Graphologie. Schriften 1

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Auf der Grundlage dessen, was im vorigen bereits darüber gesagt wurde, könnte Winkelhaftigkeit so interpretiert werden, daß sie notwendig eine kompromißlose Annäherung seitens des Schreibers an seine Umwelt mit sich bringt. Offensichtlich aber kann der Indikator schon in dieser seiner scheinbar grundlegenden Bedeutung durch das Prinzip der Interdependenz eingeschränkt werden, das hier in Form anderer Indikatoren wirksam ist, wie sie in erster Linie durch zwei der drei allgemeinen dynamischen Aspekte der horizontalen Dimension, nämlich Enge oder vorwiegende Gesamtlinksläufigkeit oder irgendeine Kombination von ihnen, geliefert werden; »mangelnde Kompromißbereitschaft« kann durch Vorsicht, Diplomatie, Selbsterhaltung in solch einem Maße verändert werden, daß sie deren Verhaltensbild verschleiern, auch wenn die erwähnten realen Charakterzüge, sobald wir einen distanzierteren Blick auf den Lebensweg wählen und uns auf die tatsächlichen Leistungen der Person konzentrieren, diese »mangelnde Bereitschaft« eher auszuprägen als zu verringern scheinen. Da indes »mangelnde Kompromißbereitschaft« und »Diplomatie« ein logischer Widerspruch bleiben, müssen wir nach einer weiter angelegten und grundsätzlicheren Kategorie Ausschau halten, die »Winkeligkeit« abdeckt; wir finden sie in einer Verwirklichung des Typs innerer Erfahrung, der dieser Form der Bewegung zugrundeliegt. Mangelnde Kompromißbereitschaft – im Sinne ausschließlich von inneren Erfahrungen, die die Form dieser mangelnden Bereitschaft haben – bedeutet nicht länger notwendig kompromißloses Verhalten, sondern eine primäre Orientierung auf Gewalt hin, d. h. das plötzliche An-den-Tag-Legen von Energie zur Lösung von Konflikten. Das bedeutet wiederum, daß die Ich-Realität-Beziehung selbst in der primären Form eines Konflikts erfahren wird, der nur »Auf-« und »Abstriche«, kurz, »entweder-oder«-Entscheidungen im Sinne einer unentrinnbaren inneren Alternative, der sich der Schreiber gegenübersieht, erlaubt: Er verfolgt seinen Lebensweg, nicht notwendig kompromißlos – seine Kompromisse allerdings, wenn ansonsten auch angebracht, scheinen eher die Form von Geduld, selbstbeschränkender Mäßigung, einem Auf-seine-Stunde-Warten usw. zu haben als die einer Nachgiebigkeit in seinen letzten Zielen –, er verfolgt den Weg aber in jedem Fall als eine sukzessive Ausführung von Entscheidungen gleich welcher Art und welchen Inhalts, von denen jede durch die Erfahrung einer Konfliktsituation erforderlich gemacht wurde und jede den Anstoß erzeugt, den er braucht, um auf die nächste zuzutreiben.

Diese generative Fähigkeit der typischen winkelhaften Schreibbewegung wird durch eine Einschätzung des hier beteiligten Handlungstyps auch auf seiner physiologischen Seite bestätigt. Außer für derart überkontrollierte winkelhafte Schriftzüge, daß ihre Ausführung in besonderer Langsamkeit erfolgt – in welchem Falle das kombinierte Auftreten von Langsamkeit und Winkelhaftigkeit sowohl hinsichtlich der Motive als auch aus Sicht der visuellen Erfahrung besonders vorsätzlich und gekünstelt erscheint –, ist es nicht möglich, gerade und zugleich scharf terminierte Fingerbewegungen auszuführen, ohne daß ein Gegenimpuls auftritt. Wie alle körperlichen Bewegungen dieser Art unterliegen sie unwillentlichen muskulären Rückstoßprozessen, d. h. propriozeptiven Reflexen, die aus kompensatorischen Innervationen des »passiven« Muskels herrühren und seine vorausgehende intrazentrale Blockade ausgleichen (Sherringtons »sekundäres Induktions«-Phänomen), ein Effekt, der umso stärker ist, je schneller die Bewegung abgelaufen ist. Die Notwendigkeit, diesen Rückstoß zu kontrollieren, ist grundlegend für jede koordinierte willentliche Bewegung, die Art und Weise aber, wie diese Kontrolle ausgeübt wird, ist charakterologisch aufschlußreich. Die je besondere Haltung des Urhebers der schnellen winkelhaften Spur zur Kontrollaufgabe kann als eine Neigung bestimmt werden, den Reflex zu meistern, indem man ihn ohne irgendeinen Versuch zur Unterdrückung in seiner vollen natürlichen Kraft und auch annähernd in seiner jeweiligen Richtung benutzt. Die psychologischen Implikationen dieses Verhaltens sind mannigfaltig. Ein Aspekt des Komplexes, auf den wir hier gestoßen sind, ist, daß die motorische Energie, die er an den Tag legt, sich direkt aus der Kraft der Impulsivität speist, daß der letzteren zu gehorchen und sie zu kontrollieren in seiner Erfahrung eins sind und daß zwischen inneren Bedürfnissen und äußerer »Rolle« ein Antagonismus oder sogar eine Trennung nicht erlaubt ist; eine Konstellation, die umgekehrt bedeutet, daß er – negativ – seiner Position im sozialen Umfeld kaum inne ist und daß er – positiv – stark dazu neigt, so vollständig wie möglich in seinen Handlungen und Interessen aufzugehen, also dazu, »eine Sache um ihrer selbst willen zu tun«. Auf der anderen Seite liegt, da sich aus unserer Analyse seiner Art, den propriozeptiven Reflex zu bewältigen, ergibt, daß in ihm Erfahrungen der vollsten Impulsentbindung und der vollsten willentlichen Konzentration in kürzest denkbaren Intervallen aufeinander folgen müssen, ein besonderer Hang zu extremen und schnellen Wechseln der Einstellung nahe, eine Folgerung, die wiederum eine Anfälligkeit seinerseits – negativ – für innere Konflikte oder – positiv – für die betonte »Selbststeuerung«, wie sie der Dynamik schöpferischen Denkens eigen ist, impliziert.

Eine weitere Schlußfolgerung, die diese innere Situation des Winkel-Schreibers fordert, ist dessen grundlegender Moralismus, nicht im Sinne irgendeiner notwendigen Entfaltung, Art oder Qualität seiner Moralität – die natürlich (je nach Formniveau und Kriterien aus anderen Dimensionen) die ganze Spannbreite von sehr hoch bis sehr niedrig einnehmen kann –, sondern in dem Sinne, daß seine inneren Erfahrungen gemäß einem imperativen Bedürfnis artikuliert werden, ja oder nein zu sagen. Kurz gesagt ist der Winkel-Schreiber, selbst in seinen gewöhnlichsten alltäglichen Verrichtungen, was, wie bereits bekannt, auf die Mittelzone der Handschrift verweist, unablässig gezwungen, sich, abermals ohne Rücksicht auf Art und Qualität, an Werten zu orientieren: Die Beziehung von »Auf«- und »Ab«-strichen in der Mittelzone zu den Randzonen der vertikalen Dimension ist gleichfalls ziemlich zwingend und zeigt den hier diskutierten Komplex nur in einem weiteren seiner mannigfaltigen Aspekte. Nun gilt es, das hieraus resultierende psychologische Gesamtbild der graphischen Winkelhaftigkeit in seinen Umrissen zu entwickeln, um zu einer Tabelle möglicher Charakterzüge zu gelangen, die am Schluß dieses Unterkapitels dafür aufgestellt wird.

Angesichts der Strenge ihrer Impulskoordination – die in keiner Weise notwendig zu einer Uneffektivität der letzteren führt – ist die nächste Verwandte des Winkels unter den anderen Hauptbindungsformen offenbar die Arkade; ihre Unterschiede sind indes mindestens ebenso groß wie die Ähnlichkeiten. Im Winkel ist der Kontraktions-Entspannungs-Zyklus so durch die Erfahrung der Person von dessen Polen akzentuiert, daß kein Raum für Übergänge zwischen den beiden mehr bleibt. Das nimmt den Entspannungsbewegungen die Qualität des »Fließens«, die notwendig ist für ihre voll bewußte Ausprägung als Entspannungserfahrungen; in der Folge, und in Übereinstimmung mit allen anderen von dieser Form nahegelegten Aspekten der Charakterstruktur, nimmt man vom Winkel-Schreiber an, daß er derartige innere Ansprüche auf bewußte Entspannungserfahrungen, auf die er als menschliches Wesen notwendigerweise stößt, verdrängt. Wenn wir nun die Arkade genau im Aspekt ihres gestischen Profils analysieren, der mit dem soeben diskutierten Aspekt der Winkelhaftigkeit vergleichbar ist, dann finden wir eine völlig andere Struktur. In der Arkade wird die Kontraktion ausgeprägt aufgebaut und kurz entspannt, aufgrund der Erfahrung eines überwundenen Hindernisses, einer gesicherten Position, die ihr gestisches Profil nahelegt, erweist sich die Entspannung aber als ein Abfließen verbrauchter Energie, das dem Schreiber einen Moment Pause gestattet: Anders als die »Entspannung« im Winkel, wo jede Linie als gerader Strich dazu neigt, über sein Ziel hinauszuschießen, es sei denn, das Erreichen dieses Punkts mündet darein, sofort einen neuen Stoß in entgegengesetzter Richtung aufzunehmen, ist Entspannung in der Arkade, ungeachtet ihrer Kürze und gewiß in geringerem Maße als in der kontraktiven Phase der Arkadenbewegung, immer noch bewußt artikuliert.

Die für den Winkel resp. die Arkade festgestellten motorischen Erfahrungen der Schwierigkeit anzuhalten resp. des leichten Pausierens sind für jeden, der selbst mit den beiden Formen experimentieren möchte, leicht nachzuvollziehen. Die Arkade bezieht sich gemäß diesen und anderen Indikatoren auf eine Erfahrung des Einhaltens, nachdem ein Punkt des Widerstands überwunden wurde, nicht indem er beseitigt, sondern indem er umstellt, überwältigt, überredet, vereinnahmt, verteidigt, gepflegt wurde; was die Facetten des »Aneignens«, »Verteidigens« und der »Pflege« betrifft, so ist ihre gestische Ähnlichkeit mit einer Hand, die sich zugreifend, aber auch schützend oder zärtlich ausstreckt, offensichtlich. Die Arkade ist recht ersichtlich eine Geste des Abschließens, das Reich wird abgesteckt, seine Grenzen dürfen von was oder wem jenseits ihrer auch immer nicht überschritten werden oder werden sogar aktiv ausgeweitet. Der Winkel-Schreiber hat, und wenn auch nur um den Preis unausgesetzter Aktivität ohne Ruhe und Frieden, immer noch Verkehr mit seiner Umwelt: Auch wenn er Ich und Umwelt als notwendig konflikthafte Gegensätze erfährt, so ist er dabei doch mit der Umwelt noch in einem Punkt vereint, denn beide haben an der »Uneinigkeit« teil, die für ihn die einzig »reale« Erfahrung ist; für den Arkaden-Schreiber ist die Umwelt nur insoweit »real«, d. h. sie zählt, als er Macht über sie hat, und er selbst ist nur insoweit »real«, als er Frieden haben, d. h. seine Spannung entlasten kann, was er wiederum erst erreichen kann, nachdem er sich etwas von der Umwelt in eine seiner deutlich ausgeprägten Kontraktionsbewegungen einverleibt hat.

 

Die Arkade ist also eine Geste sowohl des Herrschens als auch des Ausgrenzens, und das bestimmt auch den Umfang ihrer um diese Basis zentrierten möglichen positiven Bedeutungen. Einige ihrer Implikationen dürften nicht sofort offensichtlich sein; eine davon ist das bestimmte Gefühl einer inneren Leere oder eines Vakuums und des Bedürfnisses, diesem Vakuum durch die konkav umschreibende Bewegung des Halbkreises zu entrinnen, die sie trägt und die in der für sie wesentlichen Gestaltqualität des Bogens [arch], aus der auch ihr Name [arcade] herrührt, selbst zur Geltung kommt. Die bestimmende Ausdrucksqualität der Wölbung besteht, »trotz« der Leere, die sie überbrückt, wenn wir sie in unserer inneren Erfahrung klären, in der Aufrechterhaltung einer bestimmten und stabilen Form oder Regel, d. h., in Begriffen der symbolischen Bedeutung gesagt, der Realität selbst. Das gibt ihr einen demonstrativen Charakter: Die Wölbung »repräsentiert«, und von daher wird auch ihre große Rolle in der Architektur des Römischen Reichs, des zeitlosen Modells des imperialistischen Staates, verständlich. Die Arkade kommt deshalb häufig sowohl in den Handschriften von Mitgliedern herrschender sozialer Gruppen vor, die einer durch ihre Herkunft und ihren Status aufgenötigten Verpflichtung zur Repräsentativität ihrer Haltung unterliegen, als auch in denen von schizoiden und schizophrenen Individuen, die sich selbst abkapseln und sich in ihrer Abschottung der Aufrechterhaltung eines Realitätsgefühls als erstrangigem Lebensproblem gegenübersehen.

Um alle diese auf sie bezogenen Bedeutungsschattierungen in einer Kategorie zu umfassen, können wir die Arkade als die spezifischste Geste der Artikulation des Ich definieren. Im Interesse der Klarheit muß die Differenz zwischen ihr und den im vorigen erwähnten Ich-Indikatoren hervorgehoben werden. Regelmaß und Druck zeigen eine Betonung von willentlicher Kontrolle im Gesamtfunktionieren der Persönlichkeit an. Schärfe deutet auf eine Triebhierarchie hin, die eine verstärkte Erfahrung des Ich von seinen Wechselwirkungen mit dem Selbst und der Umwelt, nicht notwendig aber eine von der Distanz zu beiden einschließt. Steilheit ist eine Geste der Enthaltung gegenüber emotionalen Verstrickungen mit der Umwelt. Eine niedrige Mittelzone zeigt die Ich-Funktionen akzentuiert durch das Bedürfnis, unbehaglicher innerer Anspannung zu entkommen; eine breite hingegen zeigt die Ichfunktionen im Zustand der Entspannung und der Harmonie mit dem Selbst und seinen Ressourcen. Gesamtlinksläufigkeit betont die Person in ihren Beziehungen zur Vergangenheit, ihre inneren Erfahrungen, ihre materiellen und triebhaften Ressourcen, d. h. eher das Selbst als das Ich. Eine Betonung der Majuskeln weist sowohl auf eine Vergrößerung des Ich-Bildes als auch auf eine Verstärkung seiner motivierenden Kraft hin. Die Arkade schließlich ist ein Indikator für das Ich, das mit emphatischer Steigerung der Distanz-Erfahrung seine kritischste und am entschiedensten selbst-konstitutive Funktion ausübt: als ein Schirm zwischen Selbst und Umwelt.

Mit einer Analyse der Girlande kehrt sich dieses Bild völlig um. Wo die Arkade abschließt, öffnet die Girlande; wo die Arkade herrscht, unterwirft sich die Girlande; wo die Arkade aneignet und absichert, gibt die Girlande her und legt bloß, gibt sich selbst der Umwelt preis und zieht diese eher herein, als daß sie sich ihr aufzwänge. Dies wird durch einige weitere ihrer folgenden Aspekte bestärkt, die allesamt in derselben psychologischen Substanz ihrer ausdrucksmäßigen Gesamtqualität konvergieren. In der Arkade liegt die Ruheposition im untersten Punkt, folgt unmittelbar auf die Kontraktion, nach dem »Umgehen eines Hindernisses«; in der Girlande »hängt sie« nach einer langgezogenen Entspannungsbewegung und vor einer hier äußerst kurzen neuen Abwärts-Kontraktion »in der Luft«. Die Implikation von Vertrauen in der Wahl des Ruhepunkts kann einem nicht entgehen. Der Girlanden-Schreiber ist in der Welt zuhause; das »Heim« des Arkaden-Schreibers ist ein Schutzraum vor ihr. Für den Arkaden-Schreiber ist das Ich grundsätzlich realer als die Umwelt; für den Girlanden-Schreiber die Umwelt grundsätzlich realer als das Ich. Für den Arkaden-Schreiber hängt die Realität der Umwelt, die sich seine Geste einverleibt, selbst von der Einverleibung, d. h. vom Ich ab; für den Girlanden-Schreiber ist das Ich nur insoweit real, als es das Einfließen von Realität in seinem – für ihn – äußersten Sinne, d. h. als eines der Umwelt, erfährt. Dies bedeutet wiederum, daß die innere Orientierung des Girlanden-Schreibers eher von emotionalen als von Ich-Funktionen beherrscht wird, und das erklärt das weit häufigere, auch durch einen Aspekt seines Formcharakters nahegelegte, Vorkommen der Girlande in den Handschriften von Frauen als denen von Männern. Ihre Beziehung zu Affektpsychosen ist aus dieser Prämisse ebenfalls offensichtlich. An möglichen negativen Implikationen wären die verschiedenen Schattierungen von Parasitentum zu erwähnen, die sich aus noch anderen Aspekten ihres Formcharakters, der nehmenden Hand und des »Aussaugens«, ergeben.

Wo eine Ausprägung des Charakters sei es nie zustandegekommen, sei es desintegrativen Prozessen gewichen ist, wird sein kristallisierter Ausdruck, die »typische Geste« der Person, verschwommen: Der Faden ist eine Äußerung entweder mehr oder weniger abgenutzter ursprünglicher Haltungen oder, etwa bei manchen Geisteskrankheiten, ebenso aber, in Form einer fadenbildenden »Tendenz«, bei nervöser, mehr oder weniger chronischer Erschöpfung, eines grundlegenden inneren Zustands von Unbestimmtheit, über den die Person im Laufe ihrer triebhaften, emotionalen und moralischen Reifung niemals hinausgekommen ist und der entsprechend eine Gesamtambivalenz des Persönlichkeitswerts mit sich bringt, wie er charakteristisch für die innere und äußere Verfassung nicht nur der pathoformen Problemkinder der Gesellschaft, sondern auch ihrer wirklichen und möglichen Genies ist: Im letzten Fall erscheint der Faden nicht als das Produkt einer Abnutzung der anderen, sogenannten archaischen Bindungsformen, sondern als ein kapriziöses, mehr oder weniger regelloses Wechseln zwischen ihnen. Dementsprechend ist es für eine zutreffende Bewertung der Fadenbindung als Indikator entscheidend, ob diese graphische Manipulation als ein schöpferisches Chaos erscheint, das wechselnde archaische Bindungsformen hervorbringt, deren jede in ausgeprägter und ursprünglicher Art und Weise die fortwährende Abfolge divergierender oder antagonistischer psychomotorischer Kräfte nahelegt, von denen jede stark genug ist, die vorübergehende Identifizierung der Person mit ihnen zum Zeitpunkt ihres Entstehens zu bestärken – in welchem Fall man von »primärem Faden« spricht –, oder ob das Bild das einer Zerrissenheit ist, eines »Fädelns« im buchstäblicheren Sinne einer Weigerung, sich durch irgendeine ausgeprägte Form »festzulegen« – eine Verweigerung, die im Wesentlichen nur dem rechtsläufigen Impuls und somit dem Weg des geringsten Widerstands folgt; Kombinationen der beiden Typen sind selbstverständlich ebenso möglich wie Kombinationen der beiden hier genannten Typen innerer Verfaßtheit. Im zweiten Fall, dem des »sekundären Fadens«, ist das unausweichliche Ergebnis einer derartigen Abnutzung jeglicher Form stets eine Verminderung der Mittelzone, die, abhängig von der Stärke der Kräfte des Über-Ich, absolut oder relativ sein kann, d. h. auch die Randzonen betreffen kann oder nicht. Auf jeden Fall wiegt unsere vorausgehende Diskussion der vertikalen Dimension schwer für ein Verständnis der Fadenbindung als eines Typs graphischer Manipulation, von dem man, in einem seiner Aspekte, sagen kann, daß er eine Orientierung im Bereich verfügbarer Werte zu vermeiden sucht. Dieses Vermeiden kann entweder – da, wo die Rand-Anteile ebenfalls vermindert sind – die gesamten Ansichten der Person über ihr Selbst und über die Umwelt betreffen, oder aber dort, wo die Rand-Anteile, die nicht-absorbierte innere Ansprüche repräsentieren, überentwickelt sind und wo nur in der Mittelzone die vertikale Bewegung minimiert bleibt, auf die alltäglichen Handlungen und die hinsichtlich ihrer eingenommen spontanen Haltungen, die durch die fortlaufende Rechtsausdehnung der Mittelzone repräsentiert werden, begrenzt sein; im letzteren Fall liegt eine Spezifizierung der durch eine niedrige Mittelzone vermittelten Anzeichen für Anspannung im Sinne einer Zuordnung derartiger Anspannung zu funktionell nervösen Störungen nahe.

Allgemeiner gesagt wird der sekundäre Faden-Schreiber nicht von einer Identifizierung mit seinen Handlungen als solchen im Sinne einer bedeutungsvollen Erfahrung ihrer Phasen beherrscht und auch nicht von einem Bedürfnis nach Selbstorganisation, Selbsterfüllung und persönlicher und sozialer Artikuliertheit, während er in der Dimension der Zeit auf seine Zielbilder zuschreitet, sondern offensichtlich von der Erfahrung, irgendwie und egal wie in dieser Dimension vorwärtskommen und in diesem Prozeß ohne Rücksichten und um welchen Preis auch immer sein Ich bewahren zu müssen. Das bedeutet, daß seine leitende Motivation der auf Kosten aller anderen wirksame Trieb zur Selbsterhaltung ist: Der sekundäre Faden ist graphisch eine zentripetale Bewegung, die dazu tendiert, die Kurzformen auf ihre geringst mögliche vertikale Ausdehnung zu reduzieren, d. h. auf einen bloßen Punkt oder Tupfer als Repräsentanten des Ich, das unablässig nach rechts flieht und auf seinem Weg jegliche Verpflichtungen vermeidet.

Das bedeutet, daß mit Verpflichtungen wegen des Fehlens sowohl emotionaler als auch psychomotorischer Substanz nicht umgegangen werden kann, eine Konstellation, die besonders dann, wenn die Mittelzone im Verhältnis zu den Randzonen stark verkleinert ist, im Rorschach-Psychogramm das Bild einer Koarktation beschwört. Eine weitere und spezifischere Facette des psychologischen Bilds des Fadens aber, die sowohl zum primären als auch zum sekundären zu rechnen ist, besteht in der leichten Verfügbarkeit aller Arten von »Einstellungen« für die Person, ein Zug, der insbesondere auf die grundlegendste innere Bedingtheit schöpferischer Begabung, besonders der musikalischen, zu verweisen scheint. Beim primären Faden, bei dem das Primat der »Selbsterhaltung« geradezu eine Indifferenz gegenüber sozialen Normen der Moralität mit sich bringt, kann diese Ambivalenz, diese innere Unentschiedenheit des Kindes und das emotionale Nieganz-Reifen von großer und genuiner elementarer Kraft und zugleich mit dem höchsten Formniveau sowie einem außergewöhnlich hohen Grad an rhythmischer Integration verbunden sein, kombiniert natürlich mit extremer Unregelmäßigkeit, wie in den Handschriften von Beethoven und Napoleon; beim sekundären Faden, bei dem dieselbe Eigenheit nur andeutungsweise, auf flüchtige, oberflächliche und mehr oder weniger unoriginelle oder sogar mechanische Art und Weise wirksam ist, drängen sich Winkel, Arkaden und Girlanden als bloße Implikationen pathologischen Lügens und einer hysterischen Mimikry von Gefühlen auf. Das erstere kann im wesentlichen immer angenommen werden; die letztere spezieller dort, wo Randüberdehnungen, statt in einer Art »Zusammenpressen« auf die Mittelzone zu drücken, eher dazu tendieren, zentrifugale Bewegungsimpulse, in plötzlichem Wechsel mit zentripetalen Tendenzen der Fadenbindung selbst, zu absorbieren. Dieses Absorbieren kann die Form aufgeblähter und in anderer Weise disproportional erweiterter Auswüchse besonders der Oberzone haben (die Unterzone ist in den Handschriften von Hysterikern gewöhnlich »verkrüppelt«, kann aber gleichermaßen signifikant abrupte Schwankungen aufweisen); ob in solchen Fällen nur eine sanfte Tendenz zu hysterischer »Übertreibung« oder aber ernsthaftere Schlußfolgerungen naheliegen, hängt einmal mehr sowohl von qualitativen Attributen des Zeichens selbst wie vom Gesamtbild ab.

Eine spezielle Version der Fadenbindung ist der Doppelbogen, der einige wesentliche Elemente der allgemeinen Ausdrucksqualität des Fadens mit der größeren Verträglichkeit mit vertikalen Bewegungsimpulsen wie ebenso mit einer höheren positiven Formkonsistenz verbindet. In der Systematik der Bindungsformen ist er als graphisch wie psychologisch offensichtlich direktester Gegenpol zum Winkel von Bedeutung; praktisch kommt er kaum vor. Wie er interpretiert wird, kann von seiner Polarität zum Winkel bestimmt sein: Im Sinne der obigen Feststellung ist er die »gewundene Linie« an sich, die gestische Kristallisation eines Charakters, der, obwohl es ihm an Identifizierung mit sich selbst mangelt und er tatsächlich Verpflichtungen aus dem Weg geht, dennoch ein Bedürfnis hat, sich gängigen Werten »anzunähern«, auch wenn er im Augenblick der Annäherung dann Verbindlichkeiten, die die Werte aufzuerlegen neigen, vermeidet. Während er sich so verhält, »als ob« er eine moralische und emotionale Entität und subjektiv in dieser Haltung ziemlich aufrichtig sei, ist es in seinem Fall nicht sein Selbstverständnis, sondern der mögliche Bedeutungsumfang von »Aufrichtigkeit« selbst, den es in Zweifel zu ziehen gilt: Der Doppelbogen-Schreiber ist »ausgeglichen« um den Preis eines ständigen äußeren Ausgleichens, einer tief verwurzelten Diplomatie ohne höchstes Ziel oder Zweck, d. h. einem totalen Kompromiß zwischen seiner inneren Erfahrung einer- und seinem äußeren Verhalten andererseits, das positiv einen besonderen Grad an sozialer Anpassungsfähigkeit, negativ aber das efeuartige »Ranken« des sozialen Parasiten bedeutet (Abb. 69).

 

Abb. 69 Einige typische Modifikationen

Zum Schluß sollte ein spezifisches mögliches Attribut aller Bindungsformen kurz erörtert werden: der Deckstrich, entweder in der Form, daß Aufstriche bis zu einem bestimmten Punkt ihrer Bewegung dem Weg der vorausgehenden Abstriche, oder, abhängig von der Natur der spezifischen Bindungsform, daß umgekehrt die letzteren dem der vorausgehenden Aufstriche folgen; im Falle des Winkel-Schreibens ist klar, daß diese Bewegung nur um den Preis des hochgradig berechneten und erzwungenen Auftretens eines »dritten Winkels« innerhalb der Mittelzone in ihrem vertikalen Aspekt möglich ist. Das Zeichen verbindet die wesentlichen Eigenschaften von Enge, d. h. Behinderung der Impulsexternalisierung, mit der spezifischeren Gestik des »Versteckens«, »Verdeckens«, der »Hände unter dem Tisch«, d. h. der Heimlichtuerei; weitere spezifische Hinweise auf den letztgenannten Charakterzug aus anderen Anteilen der Handschrift werden im folgenden Abschnitt aufgegriffen. Während das volle Gewicht der Interpretation dieser Bewegung – einer der Überkontrolle und eines unumschränkten Sicherheitsbedürfnisses – als einer Bewegung tatsächlicher Verlogenheit das Vorhandensein anderer Zeichen voraussetzt, die auf eine Unaufrichtigkeit der Motivationen seitens des Schreibers hindeuten, und während sie auf eine weiterreichende wechselseitige Bedeckung der beiden Striche beschränkt ist, vermindert sich die Schwere des Zeichens als ein Indikator für Heimlichtuerei dort in Richtung auf einen bloßen »Opportunismus«, wo das Ausmaß der Bedeckung sich auf einen begrenzteren Abschnitt im Verlauf des ersten Strichs beschränkt. Diese Modifikation der Bewegung macht eine stärkere Ausprägung einer der graphischen Folgen des Deckstrichs überhaupt notwendig, wie sie für den Fall der winkeligen Handschrift bereits festgestellt wurde: einen Richtungswechsel des zweiten Strichs an dem Punkt, an dem die Bahn des ersten verlassen wird. In der graphologischen Nomenklatur bezeichnet man diese Bewegungsmodifikation wegen ihres Äußeren als »gestützte Form« und versteht sie als eine Näherung an die »Abnutzung« des sekundären Fadens. Sowohl ihre Verminderung in der tatsächlichen Strich-Deckung als auch ihre betonte Richtungsinkonsistenz legen die genannte spezifische Modifikation ihrer psychologischen Bedeutung nahe (Abb. 70 – 86).


Abb. 70 (26 %) Winkel


Abb. 71 (26 %) Winkel


Abb. 72 (7 %) Girlanden


Abb. 73 (7 %) Girlanden


Abb. 74 (7 %) Arkaden


Abb. 75 (7 %) Arkaden


Abb. 76 (7 %) Primärer Faden


Abb. 77 (45 %) Primärer Faden


Abb. 78 (21 %) Sekundärer Faden


Abb. 79 (7 %) Anderer Typ von sekundärem Faden


Abb. 80 (7 %) Anderer Typ von sekundärem Faden


Abb. 81 (7 %) Anderer Typ von sekundärem Faden


Abb. 82 (26 %) Anderer Typ von sekundärem Faden


Abb. 83 (12 %) Deckstriche


Abb. 84 (16 %) Gestützte Formen


Abb. 85 (26 %) Winkel mit arkadischer Tendenz in der Schrift eines ambulanten Schizophrenen


Abb. 86 (37 %) Hängende Girlanden eines Patienten mit Depressionen

Tabelle IX Horizontale Dimension III: Spezifische dynamische Eigenschaften



Statische Aspekte II: die Zeile

Das Richtungsverhalten der Zeile neigt bei jeglichem Schwanken zu einer größeren Amplitude der sichtbaren Schwankungsergebnisse als dies bei anderen graphischen Qualitäten der Fall ist. Das deutet auf eine besondere Nähe zu den vom Schreiber momentan erfahrenen emotionalen Verfassungen hin. Eine genauere Betrachtung der den Wechseln der Zeilenrichtung zugrundeliegenden motorischen Vorgänge stützt diesen Eindruck. Die Zeile »fällt« immer dann, wenn der Arm der Person aufgrund eines Abnehmens der Muskelausdehnung bei Entspannungsbewegungen allmählich zum Körper zurücksinkt. Wenn die Schreibtätigkeit einmal ein paar Seiten gefüllt hat, ist ein geringer Grad an Abnahme einfach die gewöhnliche Folge normaler Muskelermüdung. Übermäßig früh abnehmende Ausgedehntheit der Muskeln kann einem von vornherein gegebenen physischen Ermüdungszustand akuterer Natur geschuldet sein, und letzteres wird man auch anzunehmen haben, sofern nicht Indikatoren aus anderen Dimensionen in Richtung eher chronischer Bedingungen weisen. Ein eher chronischer Zustand wird andererseits immer dann gegeben scheinen und sein psychologisches Korrelat, Mutlosigkeit oder Depression, naheliegen, wenn spezifische Indikatoren aus anderen Dimensionen, wie flache und anergische, »durchhängende« Girlanden, dazu tendieren, dies auf eine Art zu bestätigen, die das akute graphische Aufscheinen von Depression mit dem graphischen Ausdruck einer im Charakter des Schreibers vorherrschenden Emotionalität verbindet. Die entsprechenden Indikationen für ein Gefühl von Optimismus, Eifer, »Erhebung« drängen sich für steigende Zeilen auf, und zwar sowohl wegen ihrer gestischen Implikationen hinsichtlich der symbolischen quasi-räumlichen Erfahrung als auch, soweit die direktere Wirksamkeit des begleitenden muskulären Vorgangs betroffen ist, hinsichtlich der zum Zustandekommen dieser Qualität notwendigen Steigerung der motorischen Ausgedehntheit der Entspannungsbewegung. Die durchgehend horizontale Zeile ist dementsprechend das Ergebnis von Haltungen, die in keiner signifikanten Weise durch den Schlenkereffekt unkontrollierter Emotionen beeinflußt werden.

Daß die abfallende Zeile psychologisch besonders eng auf ein gesamtes Überwiegen der Kontraktion, die steigende Zeile auf eines der Entspannung bezogen ist, liegt deshalb nahe, weil ihr gemeinsames Auftreten mit weiteren Zeichen in Handschriftenproben das bestätigt. Dies ist ein wichtiges Diffenzierungskriterium für das Erkennen »echten« Fallens oder Steigens im Unterschied zu Fällen, wo die Zeilen diese Eigenschaften vortäuschen und ihr »Steigen« oder »Fallen« tatsächlich einer Schräglage des Schreibpapiers geschuldet ist.

Ein mehr oder weniger ausgeprägter Wechsel steigender und fallender Zeilen weist entsprechend auf extreme Gefühlsschwankung hin, und andere Konstellationen der Ich-Affekt-Beziehung zeigen sich in einer Ausdrucksanalyse der verschiedenen auftretenden graphischen Konstellationen. Wenn auch, wie in allen Bewertungsdimensionen, nicht auf alle durch wahrnehmbare Schwankungen der Zeilenrichtung bedingten Eigenheiten ausführlich eingegangen werden kann, sind doch fünf Haupttypen von größerer Komplexität zu unterscheiden.