit sich die Handschriftenanalyse in unserem Lande endlich weiter verbreiten könnte. Das Projekt gedieh immerhin bis zur Registrierung des Namens, unter dem das Institut an die Öffentlichkeit treten wollte, beim Staate New York, das war es dann aber auch schon.

Übrigens war Sonnemanns in seiner amerikanischen Zeit geschriebenes Buch ›Handwriting Analysis‹ der Basistext unseres Kursus. Der amerikanischen Leserschaft geradezu entgegen kam Sonnemanns Art zu schreiben nicht, sodaß sich das Buch, trotz seiner mehreren Auflagen, allemal nicht weit genug verbreitete. Traurigerweise steht man in den Vereinigten Staaten der Handschriftenanalyse nach wie vor mit großer Skepsis gegenüber. Die meisten Psychologen betrachten sie abschätzig als Gesellschaftsspiel oder als projektive Technik ohne sonderlichen Wert. Sie tun gerade so, als hätte sich das jemand aus den Fingern gesogen, daß in der Handschrift als einer Ausdrucksbewegung der Person deren ganze Fülle eben zum Ausdruck kommt im Augenblick des Schreibens. Die meisten unserer grundlegenden Psychologielehrbücher halten es schlicht für nicht angebracht, die Handschriftenanalyse in ihre Darstellung projektiver Techniken oder diagnostischer Hilfsmittel einzubeziehen. Die den klinischen Tests gewidmeten Lehrbücher ignorieren oder verwerfen die Handschrift gleicherweise. Graphologie wird genauso behandelt wie alles andere mit paranormalen Erfahrungen in Zusammenhang Stehende – man betrachtet sie als ein Phänomen, das im Umkreis wissenschaftlichen Arbeitens nichts zu suchen hat. Und so bleibt das Schreiben über Graphologie – unwert einer jeglichen akademischen Bemühung – denen überlassen, welche die bunten Seiten der Tagespresse beliefern.

Einiges kommt da zusammen bei dieser Blindheit seitens der amerikanischen Psychologen. Unberücksichtigt blieb bereits, daß, mit Sonnemann zu sprechen, die Aufmerksamkeit am Offensichtlichen immer schon vorbeischweift: so selbstverständlich, wie wir den Boden nehmen, auf dem wir stehen, interessiert uns an den Schriftzügen zuerst und zuletzt der mitgeteilte Inhalt, kaum aber die Person, die sich in ihnen offenbart. Unglücklicherweise waren die bei dem Versuch einer wissenschaftlichen Erforschung der Handschrift angewandten Methoden alles andere als wissenschaftlich. Immer – Sonnemann wurde nicht müde darauf hinzuweisen – müssen Untersuchung und Gegenstand aufeinander bezogen sein, nie darf sich die Untersuchung, wie in der Handschriftenforschung geschehen, von der in diesem Sinne wissenschaftlichen Methode entfernen. Die Handschrift aber, die ihre Bedeutung dann am besten zu erkennen gibt, wenn sie als Ganzes in den Blick genommen wird, zerfiel in ihre Bestandteile; soll heißen: die »Zeichen«-Methode wurde über die Handschriftenanalyse verhängt – man nahm t-Striche, i-Punkte, Neigung, Größe und derlei mehr unter die Lupe, ließ den Zusammenhang unter den Tisch fallen und die Zeichen damit bedeutungslos werden. So wenig ein »Aussenden und Empfangen« von Gedanken und Bildern in künstlich erzeugter Laborsituation mit spontaner telepathischer Erfahrung zu vergleichen ist, so untauglich ist der Versuch, bestimmte Zeichen in der Handschrift zu Persönlichkeitszügen in Beziehung zu setzen, gemessen am Vertiefen in die Person als ganzer, wie sie eine jede Handschriftenprobe uns vor Augen stellt. Wir sollten, Sonnemann folgend, »die Phänomene selber zum Sprechen bringen«, statt sie in bedeutungsleere Fragmente zu zersplittern. Im Namen von Rationalität und Wissenschaftlichkeit rückte die Psychologie in den Vereinigten Staaten irrationalerweise von menschlichen Erfahrungen ab, bloß weil sie ihr unbegreiflich waren.

Leider konnte Ulrich Sonnemann seine schier unheimliche Fähigkeit niemandem vererben, was womöglich auch der Schreibweise seines Buches geschuldet ist, gewiß aber und zuerst unserem Mangel an der in seiner Person lebendigen bemerkenswerten Einfühlsamkeit in die Nuancen der Schreibspur.

Miriam Ehrenberg New York, im Februar 2004

Aus dem Englischen von Paul Fiebig

Erste Abteilung: Graphologie

Handschriftenanalyse

im Dienste der Psychodiagnostik

Eine Darstellung der allgemeinen und klinischen Graphologie

Aus dem Englischen von Claus-Volker Klenke

I. Einleitung

Wesen und Absicht der Graphologie.

Geschichte und Grundannahmen

Daß etwas so »Persönliches« wie die Handschrift uns etwas über den Charakter, das Temperament und die geistige Verfassung einer Person sagen kann, ist eine simple und beinahe selbstverständliche Erwartung. Schon lange, bevor eine irgend systematische Erforschung der Handschriftenpsychologie aufgenommen wurde, war sensiblen Beobachtern des menschlichen Verhaltens, unabhängig voneinander, aufgefallen, daß die Handschrift verschiedener Personen dauerhaft und unausweichlich ein Kennzeichen von deren Individualität darstellt. Das wirft eine interessante Frage auf. Gewiß verzeichnen wir gegenwärtig in diesem Lande unter professionellen Psychologen ein wiedererwachendes Interesse an dem, was sich psychologisch durch die Handschrift mitteilt, warum aber erhielt sie, zumindest in Amerika (die Entwicklung in Europa nahm einen ganz anderen Verlauf), nicht schon lange vor unserer Zeit den ihr angemessenen Platz in der Persönlichkeitsforschung? Warum blieb zu einer Zeit, als in Europa für Psychologiestudenten das Studium von Klages’ grundlegenden Büchern zu diesem Gegenstand verpflichtend geworden war, die Handschriftenanalyse hierzulande fast ausschließlich den »Quacksalbern« überlassen – um von diesen dann je nach Absicht und Verständnis zurechtgemodelt zu werden? Lassen Sie uns diese Fragen an geeigneter Stelle wieder aufnehmen, nachdem wir zuvor erkundet haben, was Handschriftenanalyse ist und will und welche Vor- und Grundannahmen ihrem so kniffelig verästelten Apparat zugrunde liegen.

Aus dem Blickwinkel der psychologischen Forschung bietet die Handschrift sich für zwei verschiedene, scharf zu trennende Ziele an. Das eine ist ihre Verwendung zu psychodiagnostischen Zwecken, das andere die zu Zwecken der Identifikation. Auch wenn es sich vom Material her in einigen Untersuchungsbereichen mit unserem Gegenstand überschneidet, fällt das letztgenannte Ziel nicht in den Rahmen dieser Studie, die sich auf die Graphologie im eigentlichen Sinne, nämlich die psychologische Handschriftenanalyse zum Zwecke der Erforschung und Beschreibung der Persönlichkeit beschränkt.

Gegenwärtig kann man bei den Graphologen, je nach ihren Denk- und Herangehensweisen bei der Verfolgung ihrer dergestalt definierten Zielsetzung, drei Gruppen unterscheiden.

Die eine unternimmt einen bloß intuitiven und impressionistischen Versuch, angesichts einer vorliegenden Handschriftenprobe und mittels einer sich auf die visuelle Erfahrung ihrer Ausdrucksqualitäten insgesamt stützenden Einfühlung sich selbst mit deren Urheber zu identifizieren und dadurch Einsicht in dessen Charakter zu gewinnen. Zwar erweist sich die in solch einem Verfahren implizierte Haltung einer wachsamen und doch unvoreingenommenen Aufmerksamkeit für Gesamteigenschaften des visuellen Musters als unabdingbar für einen graphologischen Erfolg mit gleich welcher Methode, doch ist der rein intuitive Zugang, da er keinerlei systematische Kontrollen einschließt, subjektivistisch bis hin zu möglicher Willkür; zumindest also ist er unzuverlässig.

 

Ein zweiter, in jüngerer Zeit aufgekommener Ansatz stützt sich in starkem Maße auf die statistische Methode, nicht als ein Hilfsmittel für die endgültige Validierung der graphologischen Persönlichkeitsbilder, sondern als einen am Aufbau des grapho-analytischen Systems selbst mitwirkenden Faktor. Das Konzept der Korrelationen zwischen bestimmten psychologischen Trends und Zügen der Handschrift wird, zwecks Überprüfung, einer statistischen Analyse des gehäuften Auftretens quantitativer Verstärkungen und Verminderungen solcher Züge unterzogen, und die Ergebnisse vergleicht man dann mit auf die fragliche Gruppe zutreffenden sozialen, psychologischen und klinischen Indikatoren. Dieser Ansatz wurde bisher selten praktisch angewandt. Aus Gründen, die im methodologischen Teil dieser Studie diskutiert werden, dürfte er kaum adäquater sein als der erstgenannte.

Die dritte Methode – die, die wir hier entwickeln werden – ist die Frucht vieler Jahrzehnte systematischer Untersuchung der Handschriftenanalyse, die in Europa von Ludwig Klages und einigen seiner Schüler sowie unmittelbareren Vorläufern betrieben wurde. Diese vom graphologischen Dilettantismus vor ihrer Zeit so klar unterschiedene Untersuchung gründete auf einer Erforschung der Ausdrucksbewegungen im allgemeinen. Was sind Ausdrucksbewegungen? Um die Leistungen von Klages zu erfassen, müssen wir einen ersten Blick auf diesen äußerst grundlegenden und entscheidenden Begriff werfen.

In einem weiter gefaßten Sinne können alle von einem beliebigen Organismus wann und wo immer ausgeführten Bewegungen aus dem einfachen Grund solche des Ausdrucks genannt werden, daß die jeweilige Art und Weise ihrer Ausführung, auch wenn der Zweck und die äußeren Umstände der Bewegung »konstant« sind, nicht nur von individuellem Organismus zu individuellem Organismus, sondern auch innerhalb des Rahmens der Aktivität eines einzelnen Organismus’ von einem Auftreten der Bewegung zum anderen variiert. Da seitens eines Organismus’ biologisch keine mathematisch genaue automatische Wiederholung ein- und derselben Bewegung möglich ist, kann das Element der Einzigartigkeit in jeder Bewegung weder ihrem Zweck noch ihren äußeren Umständen, sondern nur einem strukturellen Prinzip innerhalb des Organismus, das in genau dieser Einzigartigkeit sich ausdrückt, zugeschrieben werden. Insoweit die Bewegungen eines Organismus im Vergleich zu denen eines anderen allesamt einzigartig sind – insoweit sie durch Analogien struktureller Merkmale verbunden sind –, spiegelt diese globale Einzigartigkeit ihrerseits die Individualität des Organismus als ganzem wider; insofern die Bewegungen des Organismus sich voneinander unterscheiden, spiegelt die Einzigartigkeit einer jeden von ihnen den je besonderen Zustand des Organismus innerhalb des gesamten zeitlichen Spielraums seiner Individualität wider. Je bestimmter dieser temporale Zustand, d. h. je ausgeprägter die Ausdruckskraft der Bewegung ist, desto leichter wird sie von anderen, die sie beobachten, verstanden werden: Der mimische Ausdruck des Schreckens z. B. vermittelt die Erfahrung des Schreckens mit solcher Überzeugungskraft, daß kein Zweifel darüber bestehen kann, was er meint. Diese Überzeugungskraft kann nicht aus vorausgehenden Erfahrungen seitens des Beobachters mit dem Gesichtsausdruck des Schreckens erklärt werden, da aus dem Axiom der Einzigartigkeit jeder Ausdrucksbewegung folgt, daß solche vorausgehenden Erfahrungen streng genommen nicht stattgefunden haben können; Assoziationen seitens des Beobachters mit vorausgehenden Erfahrungen mit dem Gesichtsausdruck des Schreckens können somit nur nachträglich, aufgrund einer Ähnlichkeit, gemacht werden; Ähnlichkeiten wiederum können erst gesehen werden, nachdem zuvor die ähnlichen Dinge »gesehen«, d. h. in ihrer Ganzheit und Einzigartigkeit erfahren worden sind, ohne welche es folglich keine Basis für spontane Assoziationen mit vorausgehenden Erfahrungen geben kann.

Daraus ergibt sich die Annahme, daß das Element der Ausdruckskraft, d. h. der Bedeutung, in organismischen Bewegungen einen zentralen vereinheitlichenden Faktor darstellt, der die Bewegung als das Ganze, welches vom Beobachter erfahren wird, »organisiert«, und daß der Beobachter zu dieser Erfahrung dadurch befähigt wird, daß es in ihm ein zentrales vereinheitlichendes Prinzip gibt, das potentiell mit demjenigen – zu ihm »isomorphen« – korrespondiert, das die Bewegung organisiert. Diese Annahme, einer der grundlegenden Lehrsätze der Gestaltpsychologie, liegt gleichermaßen der in diesem Buch vorgestellten graphologischen Methode wie der Theorie der Ausdrucksbewegungen überhaupt zugrunde. Das Beispiel, das gewählt wurde, um sie zu illustrieren, war absichtlich ein ziemlich plattes: Der Gesichtsausdruck des Schreckens ist etwas, dessen Sinn jedermann im Alltag versteht, ohne dazu Ausdrucksbewegungen studiert haben zu müssen. Die Bedeutung einer bestimmten individuellen »Geste« in der Handschrift einer Person zu verstehen gehört zu genau der gleichen Art von Erfahrungen wie das angeführte Beispiel. Der Unterschied zwischen ihnen ist ein gradueller, kein prinzipieller: Um graphische Bewegung psychologisch einschätzen zu können, bedarf es eines höheren Grades an Sensibilität für visuelle Muster, als wir sie im Alltagsleben brauchen. Das zweite Erfordernis – die Notwendigkeit geordneten Denkens, um die gemachten Beobachtungen zu organisieren und sie mit größtmöglichem Gewinn zu verwenden – unterscheidet die Graphologie nicht von anderen wissenschaftlichen Unternehmungen.

Auch wenn die wissenschaftliche Graphologie ihre Existenz ohne Frage Klages verdankt, so ist er doch selbst einer Reihe von Vorgängern verpflichtet, die um nahezu fünfzig Jahre ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Abgesehen von vereinzelten Andeutungen wie spontanen Beschreibungen von Handschriften zur Charakterisierung einer bestimmten Persönlichkeit, die sich durch alle Jahrhunderte und Nationalliteraturen verstreut finden, entstand die Graphologie als systematische Forschungsrichtung, als Jean-Hippolyte Michon 1875 sein ›Système de Graphologie‹ veröffentlichte, das Ergebnis einer jahrzehntelangen vergleichenden Forschung, die auf Briefen, die Michon erhalten hatte, und auf seiner Bekanntschaft mit den Briefschreibern beruhte.

Was Michon – und nach ihm sein systematischer arbeitender, aber weniger talentierter Schüler Jules Crépieux-Jamin – begründeten, war die sogenannte Graphologie der Zeichen, die nach der Zeit dieser beiden Franzosen zu jener Art Graphologie degenerierte, wie sie noch heute von vielen Amateuren und Scharlatanen in diesem Bereich praktiziert wird, obwohl man auch sagen könnte, daß der typische amateurhafte Ansatz gegenwärtig eher noch eine inkonsistente Vermischung der »Graphologie der Zeichen« mit dem in diesem Kapitel beschriebenen völlig unsystematischen Zugriff auf die Handschrift geworden zu sein scheint. Für Michon repräsentieren bestimmte isolierte Haken, Schleifen, Überschneidungen usw. bestimmte Charaktereigenschaften, und der Charakter selbst galt ihm als die Summe dieser Eigenschaften. Dank seiner bemerkenswerten persönlichen Beobachtungs- und Kombinationskraft sind Michons Entdeckungen keineswegs unterzubewerten, sein »système« aber erwies sich, nachdem es ihm einmal aus den Händen genommen war, als dermaßen inadäquat, daß es jenes allgemeine Urteil hervorrief, das die psychologische Untersuchung der Handschrift als zwangsläufig unwissenschaftlich abwertete – eine Ansicht, die sich in diesem Land im Grundsatz bis heute erhalten hat. Ihre wesentlich frühere Überwindung in Europa verdankte sich sowohl der enormen Verfeinerungs- und Systematisierungsarbeit, die die führenden Experten in diesem Feld vollbracht hatten, als auch den neuen Denkschulen, die in Europa etwa zur Zeit des Ersten Weltkriegs eine führende Rolle in der akademischen Psychologie selbst erlangten.

Von Michons Entdeckungen angeregt, fand diese Entwicklung in erster Linie in Deutschland statt, wo Wilhelm Langenbruch, Hans H. Busse, Albrecht Erlenmeyer und Wilhelm Preyer zu ihren einflußreichsten Beförderern wurden. Preyers ›Psychologie des Schreibens‹ von 1895 stellte, seinem Titel zum Trotz, noch keinen Fortschritt der psychologischen Begriffe dar, unternahm aber zum ersten Mal eine methodische Analyse der Eigenschaften und Bestandteile der graphischen Bewegung. Von da an und angeregt durch graphologische Periodika, die in Deutschland gegründet wurden, beschleunigte sich die Entwicklung. Georg Meyers ›Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie‹, wie die meisten hier genannten Werke nie ins Englische übersetzt, war die erste Annäherung an die Handschriftenanalyse durch einen professionellen Psychologen. Meyers Buch ist extrem konservativ und befaßt sich mehr damit, die theoretische Möglichkeit zu demonstrieren, eine wissenschaftliche Graphologie zu entwickeln, als daß es das wirklich täte; es überwindet die naive Spezifizität von Michons Interpretationen, ersetzt sie durch allgemeinere Begriffe, versäumt es dann aber, den Weg zu jener kritischen Eigenheit zu zeigen, die nach ihm von dem Philosophen und Psychologen Ludwig Klages erreicht wurde.

Alle heutige Graphologie mit irgendeinem Anspruch, als psychologisches Instrument zu dienen, verdankt sich Klages, der als erster eine allgemeine Theorie des Ausdrucks formuliert hat. Seine wesentlichen graphologischen Werke –›Die Probleme der Graphologie‹, 1910, ›Handschrift und Charakter‹ (das bedeutendste), 1917, ›Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft‹, 1923, ›Prinzipien der Charakterkunde‹, 1928, und ›Graphologisches Lesebuch‹, 1930 – regten nicht nur viele professionelle Psychologen zur Handschriftenforschung an, sondern erwirkten auch die Hochschulwürde für die Graphologie und veranlaßten Schulen, Krankenhäuser, Beratungsbüros, Geschäftsbetriebe und Gerichte, für ihre unterschiedlichen Zwecke graphologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Neben Klages wurde das meiste an herausragenderer moderner Arbeit geleistet von Robert Saudek, dessen Werke, mit Ausnahme einer Abhandlung über die amerikanische Handschrift, ins Englische übersetzt wurden; von Max Pulver –›Symbolik der Handschrift‹, 1931, ›Trieb und Verbrechen in der Handschrift‹, 1934, beide unübersetzt –, der Begriffe analytischer Herkunft in das Feld einführte; von Minna Becker, die 1926 ein exzellentes Buch über Kinderhandschrift schrieb; von Roda Wieser, die ebenfalls über die graphischen Erzeugnisse von Kriminellen geschrieben hat; und von Johannes Walther, der sich insbesondere in der Analyse der Bindungsformen hervortat. Hierzulande haben Joseph Zubins und Thea Stein-Lewinsons Monographie, die die statistische Analyse einzelner graphischer Züge, wie sie zuvor in diesem Kapitel erwähnt wurden, entwarf, und Werner Wolffs mehr analytisch beeinflußte Arbeiten auf unterschiedliche Weise die von Klages’ Schule gelieferten Vorgaben aufgenommen.

Heute noch zieht sich der Einfluß von Klages’ Schule durch den gesamten Bereich graphologischer Arbeit und Forschung. Zu einem beträchtlichen Teil dürfte dies nicht nur den meisten hier genannten Arbeiten als Verdienst angerechnet werden, sondern zugleich auch deren Unzulänglichkeiten erklären. Der wachsende Einfluß, den die Gestalt-Schule in den letzten zwanzig Jahren auf die europäische Psychologie ausgeübt hat, ebnete den Weg für eine verständige Aufnahme der Graphologie auf seiten von Colleges und Universitäten, aber obwohl er dieser Schule in manchen Aspekten seines Denkens sehr nahestand, war Klages ihr in anderen doch zu fern, um seine Theorie über gewisse Grenzen hinaus zu entwickeln. Diese Grenzen, die hauptsächlich aus seiner – hoch dogmatischen – philosophischen Theorie des Bewußtseins als notwendig störendem Faktor im Zusammenspiel der Lebenskräfte im Menschen herrührten, führten zu einer Vereinfachung seines Begriffs des graphischen Rhythmus’, der zu grob war, ihn die grundlegende Differenz zwischen integrierten und desintegrierten Zuständen der Persönlichkeit als in der Handschrift reflektiert verstehen zu lassen. Sein graphologisches System erwies sich in der Konsequenz als für psychodiagnostische Zwecke derart unzureichend, daß es eine Revision einiger seiner entscheidendsten – zugleich aber verzerrtesten – Begriffe durch den Verfasser erforderte. Im vorliegenden Buch ist diese Revision im Kapitel über Rhythmus und Regelmaß, Integration und Fluktuation formuliert. Zur Anwendung kommt sie sowohl im systematischen Teil, der es unternimmt, die Struktur der Bewertungsebenen neu aufzubauen, als auch in den klinischen Kapiteln, die, auch wenn sie nur vorläufige Befunde vorlegen, die Früchte langjähriger Beobachtung und Erfahrung auf diesem Gebiet sind.