Graphologie. Schriften 1

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»Regelmäßige« Handschriften können folglich auch zufriedenstellend rhythmisiert sein, vorausgesetzt, daß die regulierenden Kräfte des Bewußtseins graphisch integriert sind – in anderen Worten, daß ihr niedriger Schwankungsgrad nicht als die künstliche und den erkennbaren Entspannungsimpulsen eher widerstreitende denn mit ihnen harmonierende Wirkung irgendeiner Art von Selbst-Zwang erscheint; stark schwankende Handschriften hingegen können entsprechend ziemlich unrhythmisch sein: Die typische Schriftspur des Psychopathen zum Beispiel verbindet den Mangel an rhythmischer Integration mit auffälliger Unregelmäßigkeit.

Wir können also Klages’ einfache Dichotomie von Rhythmus und Regelmaß nicht akzeptieren, benötigen vielmehr zwei voneinander unabhängige Kriterien, den relativen Schwankungs- und den relativen Integrationsgrad. Unabhängig von ihrem Formniveau können alle graphischen Erzeugnisse nach diesen beiden Kriterien bestimmt werden, deren klinische Anwendung in beträchtlichem Maße dazu beiträgt, die bestehende Vielzahl an Typen sowohl normaler als auch pathologischer Persönlichkeiten zu erklären.

Klages’ Zweiteilung behält aber ihren Wert, insofern sie für den graphischen Rhythmus in mindestens einer dieser beiden Dimensionen Gültigkeit besitzt, nämlich der der Schwankung. Durch Anwendung des Ambivalenzprinzips entweder auf »regelmäßige« oder »entspannte« Handschriften und in einfachen Ausdrücken zur Charakterbeschreibung formuliert, ergibt sich die folgende erste Tabelle möglicher Persönlichkeitszüge.

Tabelle I Schwankungsgrad


Im grapho-analytischen Verfahren hängt eine richtige Wahrnehmung rhythmischer Eigenschaften, ganz ähnlich wie die des Niveaus der Formqualität, weitgehend von der Übung im Sehen und einem guten allgemeinen Sinn für visuelle Merkmale ab. Einige grundlegende Regeln können natürlich angegeben werden. Eine Handschrift wird als umso besser integriert in einem rhythmischen Sinne bezeichnet werden, je mehr in ihr das Element des Wiederholens der Kontraktions-Entspannungs-Phasen, ohne Ansehen der Stärke der Kontraktionen, als Wirkung eines spontanen Fließens der Bewegungsimpulse erscheint und je mehr in ihr die Elemente des Schwankens, ohne Ansehen des Schwankungsumfangs, eher graduelle als plötzliche Veränderungen darstellen. Für die Bestimmung des Grads an Regelmäßigkeit ergeben sich noch einfachere Regeln aus der zu Beginn dieses Abschnitts vorgenommenen allgemeinen Analyse der Kontraktions-Entspannungs-Zyklen. Auf der Grundlage dieser Analyse kann das Kriterium der Regelmäßigkeit definiert werden als die kombinierte relative Konstanz der Abstrichlänge in der Mittelzone, der Abstände zwischen ihren Basispunkten auf der Schreiblinie, ihren Richtungen und der Stärke des bei ihrer Ausführung ausgeübten Drucks (Abb. 17 – 21).

Abb. 17 – 20 Rhythmus und Regelmaß


Abb. 17 (31 %) Rhythmisch und regelmäßig


Abb. 18 (31 %) Rhythmisch und unregelmäßig


Abb. 19 (31 %) Unrhythmisch und regelmäßig


Abb. 20 (31 %) Unrhythmisch und unregelmäßig


Abb. 21 (42 %) Rhythmische Störungen bei einem guten Niveau der Formqualität

Die Gesamtanlage

Neben den beiden leitenden Kriterien des Formniveaus und der rhythmischen Eigenschaften der Handschrift ist für den graphologisch Arbeitenden die Gesamtanlage des Textes wesentlich als Hilfe, sich auf sein Beobachtungsfeld hin zu orientieren, und als Anstoß auf seinem Weg zu einer näheren Erforschung graphischer Details, die wiederum unabdingbar ist für die folgenden Untersuchungen einzelner Dimensionen.

Die verbreitetsten dimensionssetzenden Eigenschaften der Anlage, wie Ordentlichkeit versus Unordnung oder Eleganz versus Schmierigkeit, suggerieren ihre eigenen allgemeinen Bedeutungen und dürften somit keinerlei ausgefeilte Analyse in diesem Punkt gewährleisten. Diese Eigenschaften wie auch die psychologisch komplexeren von Gedrängtheit versus Dispersion, Betonung versus Mißachtung der Ränder usw. stellen Abkömmlinge von spezifischeren Bestandteilen der Bewegung dar, die gesondert an geeignetem Ort diskutiert werden. Gedrängte Handschrift weist auf die möglichen Bedeutungen von – positiv – einer reichen und eher intensiv reflektierenden und durcharbeitenden denn weit ausgreifenden ideomotorischen Produktivität und – negativ – einer fehlenden Artikuliertheit von Ideen hin; disperse Handschrift positiv auf gute Fähigkeiten zur begrifflichen Erfassung eines großen Gegenstandsfelds, negativ auf mangelnde Sorgfalt und, bei beginnender Schizophrenie, eine Furcht vor logischer Entgleisung, die auf eine Isolierung von Wörtern hinarbeitet.

Schwankungen zwischen beiden Typen, gewöhnlich mit einem sehr hohen Formniveau und signifikant unregelmäßigen, zugleich aber hochrhythmischen Eigenschaften, finden sich besonders häufig in den Schriftstücken von unabhängigen, unkonventionellen und in einigen Fällen außergewöhnlich kreativen, aber auch disharmonischen Persönlichkeiten (Beethoven, Balzac) wie ebenso in denen der klinisch manisch-depressiven. Allgemeine Betonung der Ränder, besonders des oberen und des linken, verweist auf einen ästhetisch artikulierten Sinn für persönliche Distanz und Unterscheidung; eine ausführlichere Diskussion der Ränder folgt weiter unten. Ein Fehlen besonders des oberen Randes und eine mangelnder Abstand zwischen den Zeilen spiegelt mangelndes Selbstvertrauen, ein ängstliches Festhalten an bereits gesicherten Positionen der Umgebung wider; mehrere Linien möglicher graphologischer Interpretation – darunter wäre die einer mehr oder weniger entwickelten »Klebrigkeit«, d. h. Aufdringlichkeit, in interpersonellen Beziehungen zu erwähnen – weichen von diesem allgemeinen Konzept ab. Die Angewohnheit, Textteile einzufügen, ähnelt, wenn sie vorherrscht und besonders, wenn sie die Ränder nicht ausspart, der häufigen Neigung gewisser Leute, im Flur oder noch an der Tür des gastgebenden Hauses eine Unterhaltung erneut aufzunehmen, die bereits beendet war; in ihren weniger harmlosen interpretativen Versionen spiegelt sie einen Vollständigkeitswahn wider, der auf Kosten einer konsistenten Zeitplanung und eines geordneten Vorgehens wirksam ist.

Während die meisten der Merkmale, die die Gesamtanlage ausmachen, ihre richtige systematische Position an spezifischen Orten innerhalb der verschiedenen Bewertungsdimensionen finden, bilden sie zugleich Gesamteigenschaften des Beobachtungs- und Arbeitsfeldes des Graphologen und verdienen als solche seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Die Bewertungsdimensionen

Einführende Bemerkung

Die Theorie der Ausdrucksbewegungen vertritt die Ansicht, daß Persönlichkeitsstruktur als qualitativer Begriff niemals erklären kann, was ein Individuum tut, wenn die Aufmerksamkeit nicht darauf gerichtet wird, wie es dies tut. Qualitative Verhaltensanalyse entdeckt wiederum persönliche Vorlieben für bestimmte Gesten und gestische Qualitäten und das Unterlassen oder Unterdrücken anderer. Da die Handschrift dem Individuum die gesamte Skala möglicher gestischer Betonungen und Abschwächungen bietet, kann man davon ausgehen, daß sie sein persönliches Profil ausdrucksmäßiger Artikulation mit besonderer Trennschärfe offenbart.

Die grundlegenden Eigenschaften der graphischen Bewegung selbst liefern das System, nach dem dieses Profil analysiert und entsprechend ihrer jeweiligen Ordnung mit Hilfe im folgenden beschriebenen Bewertungsdimensionen oder -gebiete klassifiziert wird. Befunde innerhalb dieser Gebiete sind nicht als »Teile« der Persönlichkeitsstruktur zu verstehen, sondern als besondere Aspekte der Persönlichkeit als ganzer, deren jeder einen spezifischen Beobachtungsstandpunkt impliziert. Dimensionale Bewertungen, wie sie im weiteren vorgelegt werden, gelten für die Grenzwerte der fraglichen graphischen Züge an beiden Polen der jeweiligen speziellen Dimension, d. h. für Prototypen; in ihrer Anwendung bei den Analysen vorliegender Schriftproben sind sie deshalb als Tendenzen zu behandeln, die sich dem Prototyp in einem Grad annähern, der abhängig ist von der Ausprägung des Zugs in der untersuchten Handschrift, seiner Schwankung und seinem möglichen Alternieren mit Tendenzen, die in eine entgegengesetzte Richtung weisen.

Die Revision des Klagesschen Begriffs vom graphischen Rhythmus, auf die im vorigen hingewiesen wurde, läuft, was die Anwendung und den Kern charakterologischer Begriffe anbetrifft, auf eine Anzahl von Abweichungen von Klages’ System hinaus. Abgesehen von diesen Abweichungen, von beträchtlichen Unterschieden sowohl in der Betonung als auch in der psychologischen Begründung der meisten grundlegenden dimensionalen Interpretationen und von einer eingehenderen Erforschung des Verhältnisses zwischen der Mittel- und den Randzonen folgen die Tafeln der Bezeichnungen charakterologischer Züge, die für jede der Haupt-Bewertungsbereiche vorgelegt werden (einschließlich der schon wiedergegebenen zum Verhältnis »regelmäßig–entspannt«), im allgemeinen denjenigen, die von Klages in ›Handschrift und Charakter‹ aufgestellt wurden und die sich während Jahrzehnten graphologischer Forschung in Europa als eine solide und unverzichtbare Grundlegung erwiesen haben. Entsprechend den soeben festgestellten Unterschieden im Begriff des Rhythmus (beziehungsweise der Persönlichkeitsintegration) wurde allerdings der Umfang der aufgeführten Charaktertendenzen erweitert, um auch pathologische Trends abzudecken, wo immer ein Potential für diese als unmittelbar einbegriffen in irgendeiner der zentralen »dimensions«-setzenden Eigenschaften der graphischen Bewegung zu entdecken war.

 

Ausdehnung, Geschwindigkeit und Wucht

Nur für sich, unabhängig von ihrem Umfeld und den in ihnen implizierten Richtungskriterien betrachtet, können alle Bewegungen nach ihrer Ausdehnung, ihrer Geschwindigkeit und ihrer Wucht definiert werden. In einem vorausgehenden Kapitel wurde die vertikale Dimension als diejenige bestimmt, die die Orientierung der Person im Rahmen der verfügbaren Werte, die horizontale als diejenige, die ihre Orientierung in der Realität repräsentiert. In beiden Fällen wird Bewegung als gerichtete, als auf ein selbst nicht an der Bewegung beteiligtes Feld bezogen angesehen. Betrachtet man diejenigen ihrer Eigenschaften, die in einem engeren Sinne ihre Identität ausmachen, muß man die graphische Bewegung dementsprechend unter den drei oben genannten Kriterien beurteilen. Da diese keinen äußeren Bezugspunkt einschließen, kann man psychologisch von ihrer Anwendung Aufschluß über die Selbsterfahrung einer Person, ungeachtet ihrer Differenzierungen durch irgendeine spezifische Realitätserfahrung, und über ihre Zielsetzungen, ungeachtet ihrer Differenzierungen durch vorhandene Werte, erwarten. Von Größe, Schnelligkeit und Druck der Handschrift kann man folglich wichtige psychologische Anhaltspunkte im Blick auf das grundlegende organismische Potential der Person, das man gemeinhin Veranlagung nennt, erwarten.

Während die Größe der Handschrift sich offensichtlich aus der Reichweite der in der Schreibbewegung begriffenen Finger ergibt, dürfte die größere psychologische und technische Komplexität der beiden anderen Kriterien einen kurzen Kommentar rechtfertigen. Zwar ist eine genaue Messung der Schreibgeschwindigkeit nur durch kontrollierte Versuche möglich (was Bedingungen zu schaffen bedeutete, die die Zeiteinteilung der Personen und ihr normales Maß an Aufmerksamkeit für die Aufgabe tangieren könnten), jedoch bietet der Schriftzug selbst hinreichende Anhaltspunkte für eine einigermaßen zuverlässige Einschätzung der Geschwindigkeit seiner Erzeugung. Das visuelle Kriterium ist hier der »Schwung« oder die »Schlankheit« des Strichs, und seine Gültigkeit wird durch die wohlbekannte, in der Handschriftenidentifizierung äußerst wichtige Tatsache bestätigt, daß Schriftzüge nicht kopiert werden können: Während jede andere Eigenschaft außer ihrer Geschwindigkeit es kann, ist die zur sorgfältigen Erfüllung dieser Aufgabe erforderliche Zeit so erheblich, ihre Ausführung so langsam, daß die sich daraus ergebende Schwerfälligkeit der Striche die gesamte Wirkung der formalen Genauigkeit der Nachahmung außer Kraft setzt. »Schwerfälligkeit« meint hier nicht notwendig Dicke. Noch meint es ein Fehlen an Glattheit der seitlichen Begrenzungen oder an konsistenter Richtung des Strichs in jedem kleinsten Abschnitt seines Verlaufs, eine Beobachtung, die das Vergrößerungsglas oder Mikroskop leicht bestätigt, die aber in den meisten Fällen und von den meisten Beobachtern auch ohne deren Hilfe gemacht werden kann.

Was das dritte der genannten Kriterien betrifft, das des Drucks – der sich graphisch durch ein Anwachsen des Tintenflusses und daraus folgender Erweiterung und Verdunkelung der Striche anzeigt –, so ergibt sich seine psychologische Repräsentativität für die Gesamtwucht der Bewegung aus einer Analyse allen an dem Vorgang beteiligten muskularen Drucks. Grundsätzlich können drei Arten von Druck unterschieden werden: der des Unterarms auf den Tisch, der der Finger auf das Schreibwerkzeug und der des Schreibwerkzeugs aufs Papier. Von ihnen hat allerdings nur der letztgenannte eine konkrete und dauerhafte Wirkung und ist zudem der einzige, der, dank seiner engen Zugehörigkeit zu den greif- und sichtbaren Ergebnissen seiner Tätigkeit, der Erfahrung der schreibenden Person selbst zugänglich ist. Die von der Schreibbewegung ausgeübte Gesamtwucht kulminiert psychologisch in dem eigentlichen graphischen Druck und wird deshalb entsprechend seiner Stärke gemessen.

Die allgemeine Bedeutung der drei genannten Dimensionen kann, wie oben herausgestellt, für jede von ihnen auf der Basis einer einfachen Feststellung ihrer möglichen gestischen Implikationen spezifiziert werden. In der symbolischen Erfahrung sind »groß« und »bedeutend« austauschbare Begriffe, ebenso wie »klein« und »vernachlässigbar«, und Ausdrücke wie »Größe« und »Erhabenheit« in ihrem übertragenen Gebrauch, »Großmut«, eine »große Geste«, ein »engstirniger« Geist, verraten alle denselben Komplex von Assoziationen. Graphologisch wird Größe deshalb als ein Maß für das spontane Selbstwertgefühl der Person, für ihr Gefühl der eigenen Bedeutung genommen – wiederum auf dieser Ebene der Untersuchung ohne Rücksicht auf irgendwelche ergänzenden und qualifizierenden Kriterien, die uns über die besondere Persönlichkeitsfunktion, um die es zentriert ist, über die bewußte Haltung, die daraus folgt, oder über die Rechtfertigungsgrundlage in Werten oder Leistungen informieren würden; allerdings sollte man sich klar machen, daß das Niveau der Selbsterfahrung, da die Erhebung gleich welcher Position über ihre Umgebung bestimmt, wie viel von dieser von dort aus »übersehen« wird (sowohl im Sinne von, positiv und allgemein, »Überblick« als auch von, negativ und spezifisch, »Nichtbemerken«), entscheidend auch für die äußeren Erfahrungen der Person, zumindest im Hinblick auf ihre grundlegenden Ansprüche, ist: Es bestimmt, wie weit oder eng ihr Realitätsfokus bemessen ist, welche »Größe« von Objekten und Zielen, von Aufgaben und Herausforderungen sie wahrnimmt und in welchem Umfang, wenn nicht sogar mit welcher Kraft sie wahrscheinlich die Realität angeht (Abb. 22 – 24). Während »Größe« somit in einem statischen Sinne auf die Selbsterfahrung und die gesamten Ansprüche verweist, zeigen diese selbst sich in Tätigkeit in den Dimensionen von Druck und Geschwindigkeit.

Abb. 22 – 24 Größe


Abb. 22 (7 %) Sehr groß


Abb. 23 (7 %) Mittel


Abb. 24 (7 %) Sehr klein

Diskutieren wir zuerst den »Druck«. Da die notwendige dynamische Bedingung von Selbsterfahrung die eines Widerstands ist, auf den man gestoßen ist und den man überwunden hat, kann uns das gegen den Widerstand aufgewendete Ausmaß an Mühe als Maß für die Intensität dieser Erfahrung auf ihren beiden Seiten, der des »Ich« und der des »Hindernisses«, die sich so als interdependent erweisen, dienen; deshalb scheint für allgemeine empirische Zwecke die äußerlich verfügbare Menge an willentlicher Energie tatsächlich durch den absoluten Grad an vorhandenem Druck angezeigt zu werden. Theoretisch und klinisch aber wäre diese angenommenerweise notwendige Identifizierung von Ichstärke mit äußerlich verfügbarer Energie unkritisch, da die Erfahrung von Widerstand nichts über die objektive Natur des Hindernisses verrät, das ebenso die Form eines interpersonellen Hemmnisses wie einer äußeren Herausforderung haben kann. In welchem Ausmaß ein bestimmter Grad an Druck äußerlich verfügbare Energie repräsentiert und in welchem das Vorhandensein von Hemmungen oder Blockaden hängt davon ab, wie gut die verschiedenen Anzeichen von Druck rhythmisch in die Gesamtkonfiguration integriert sind, deren Aufdeckung sich somit einmal mehr als entscheidend erweist (Abb. 25 – 30).

Abb. 25 – 27 Druck


Abb. 25 (31 %) Stark


Abb. 26 (31 %) Mittel


Abb. 27 (31 %) Zart

Für die Interpretation der relativen Geschwindigkeit nimmt der Begründungsprozeß einen genau gegenteiligen Verlauf. Je kraftvoller unsere Bewegungen, desto größer das »zu Recht« oder »zu Unrecht« erfahrene Hindernis; je schneller unsere Bewegung, desto eindringlicher das Zielbild, das im Verhältnis zu den erfahrenen Hindernissen und an ihrer Stelle erfahren wird; und desto weniger ist das Ich in der Folge der letzteren gewahr (was ein Innesein seiner selbst einschließt), und desto mehr identifiziert es sich mit seinen Zielen und dem daraus folgenden Spontaneitätsfluß. Abermals überwiegen in der interpretativen Einschätzung der relativen Geschwindigkeit Gesichtspunkte der Gesamtkonfiguration, die sich auf den Grad konzentrieren, in dem die anderen Qualitäten des Schreibens sich unter der Beschleunigung, die gewöhnlich nach den ersten paar Zeilen einsetzt, behaupten; wenn wir sowohl das Prinzip der Interdependenz als auch das der Ambivalenz auf die Ergebnisse unserer Analyse anwenden, kommen wir zu der Tabelle II für die – in einfache persönlichkeitsbeschreibende Terminologie gefaßt – möglichen Bedeutungen von Größe, Geschwindigkeit und Druck.

Abb. 28 – 30 Geschwindigkeit


Abb. 28 (37 %) Schnell


Abb. 29 (37 %) Mittel


Abb. 30 (37 %) Langsam

Tabelle II Ausdehnung, Geschwindigkeit und Wucht



Der Schreibduktus, lateral und longitudinal:

Schärfe und Teigigkeit, Verbundenheit und Unverbundenheit

Eine zentrale Position zwischen den im vorigen Kapitel erörterten Dimensionen und denjenigen, die Richtungsprinzipien betreffen, nehmen die Eigenschaften des Strichs ein, die nicht zu dessen grundlegender motorischer Verfaßtheit gehören und auch noch nicht in das System der quasi-räumlichen Orientierung übergreifen, das die Struktur des Schreibens als ganze beherrscht.

Außer durch die Eigenschaft des Drucks, der durch den Kontraktions-Entspannungs-Zyklus moduliert wird, ist der Strich durch einen bestimmten Grad an »absoluter«, d. h. relativ konstanter Dicke charakterisiert. Hängt die letztere auch in gewissem Umfang vom Schreibgerät ab, so bleibt die durchschnittliche Variation der verschiedenen Auswirkungen auf die Strichstärke, die die tatsächliche Verschiedenheit zumindest der gebräuchlicheren Schreibwerkzeuge bewirkt, im wesentlichen unterhalb der Stärke-Variationen, die eine zahlenmäßig entsprechende Varietät von Schreibenden unterschiedlicher charakterologischer Verfaßtheit, die denselben Stift benutzen, erreicht. Auch wenn man dies den individuellen kompensatorischen Anpassungen an den Stift zuschreiben könnte, die aus der – allen Ausdrucksbewegungen zugrundeliegenden – Tendenz der Organismen herrührt, ihre Umwelt gemäß ihren Bedürfnissen zu strukturieren, so ist doch nicht abzustreiten, daß der verbleibende Rest an technisch bedingter Variabilität hinreichend groß ist, um extreme Vorsicht in der Handhabung dieses Kriteriums angeraten sein zu lassen. Mit fortschreitender Übung des Auges allerdings wird dieser Rest durch eine Anzahl qualifizierender Beobachtungen, die es einem mehr oder weniger zu entscheiden erlauben, ob der Dicke widerstanden oder gefrönt, die Dünne geflohen oder gewahrt wird, immer schmaler werden.

 

Die unterschiedlichen Ausdrücke, die soeben für die möglichen Reaktionen eines Individuums auf die beiden Pole der Dimension verwendet wurden, vermitteln schon ihre psychologische Polarität, die sich der Leser ohne Schwierigkeit klar machen kann, indem er die diametral entgegengesetzten Richtungen innerer Erfahrung, die sie nahelegen, nachvollzieht. Die Sinnlichkeit des breiten, schweren Strichs, die »Fleischlosigkeit« des dünnen, scharfen sind unmittelbar ersichtlich. Wenn die Diskussion dieses Kriteriums auch aus systematischen Gründen von der des grundlegend verschiedenen des Drucks getrennt werden mußte, sind die Zusammenhänge zwischen den beiden in der jeweiligen Schriftprobe doch äußerst eng und verwickelt, aber auch erhellend. Je dicker der Strich, desto geringer ist offensichtlich die Möglichkeit für den Kontraktions-Entspannungs-Zyklus, in Form modulierter Drucksteigerung in Erscheinung zu treten; je dünner der Strich, desto größer ist entsprechend diese Möglichkeit. »Teigigkeit« – der graphologische Ausdruck für das Ergebnis dicker, schwerer Striche – erscheint somit als Resultat motorischer Energie, die in einer Art Diffusion wirksam ist, doch insofern sie eher aus einer besonderen Art, den Stift zu halten, herrührt als aus irgendeinem besonderen Grad an muskulärer Energie, kann sie nicht als Maßstab für den Grad dieser Energie genommen werden, sondern nur als eine Modalität, wie sie sich praktisch zeigt; und Schärfe erscheint somit, vice versa, als Produkt motorischer Energie, die, ohne Rücksicht auf ihre Stärke, in einer Art von Konzentration eingesetzt wird (Abb. 31 – 34).

Abb. 31 – 34 Teigigkeit und Schärfe


Abb. 31 Teigig


Abb. 32 Gemäßigt teigig

Diese Analyse legt die Deutung von Teigigkeit versus Schärfe in allgemeinen Termini von sinnlicher und sensorischer Dispersion oder Dezentralisierung versus Ego-linearem Zwang nahe. Der Terminus Ego-linear wurde, negativ, gewählt, weil es keine andere und hinreichend breite Kategorie gibt, die den wahren Umfang hier einschlägiger möglicher Bedeutungen vermittelt; und positiv, weil es allen auf die »Dünnheit« des Duktus zutreffenden möglichen Bedeutungsschattierungen gemeinsam ist, daß der Organismus, dem sie zugehören, von der Selbsterfahrung in der Fortschrittsdimension beherrscht ist und, aufgrund entweder einer positiven Orientierung auf das Ziel oder eines Gefühls, »angetrieben zu werden«, oder einer negativen Bewertung der jeweiligen Umgebung oder irgendeiner Kombination dieser drei, alle »seitlichen« Stimuli mehr oder weniger als Störungen erfährt. Damit ergibt sich die folgende Tabelle möglicher Charakterzüge.


Abb. 33 Gemäßigt scharf


Abb. 34 Scharf

Tabelle III Dispersion des Duktus


Als eine besondere Verzweigung möglicher negativer Bedeutungen von Teigigkeit könnten Verstohlenheit und Heimlichtuerei erwähnt werden, ein »Vertuschen«, das sich visuell und psychologisch aus der verdunkelnden Wirkung von schmierigen Exzessen dieser Eigenschaft, einem Ausfüllen von Schleifen usw., ergibt. »Schlechtes Gewissen« im Sinne von Schulderfahrung, die unmittelbarer mit Angstgefühlen verbunden ist als in Fällen zwanghafter oder paranoider »Schuld«, ist bereits in einigen der Wesenszüge für Teigigkeit (speziell dem der »frei strömenden Angst«) einbegriffen, die unter dem Minuszeichen aufgelistet sind und die aus den Implikationen positiver sinnlicher Nachgiebigkeit, die diese Qualität mit sich bringt, resultieren. Nebenbei bemerkt ein weiteres Zeichen für die wesensmäßige Einheit der Persönlichkeitsstruktur an sich und in ihren motorisch-expressiven Aspekten.

Die Längen-Charakteristik des Strichs kann, über ihre besonderen richtungsmäßigen und gestischen Eigenschaften hinaus, hinsichtlich der relativen Bereitschaft des Schreibers bewertet werden, seine Wörter in einer mehr oder weniger geschlossenen Bewegung des Stifts zu produzieren oder aber in einer mehr oder weniger unzusammenhängenden Weise vorzugehen. Die hier wirksamen psychologischen Prinzipien sind, allgemein hinsichtlich der »Gestik«, die Tendenz der »Unverbundenheit«, zu isolieren, einzuschließen, zu sammeln, zu bewahren, einzuzäunen, sich abzusichern, sich anzulehnen, abzuwarten, nachzudenken, wegzuschieben, anzuhäufen, zu erhalten, zu versorgen, auszusäen und wachsen zu lassen, und die Tendenz der »Verbundenheit«, zu binden, zu vermischen, zusammenzubringen, zu ordnen, anzupacken, zu organisieren, Kompromisse zu schließen, loszureißen, mitzunehmen, durchzubrechen, vorzurücken, weiterzumachen, zu unterhalten, nie anzuhalten, anzugreifen, zu erobern, die Vergangenheit zu fliehen, anzutreiben, Dinge zu tun und laufen zu lassen. Die Beziehung von Verbundenheit und Unverbundenheit zu Lebens-Grundhaltungen und -Einstellungen ist offensichtlich und dürfte durch soziale und ethnologische Untersuchungen zur Handschrift verifizierbar sein; und nicht nur der Grad eines dieser Züge und seiner verschiedenen möglichen Schwankungen, sondern abermals auch die Gesamtheit aller anderen Indikatoren ist in unterschiedlichem Maße entscheidend für ihre spezifische psychologische Bedeutung (Abb. 35 – 40).

Abb. 35 – 40 Verbundenheitsgrad


Abb. 35 (12 %) Gewöhnliche Verbundenheit


Abb. 36 (12 %) Ebenmaß von Verbundenheit und Unverbundenheit


Abb. 37 (12 %) Gesteigerte Unverbundenheit


Abb. 38 (12 %) Isolierung der Buchstaben


Abb. 39 (7 %) Verbindende Tendenz mit Verschlingung der Wörter


Abb. 40 (7 %) Verschlingung der Wörter

bei Unverbundenheit innerhalb derselben

Die besondere Beziehung des Verbundenheitsgrades zu den Gedächtnisfunktionen folgt aus dem vorigen: Zwischen den Extrempositionen von Flucht vor der Vergangenheit und perseverativer Fixierung auf sie sind alle Schattierungen möglich, und sie differenzieren sich weiterhin durch die einschlägigen Kriterien, die sich innerhalb der Dimensionen der Zonenbetonung, der Gesamt-Rechts- und -Linksläufigkeit, der Völle und der Betonung oder Abschwächung der worteröffnenden Aufstriche, deren Bedeutung später auseinandergesetzt wird, ergeben. Unverbundene Handschriften (ausgenommen solche, die Druckschrift benutzen) können fragmentiert sein bis hin zu einem zerstückelten Nebeneinander der Buchstaben oder sogar noch weiter (bei manchen Typen von Hebephrenie; oft auch bei Senilität – die Neigung zur Unverbundenheit tendiert, in Übereinstimmung mit ihrer psychologischen Bedeutung, dazu, sich mit dem Alter zu steigern); sie können andererseits aber auch so vorgehen, daß die Buchstaben umgruppiert und die Schulschriftmuster als ganze in einer originellen und ästhetisch befriedigenden Weise persönlich neu angeordnet werden, die keineswegs den Eindruck der Fragmentierung, sondern dem Graphologen vielmehr den »neuer Ganzheiten« und dem Laien aufgrund der abschließenden Wirkung wiederum einen von »ganzen Wörtern« vermittelt. Gesteigerte Verbundenheit, die ganze Wörter aneinander bindet, ist negativ (und vergleichsweise selten) als Zeichen der Flüchtigkeit der Ideen zu deuten; positiv kann sie auf einen besonders ausgeprägten Kombinationssinn hinweisen und findet sich häufig in den Handschriften militärischer, politischer oder von Schach-Strategen, ebenso aber, besonders in Verbindung mit einer spezifischen wortintern auftretenden Unverbundenheit, bei schöpferischen Autoren und Künstlern eines eher spekulativen und avantgardistischen als konservativen und meditativen Typs. Es folgt eine Tabelle der möglichen Charakterzüge, die sich innerhalb der Dimension von Verbundenheit versus Unverbundenheit zeigen.

Tabelle IV Verbundenheitsgrad


Die vertikale Dimension: Die drei Zonen

In einem vorausgehenden Kapitel wurde die Ausdehnung der Handschrift in die zur Fortbewegungsrichtung als ganzer senkrechte Dimension als abhängig von der Orientierung der Person im Bereich vorhandener Werte definiert. Die betreffenden möglichen Betonungen oder Abschwächungen entweder der oberen oder der unteren Zone wurden als auf die entsprechenden allgemeinen Sphären innerer Erfahrung bezogen interpretiert, und der Grad an vertikaler Entwicklung der Mittelzone wurde als Darstellung des Betonungsgrades von Aktivität an sich, im Unterschied zu irgendwelchen in erster Linie »erfahrungsorientierten« Haltungen, definiert.

Die dabei sich zeigende Situation verweist auf zwei verschiedene Verhältnisse, deren eines der Proportion zwischen den Randzonen, das andere der zwischen diesen beiden und der Mittelzone angehört.

Erörtern wir zuerst das letztere. Wenn mein Stift sich nach rechts bewegt, erfahre ich Richtungsimpulse, die unter die beiden allgemeinen Kategorien horizontalen Voranschreitens und vertikaler Organisation eingeordnet werden können. Ersteres wird durch das Bild eines Ziels geleitet, auf das hin meine Aktivität als ganze sich innerhalb ihres äußeren Beziehungsgefüges bewegt; die zweite durch die Notwendigkeit, diese Aktivität so auszuführen, daß sie einem realen oder imaginierten Leser das vermittelt, was ich sie vermitteln lassen will. Das heißt, daß in der Aktivität zusätzlich zum äußeren Ziel ein inneres am Werk ist, mit dem ich mich identifiziere und das hinsichtlich der Richtung je nach dem Grad der Identifizierung dazu neigt, den Forderungen des äußeren entgegenzuwirken. Auf der bewußten Seite des Vorgangs besteht dieses Ziel einfach in den Formen der zu erzeugenden Buchstaben; um sie herzustellen, muß ich aber meine gesamte Haltung umwerfen, von der, da horizontal orientiert, zu erwarten ist, daß sie negativ auf die Störung durch den Versuch reagiert, vertikale Ablenkung auf ein Minimum zu reduzieren. Je steifer meine Haltung ist, desto stärker dieser Versuch; je elastischer und harmonischer folglich mein gesamter Gefühlshaushalt, desto ebenmäßiger in seinen vertikal-horizontalen Proportionen das Produkt. Daraus ergeben sich bereits zwei Schlußfolgerungen, um aber zu der ersten zu gelangen, müssen wir noch genauer auf den hier verwendeten Begriff des »äußeren Ziels« eingehen. Offensichtlich ist dieses Ziel – da spezifische Richtungsaspekte nicht zu der hier erörterten Bewegungsdimension gehören – kein besonderes im Sinne eines konkreten Bildes, das einer emotional positiven inneren Erfahrung entspricht, sondern eher das allgemeine vom »Voran-«, »Durch-« oder »Zuendekommen«; kurz gesagt konzentriert der Schreibende sich auf die Zukunft an sich. Dies mag vorübergehend sein und daran liegen, daß er wenig Zeit hat, in Eile ist usw., wenn aber zugleich die Schreibgeschwindigkeit keine signifikante Steigerung erfährt, folgt daraus offenbar eher allgemein, daß die Person sich in ihrer augenblicklichen Lage unbehaglich fühlt und ihren Belastungen zu entkommen sucht, eine Schlußfolgerung, die wiederum mit dem Begriff der Steifheit zusammenstimmt, der oben für hilfreich befunden wurde, das Phänomen vertikaler Abschwächungen bei den spezifisch sie verursachenden motorischen Reaktionen zu erklären. Unsere erste Schlußfolgerung ist also, daß ein größeres Ebenmaß der Verteilung von Bewegungsanteilen auf die beiden Dimensionen, kurz eine vertikal bedeutsame Entwicklung der Mittelzone, eine positive innere Fokussierung des Schreibenden, mit allen Implikationen von Selbstzufriedenheit und Intensität der inneren Erfahrung, auf die von ihm betriebenen Aktivitäten als solche anzeigen würde, im Unterschied zum inneren Fokus eher auf die allgemeine Richtung möglicher Ziele – d. h. die Zukunft –, wie sie sich in einer vertikalen Verminderung der Mittelzone zeigt. Unsere zweite Schlußfolgerung ist, daß ein Verlust der inneren Ausgeglichenheit, die für eine positive Erfahrung des »gegenwärtigen Augenblicks« erfordert ist – ein Verlust, bei dem »Steifheit« nur ein Aspekt ist –, umgekehrt in Form eben dieser Abschwächung aufscheinen würde.