Graphologie. Schriften 1

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Hier erhebt sich aber die Frage, in Verhältnis zu welchem Faktor man diese Verminderung bewerten soll. Damit man nicht einfach in die Größendimension eintritt, die nur möglicherweise – im Falle kleiner Handschriften – Bedeutungsschattierungen einschließt, welche die »Verminderung der Mittelzone« betreffen, ist offensichtlich ein Einschätzungsstandard für den relativen Grad dieser Verminderung vonnöten. Zwei mögliche Maßstäbe bieten sich an. Einer wäre die horizontale Ausdehnung der Entspannungsbewegungen bei den kurzen Buchstabenformen, in anderen Worten der Abstand zwischen Abstrichen in der Mittelzone. Dieser Maßstab führt eher in die später zu behandelnde Dimension der Rechts-Links-Ausdehnung als in die hier verhandelte: Gerade der Begriff der »Mittelzone« setzt die Existenz verfügbarer Vergleichsmomente in der Vertikalen voraus. Somit erweisen sich die Randzonen, die obere und die untere, als der einzig vernünftige Maßstab; bevor wir ihn anwenden, muß man sich allerdings ein mögliches Hindernis klar machen. Erstreckt sich der Prozeß der vertikalen Reduktion nicht auch auf die langen Buchstabenformen selbst? Unsere Antwort ist, daß er es bei spezifischen Gelegenheiten tut, die horizontale Vergleichspunkte als einzig verfügbare übriglassen und deshalb eher in das oben erwähnte Beobachtungsfeld – die Beurteilung der relativen Weite – gehören als in die hier diskutierte Bewertung. Für unseren gegenwärtigen Zweck ist der einzig wichtige Tatbestand der, daß in einer großen Anzahl von Handschriften mit einer Verengung der Mittelzonen die oberen und unteren Weiten nicht nur nicht ebenso vermindert sind, sondern sogar eine besondere quantitative Betonung aufweisen (Abb. 41 – 43).

Abb. 41 – 46 Vertikale Dimension


Abb. 41 (10 %) Übermäßig ausgedehnte Mittelzone


Abb. 42 (10 %) Normale Mittelzone


Abb. 43 (7 %) Verengte Mittelzone

Um diese Beobachtung zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, daß einzig in der Mittelzone die horizontale Bewegung zusammenhängend ist. Folglich würden Störungen des horizontalen Drangs in erster Linie diese Zone betreffen und nur möglicherweise und indirekt die Randlängen. Deren Funktion in der ästhetischen und motorischen Ausprägung der gesamten Schreibstruktur ist eine des seitlichen Ausbalancierens der rechtsgerichteten Bewegung, etwa so wie die Armbewegung bei einem Seiltänzer, der seine Tätigkeit mittels eines Stocks ausbalanciert. Diese Analogie ist einmal mehr nicht als übertragene zu verstehen, sondern als das Auftreten eines Gestalt-Prinzips, das sich in zwei eher materiell als strukturell verschiedenen Arten von Situationen manifestiert. Je dünner das Seil, desto mehr müssen im gesamten Seiltanzvorgang diese Balancebewegungen betont werden und desto mehr kommt jener notwendig eher durch spontane Anpassungen des Organismus an seine Situation als durch einen Reflexionsprozeß seitens des Seiltänzers zustande. Je dünner, entsprechend, die Mittelzone in der Handschrift ist, desto ausgeprägter wird das Bedürfnis des Schreibers nach Randbetonung sein, es sei denn, andere Quellen von Sicherheit, die hier nicht zur Diskussion stehen, helfen ihm heraus. Psychologisch kann man von der Orientierung des Schreibers hinsichtlich verfügbarer Werte – dargestellt, wie im vorigen gezeigt, durch die vertikale Dimension – sagen, daß sie einer Ausgleichsfunktion dient, die zur Orientierung der Person in der Realität notwendig ist, eine Beobachtung, die jede Analyse von Handlungen und Haltungen bestätigen wird. Wo die Mittelzone betont und die relative Ausdehnung der Randausläufer somit begrenzt ist, reicht die innere Ausgeglichenheit des Schreibers aus, ihm ein begrenztes Gewahrsein der ihn leitenden Werte zu erlauben; wohingegen diese Aufmerksamkeit bei einem Verlust dieser Ausgeglichenheit wächst und ein Anwachsen auch der psychologischen (sowie entsprechend der graphischen) Entfernung von »sich selbst« als einer »realen« (»horizontal vorrückenden«) Person, die diese Werte erfährt, einschließt; wenn deren Distanz wächst, funktionieren sie zunehmend weniger als positive und Ich-immanente Motivationskräfte und zunehmend mehr als äußerlich fixierte »Autoritäten«, die sich ihrer inneren Erfahrung aufdrängen. Ihre psychologische Bedeutung ist also zumindest in der Tendenz desintegrativ und paßt wiederum mit den Implikationen von Anspannung und Streß zusammen, wie sie bereits in der Analyse der eigentlichen vertikalen Verengung gezeigt wurden. Graphisch kann man von ihren Vertretern, den Randzonen, sagen, daß sie die Mittelzone, den Vertreter des Ich, »einklemmen«; psychologisch ergibt sich, in Übereinstimmung mit dieser Analyse, das folgende Gesamtbild.

Tabelle V Vertikale Dimension I: Mittel- versus Randzonen


Der Terminus »Über-Ich«, so wie er in dieser Tabelle verwendet wird, scheint durchaus vorausgehenden Feststellungen hinsichtlich der spezifischen Bedeutung des symbolischen Werts der beiden Randzonen für die innere Erfahrung der schreibenden Person zu widersprechen und mag so verstanden werden, als bedeute er eine Einschränkung des Terminus auf die psychologische Deutung einzig der oberen Zone. Nahegelegt würde das durch eine naive Anwendung psychoanalytischer Begriffe auf die Handschrift, und hier und da könnte – und hat um den Preis der Entstellung bereits – daraus in der Amateurgraphologie eine Mißdeutung der oberen und der unteren Zone als Repräsentanten jeweils des »Über-Ich« und des »Es«, beziehungsweise zumindest von »bewußt« und »unterbewußt«, entstehen. Um Mißverständnisse dieser Art aufzuklären, müssen wir uns stets das Folgende vergegenwärtigen.

Persönlichkeitsfunktionen können das funktionale Gesamtsystem des Organismus in mehr oder weniger großem Ausmaß einbeziehen, beziehen die Gesamtpersönlichkeit in ihrer Tiefendimension jedoch immer ein, wobei alle »Schichten« der Struktur, jede auf ihre Weise, an der Funktion teilhaben. Dies verbietet es, statisch definierte Ausschnitte aus einem Produkt dieses Funktionierens, wie etwa einer Handschriftenspur, einer einzelnen Schicht zuzuweisen, und verlangt vielmehr, den Anteil der »Schichten« von ihren dynamischen Eigenschaften her zu bestimmen.

Da die dynamischen Eigenschaften, ungeachtet der auf sie zutreffenden »veranlagungsmäßigen« Kriterien, richtungsmäßigen unterworfen sind, hängt die graphologische Plazierung der oben genannten psychoanalytischen Begriffe zugleich von der Richtung der Bewegung und von der statischen Richtung ab, in der die Bewegungsanteile aus der Perspektive eines Mittelpunkts verortet sind, der das Ich nicht als »Teil« des Persönlichkeitssystems, sondern als organisierendes Prinzip der Handlung repräsentiert. Eine Beurteilung der »Zonen« schließt nur das letztere ein, und das zudem nur in einem Aspekt, dem vertikalen. In diesem ist die Handschrift durch die Erfahrung der Person von den symbolischen Werten der »Zonen« bestimmt; und eine solche Erfahrung schließt dann wiederum ebenso bewußte wie unbewußte Schichten ein. Wenn man das Objekt der Erfahrung von der Erfahrung als psychologischem Prozeß unterschiede, bezögen sich die »Zonen« eher auf die Objekte in ihren richtungsmäßigen Beziehungen auf das erfahrende und dabei fortwährend in der Zeit voranschreitende Ich, als »väterliche« und »mütterliche« Stabilisatoren seines Weges, als auf die Prozesse selbst; sie zeigten die Orientierung der Person als Vektoren an, die sie mit dem verbinden, was sie symbolisch als »Himmel« und was sie als »Erde« erfährt; und sie zeigten die Verteilung dieser Vektoren in ihrer Projektion auf die »Leinwand« der inneren Erfahrung, indem sie die Projektion dieser Verteilung auf das Schreibfeld vorführten (Abb. 44 – 46).


Abb. 44 (7 %) Die obere Zone übersteigt die untere


Abb. 45 (7 %) Obere und untere Zone gleichmäßig


Abb. 46 (31 %) Untere Zone übertrifft die obere

Das bedeutet, daß eine graphologische »Übersetzung« der genannten Begriffe der Psychoanalyse zurückgestellt werden muß, bis weitere Dimensionen untersucht worden sind, daß aber die möglichen Indikatoren innerhalb der Dimension vertikal beidrändiger Verteilung jetzt aufgelistet werden können ohne die Gefahr, Begrifflichkeiten einzubeziehen, die außerhalb ihres eigentlichen Bedeutungsumfangs liegen.

Tabelle VI Vertikale Dimension II: Ober- versus Unterzone


Die horizontale Dimension

Allgemeine dynamische Aspekte:

Weite, Schräglage, Gesamt-Rechts- und Linksläufigkeit

Wenn wir nun in die vielseitigste aller Dimensionen der Schreibbewegung eintreten, innerhalb derer diese Bewegung als Gesamtprozeß statthat und die nach der vorausgehenden Definition das Orientierungssystem einer Person in ihren Realitätsbezügen repräsentiert, finden wir eine erste Gruppe von Unterkriterien, die sich aus der übergeordneten Natur dieser Bewegung ergeben.

 

Das erste ist die horizontale Ausdehnung an sich, die in ihrer Beziehung zur vertikalen nur gemäß dem Abstand zwischen den Abstrichen in der Mittelzone proportional zu ihrer Länge bemessen werden kann. Das zweite ist die relative Schräglage der Buchstaben, ihre Richtung im Sinne der Winkel, die sie mit der Grund- oder Schreiblinie bilden. Das dritte ist die horizontale Verteilung aller entweder nach rechts oder nach links gerichteten Anteile der Bewegung, die nach ihrer Gesamtmenge und im Verhältnis zu einem Koordinatensystem mit der Schreiblinie als Abszisse und einer dazu senkrechten Linie als Ordinate betrachtet werden (Abb. 47 – 62).

Abb. 47 – 50 Weite


Abb. 47 (30 %) Weit


Abb. 48 (30 %) Künstliche Weite


Abb. 49 (18 %) Mittel


Abb. 50 (18 %) Eng

Abb. 51 – 58 Schräglage


Abb. 51 (7 %) Deutliche Linksneigung


Abb. 52 (7 %) Mäßige Linksneigung


Abb. 53 (7 %) Senkrecht mit leichter Linksneigung


Abb. 54 (7 %) Senkrecht


Abb. 55 (7 %) Senkrecht mit leichter Rechtsneigung


Abb. 56 (7 %) Gemäßigte Rechtsneigung


Abb. 57 (7 %) Ausgeprägte Rechtsneigung


Abb. 58 (7 %) Extreme Rechtsneigung

Abb. 59 – 62 Rechts-, Linksläufigkeit


Abb. 59 (31 %) Gesteigerte Gesamtlinksläufigkeit


Abb. 60 (7 %) Gleichmäßige Links- und Rechtsläufigkeit


Abb. 61 (31 %) Gesteigerte Gesamt-Rechtsläufigkeit


Abb. 62 (7 %) Gesteigerte Gesamtlinksläufigkeit im Vornamen der Unterschrift eines Patienten mit Schuld- und Frustrationsgefühlen, allgemein verschlossenem Charakter und zwanghaften Zügen

Aus der Analyse der in diesen Unter-Dimensionen enthaltenen möglichen gestischen Bewegungsqualitäten erhalten wir die folgenden Definitionen.

Der Grad der Weite repräsentiert den Grad der Impulsexternalisierung an sich; genauer, seine Beziehung zum persönlichen Sinn für Sparsamkeit ist allein schon offensichtlich, wenn man an seine direkte Auswirkung auf die Menge des Papierverbrauchs denkt.

Der Neigungsgrad stellt den Grad dar, in dem das Ich sich seinen Absichten (Zielen, Partnern, Gegenständen – gleich, ob realen oder imaginierten) entgegen (beziehungsweise von ihnen weg) »neigt«, mit anderen Worten, den Grad an Selbst-Identifizierung mit diesen Vorstellungen und also den an Kommunikativität.

Der Grad an Gesamt-Rechtsläufigkeit repräsentiert den Grad, in dem die Impulsexternalisierung an sich und die Kommunikativität in ihren jeweiligen Graden vonstatten gehen können, ohne Gegen-Impulse gegen das Selbst hervorzurufen.

Um letzteres sinnvoll beurteilen zu können müssen wir uns vor Augen halten, daß unser Schreibsystem seinerseits rechtsgerichtet ist. Das erfordert einen Bezugsrahmen, der eine grundlegend größere Toleranz gegenüber rechts- als gegenüber linksgerichteten Bewegungen impliziert.

Aufgrund dessen kann die folgende Tabelle möglicher Charakterzüge, wie die dynamischen Eigenschaften des Schreibens sie in der horizontalen Dimension anzeigen, gezeichnet werden.

Tabelle VII Horizontale Dimension I: Allgemeine dynamische Eigenschaften




»Manipulation von Haltungen«, wie unter dem Minus-Zeichen für enge Handschrift aufgelistet, kann bis dahin gehen, zugunsten einer bestimmten gewählten »Haltung« die Grundeigenschaft der Impulsexternalisierung selbst vorzutäuschen. In diesem Fall hätte die Manipulation in dem Maße Bewegungsanteile zur Folge, in dem ihre Ausführung ein Gewahrsein des Voranschreitens nach rechts einschließt. Das heißt, daß die Buchstaben selbst relativ unberührt blieben, während ihre Verbindungen verlängert würden. In der Literatur und graphologischen Praxis wird dieses Zeichen künstliche Weite genannt und als eines der deutlichsten Anzeichen für einen berechnenden Typus von Geselligkeit gedeutet.

Da die Prinzipien, die die Weite, Schräglage und Gesamt-Rechts- und Linksläufigkeit der Handschrift beherrschen, dieselben sind, die das Feld der Wechselwirkung zwischen dem menschlichen Organismus und seiner Umwelt allgemein bestimmen, dürfte es lohnen, ihre Beziehung zu gewissen Grundbegriffen der heutigen ganzheitlichen Psychologie zu bestimmen. Abermals unter Bezug auf Andras Angyals ›Foundations for a Science of Personality‹ erkennen wir dessen »Trend zur Autonomie« in dem kombinierten graphischen Trend zur Weite auf der einen und zu gesteigerter Gesamtlinksläufigkeit auf der anderen Seite wieder. Da »Weite« und »Linksläufigkeit« in entgegengesetzter Richtung arbeiten, dürfte das eine ausführlichere Erläuterung erfordern. Die Neigung, die heteronome Gewalt der Umgebung so vollständig wie möglich zu meistern, verlangt offensichtlich nach einer Ausdehnung nach rechts – d. h. Weite – in der graphischen Bewegung, Rechtsausdehnung allein aber wäre ohne das Vorhandensein von Bewegungen, die die Stellung der Person als eine der Unabhängigkeit, der »Autonomie« gegenüber dem »Feld« positiv begründeten und sicherten, bloße Selbstpreisgabe; und entsprechend wird man heteronome Kräfte umso mehr als das Leben der Person tatsächlich beherrschend finden, je mehr ihre Handschrift in der Bewegung zu einer Kombination von Enge und gesteigerter Gesamtrechtsläufigkeit neigt. Betrachtet man schließlich die Rolle der Buchstabenrichtung, so bezieht sich die Rechtsneigung als Indikator für das persönliche Bedürfnis nach Kommunikation deutlich auf alle diejenigen menschlichen Tendenzen, die zu Erfahrungen im allgemeinen Bereich von emotionaler Teilnahme, von Integration in Gruppen, von geistiger Kommunion neigen, d. h. in Angyals Terminologie auf den Trend zur Homonomie, dessen Verminderung folglich graphisch durch eine entsprechende Verminderung in der Rechtsläufigkeit der Buchstabenrichtung repräsentiert wird. Von der letzten Regel ausgenommen sind nur Persönlichkeitssysteme, die sich durch eine in hohem Maße statische Wertehierarchie auszeichnen, in denen der Trend zur Homonomie selbst fast völlig verinnerlicht ist und graphisch auf eine besondere Intensivierung der Formqualität hinarbeitet.

Während die drei allgemeinen dynamischen Eigenschaften der horizontalen Dimension scharf unterschiedene Aspekte des Ausdrucksvermögens repräsentieren, sind ihre Beziehungen untereinander hinsichtlich der physischen Verteilungsmöglichkeiten der graphischen Bewegung umso indikativer für ihre gemeinsame Abhängigkeit von der Persönlichkeitsorganisation; zumindest wenn wir unseren Blick auf eine Einschätzung der Bewegungen in der Mittelzone beschränken, kann festgestellt werden, daß die positionellen Werte zweier beliebiger Bewegungen notwendig den der dritten bestimmen. Das kann man eindeutig demonstrieren durch einen Versuch mit absichtlichen Veränderungen seiner Handschrift in zwei beliebigen dieser Aspekte; eine Kombination von Rechtsneigung über einen bestimmten Grad hinaus mit Enge über einen bestimmten Grad hinaus mündet zum Beispiel unausweichlich in eine gesteigerte Gesamtlinksläufigkeit der Schriftspur. Wenn wir andererseits so weit ins Extrem gehen, die Linksbewegung gänzlich auszulassen, wird die Forderung nach zwei positionellen Werten, die den dritten bestimmen, auf eine Forderung nach einem einzigen reduziert: Ohne Rücksicht auf die Schriftweite ist solch eine Auslassung nicht möglich, ohne eine beliebige Original-Buchstabenrichtung in eine Links-Schräglage zu verwandeln. Diese Gesamtsituation steht nur im Einklang mit einer phänomenologischen Analyse der Beziehungen zwischen den korrespondierenden Aspekten der Persönlichkeitsorganisation selbst: So ist zum Beispiel das Zusammentreffen eines starken Trends zur Homonomie mit stark hemmenden Einschränkungen in der Externalisierung grundlegender organismischer Impulse ohne eine gleichzeitige empathische Introvertiertheit des Charakters weder je zu finden noch vorstellbar; eine totale Beschränktheit des inneren Lebens der Person ist weder je zu finden noch vorstellbar ohne eine entsprechende Beschränkung – mit allen ihren Implikationen von Gefühlskälte und hochmütiger Ichbezogenheit – ihres Trends zur Homonomie usw. Zwar ist klar, daß Randbewegungen alle Konfigurationen dynamischer Aspekte der Mittelzone verändern können, ebenso klar ist aber, daß derartige Veränderungen weder die Schriftweite vergrößern noch einer mehr als kompensatorischen Funktion in einem der beiden anderen Bereiche dienen können; mehr noch, in mindestens einem von ihnen, dem der Buchstabenrichtung, wird solch eine Kompensation notwendig in rhythmische Inkonsistenzen münden, die ihnen entsprechende der Persönlichkeitsstruktur selbst widerspiegeln.

Die somit sichtbare Situation ist in mehrerlei Hinsicht informativ. Als erstes eignet sie sich dazu, drei grundlegende Lehrsätze des ganzheitlichen Begriffs von Persönlichkeitsdynamik lebendig zu demonstrieren, die Unmöglichkeit, Beziehungen zwischen verschiedenen Manifestationen der Psyche in Begriffen einer Maschinentheorie oder einer kausalen Genetik zu interpretieren, die Vormacht eines vereinheitlichenden Prinzips der Systemaktivität, von dem alle einzelnen Manifestationen der Psyche ausgehen, und die Korrelation zwischen den »geordneten Verhältnissen«, die den Operationen der Psyche so zur Verfügung gestellt werden, und der Verteilungsordnung der Phänomene in der Welt. Jenseits dieser mehr allgemeinen Implikationen aber ist die Interdependenz der drei genannten Aspekte von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die verwickelten und mitnichten notwendig antagonistischen Beziehungen, die sie – Beziehungen, die bedeutsam insbesondere für ein Verständnis der menschlichen Kreativität sind – zwischen der Stärke und inneren Organisation des Trends zur Autonomie auf der einen und der Stärke und spezifischen Richtung des Trends zur Homonomie auf der anderen Seite enthüllt. Da der erstgenannte Trend in der psychologischen Literatur bisher zu eng definiert worden sein dürfte, wohingegen der letztere insgesamt zu wenig und mit bei weitem zu ausschließlicher Aufmerksamkeit auf die Beziehungen der Persönlichkeit zu ihrer konkreten und unmittelbaren sozialen Umwelt behandelt wurde, bedeutet das, was im Schreibfeld zu entdecken ist, einen direkten Anstoß zur weiteren Erkundung in der nämlichen Richtung.

 

Statische Aspekte I: das Wort

Wenn wir die Prinzipien der quasi-räumlichen symbolischen Erfahrung auf das Erfahrungsmaterial in seinen gegebenen übergeordneten Einheiten, den einzelnen Wörtern, anwenden, treffen wir auf die Dimension, die die Selbsterfahrung der Person in ihrer Hinwendung zur Umwelt repräsentiert. Aus unserer vorausgehenden Analyse der rechtsläufigen Bewegung an sich folgt, wenn man deren Ergebnisse auf den Wortkörper anwendet, daß das Wort die Spur einer kontaktierenden Bewegung darstellt, aus der wir am Anfang des Worts die symbolische Plazierung des Ich, an seinem Ende die des kontaktierten Gegenstands ableiten können; die Wortanfänge bezögen sich somit auf das sich selbst erfahrende Ich, die Enden auf die Art und Weise, wie im Leben Kontakte hergestellt oder vermieden werden. Da die Betonung der Erfahrung von Zwischenräumen zwischen Wörtern, die mit Minuskeln oder Kleinbuchstaben, besonders wenn es kurze Formen sind, beginnen, relativ unterschwellig ist, muß der Schwerpunkt auf Zwischenräume vor Majuskeln oder Großbuchstaben gelegt werden. Das bedeutet Aufmerksamkeit sowohl auf derartige Wortanfänge selbst als auch auf solche Wortendungen, die unmittelbar vor eine derartige Unterbrechung fallen, da die innere Vorbereitung der Person auf die vergleichsweise »schwerere« anstehende Aufgabe, die die Großbuchstaben darstellen, schon ihr Abschließen des vorausgehenden Worts in Form einer größeren Finalität ihrer inneren Haltung akzentuieren; auch jenseits dieser speziellen Bedingung haben Endungen allerdings allgemein einen relativ größeren indikativen Wert als Wortanfänge in Minuskeln.

Die Konsequenzen, die sich aus dieser Situation für eine detaillierte Anwendung aller Kriterien der verschiedenen Dimensionen auf die links- oder rechtsläufige Phaseologie des Wortes ergeben, sind ebenso fruchtbar wie unausschöpfbar. Weder an dieser Stelle, wo wir eine Reihe von beteiligten Kriterien noch gar nicht diskutiert haben, noch überhaupt im begrenzten Rahmen dieses Buchs kann man eine halbwegs vollständige Beschreibung aller hier möglichen Kombinationen versuchen. Ein besonderer Aspekt dieser Abschnittsbildung scheint jedoch wichtig genug, um erwähnt zu werden: Da der Schreiber aufgrund der durch die Wortzwischenräume erzwungenen Begrenzungen des Worts seiner Tätigkeit als solcher sowohl an den Wortanfängen als auch an den Endungen stärker inne ist, ist die Analyse des Wortinneren von besonderer Bedeutung für die Erforschung von Impulsen, die dazu neigen, seinem Bewußtsein zu entgleiten (Abb. 63 – 64). Weiterhin drängt sich an diesem Punkt eine Gesamt-Analyse zumindest der Wortanfänge in Majuskeln auf, und zwar sowohl aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die klinische Arbeit, als auch im Blick auf die besonders unterschiedene graphische Physiognomie, die Wortanfängen in Majuskeln aus der Tatsache zukommt, daß allein ihr Aufbau die vertikale Dimension, die Dimension der verfügbaren Werte, einbezieht und so ihre Bedeutung als Repräsentation des Ich in dessen Beziehungen zu sich selbst unterstreicht.

Abb. 63 – 64 Wortinneres


Abb. 63 (7 %) Impulse trotzigen Sich-Einschließens bei einem beginnenden Schizophrenen


Abb. 64 (7 %) Scharfer Wechsel von Impulsivität und Beschränkung bei einem hysterischen Patienten

Eine Tabelle zur Bewertung der Ich-Betonung mit ihren möglichen positiven und negativen Implikationen findet sich am Ende dieses Kapitels. Es versteht sich, daß diese Auflistung darauf beschränkt werden mußte, in welchem Maße Großbuchstaben insgesamt von quantitativer Betonung betroffen sind, ebenso aber, daß andere und spezifischere, indes nicht weniger bedeutsame Aspekte der Majuskel-Ausprägung nach einer Analyse verlangen. Ganz zu schweigen von gewissen besonderen Formqualitäten, die bei diesem Thema dazukommen, bestimmen die Bewegungsimpulse, die der richtungsmäßigen Ausprägung von Großbuchstaben sowohl in der vertikalen als auch der horizontalen Dimension zugrundeliegen, ihre psychologische Bedeutung weitgehend mit. Wenn der Leser mit den Prinzipien der Analyse von Ausdrucksbewegungen schon etwas vertrauter ist, wird ihm deren Anwendung auf spezifische Majuskel-Formen vor dem Hintergrund ihrer übergeordneten interpretativen Position im System keine großen Schwierigkeiten bereiten. Als leitende empirische Instanz wäre hier die Tatsache zu erwähnen, daß Großbuchstaben von übermäßiger Höhe in Kombination mit übermäßiger Enge allgemein in den Handschriften ehrgeiziger Studenten und junger Wissenschaftler zu finden sind, die hohe geistige Ansprüche in Verbindung mit einem überempfindlichen Ich hegen und die sozial eher ängstlich und emotional mehr oder weniger gehemmt sind (Abb. 65 – 67).

Abb. 65 – 67 Verschiedene Arten von Ich-Betonung


Abb. 65 (7 %).


Abb. 66 (7 %).


Abb. 67 (7 %).

Eine weitere Beobachtung, die in dieser Beziehung von Interesse sein dürfte, ist die manchmal zu bemerkende Neigung, Wortanfänge in Minuskeln in einem solchen Maße zu vergrößern, daß sie sich den Proportionen von Großbuchstaben annähern oder sie sogar erreichen. Ohne besondere Anstrengung auf seiten des Interpreten enthüllt diese Eigenheit von sich aus, daß sie sich auf Impulse der Selbstbehauptung bezieht, die sich vorzugsweise in Situationen äußern, die gar nicht nach ihnen verlangen.

Tabelle VIII Horizontale Dimension II: Statische Aspekte


Spezifische dynamische Aspekte: die Bindungsformen

Im Unterschied zu den Schriftschnitten gedruckter Buchstaben werden die Buchstabenformen der schulischen Schriftmuster so gestaltet, daß sie sich gut für den Vorgang des Verbindens zu einer zusammenhängenden linksrechtsläufigen Bewegung eignen; die Gestalt der verbindenden Teile selbst aber ist, in der Art, in der die Ausgangsschriften sie vorschreiben, durch keinerlei der Bewegung immanente strenge Notwendigkeit determiniert. Da die Aufgabe, Buchstaben miteinander zu verbinden, mit im wesentlichen gleicher mechanischer Geschicklichkeit auf mannigfach verschiedene Weisen erfüllt werden kann, lädt sie, mehr als irgendein anderes Element der Handschrift, dazu ein, die »typische Geste« zum Vorschein zu bringen. Angesichts der Natur der Buchstabenformen kann ein präzises Kriterium, wo der Buchstabe endet und wo die »Bindungsform« – hier und da in der Literatur auch »Verbindungstypus« genannt – anfängt, nicht gegeben werden, das aber scheint auch nicht notwendig: Die Individualität der Bewegung ist in all ihren Teil-Elementen, den Buchstaben ebenso wie den Bindungsformen, die gleiche; die letzteren zeigen allerdings die Person nicht nur in jenen Phasen der Impulsexternalisierung, die wegen des notwendigen »Anknüpfens« und »Voranschreitens« seine typische Geste und somit, in einer hoch kristallisierten Fassung, seine Individualität selbst hervorbringen, vielmehr eignen sich diese Bindungsformen selbst klarer als die eigentlichen Formen der geschriebenen Buchstaben für die qualitative Analyse und Klassifikation.

Die typische Geste selbst ist mehr oder weniger von den relativ neutralen Bindungsformen der Schulschriften entfernt, eine Tatsache, die, wenn ausreichende »Hintergrund«-Daten gegeben sind, als Kriterium zur Einschätzung des Grades dienen kann, in dem die Persönlichkeitsentwicklung von solchen kulturellen Haltungen, wie sie in dem von der Erziehung des Schreibers geförderten »Stil« enthalten waren, weggeführt haben. Abgesehen von Handschriften, die mehr oder weniger an dieser graphischen und psychologischen Neutralität der Schule kleben, können die Schriftproben nach dem mehr oder weniger deutlichen Vorwalten einer der folgenden vier Hauptbindungsformen in ihnen gruppiert werden (Abb. 68): der Girlande, der Arkade, dem Winkel und dem Faden.

Abb. 68 – 86 Bindungsformen


Abb. 68 Prototypen

Um zu einem Verständnis ihrer Bedeutung zu gelangen, scheint eine erste und einfachere Unterscheidung notwendig: Jede Handschrift ist mehr oder weniger winkelig, mehr oder weniger bogig. Die symbolischen Implikationen von »Winkeligkeit« und »Bogigkeit« sind vom Gesichtspunkt der direkten Erfahrung her relativ gut bekannt, ebenso die Konsistenz dieser Bedeutungen ungeachtet des Elements, in dem sie zum Ausdruck kommen: Wolfgang Köhlers Experiment mit »Maluma« und »Takete« wird vielen in Erinnerung sein. Diese Eigenschaften hier auseinanderzusetzen kann deshalb auf ein notwendiges Minimum beschränkt werden.

Von den beiden Eigenschaften Winkeligkeit und Gebogenheit kann man sagen, daß sie als unausweichliches Attribut auf die Gesamtheit unserer Realitätserfahrung verweisen. Die komplexeren Phänomene verbinden beide in verschiedenen Formen und Verhältnissen; je »elementarer« aber die Phänomene, desto deutlicher sind sie in der einen oder der anderen Richtung artikuliert: Es ist unmöglich, z. B. Winkeligkeit mit Wolken oder Gebogenheit mit Gewitter zu assoziieren. In den Polaritäten Leben — Leblosigkeit, Tier — Pflanze, männlich — weiblich liegen »Leben«, »Tier«, »Weiblichkeit« unausweichlich mehr auf der Seite der Kurve und nicht weniger unausweichlich »Leblosigkeit«, »Pflanzlichkeit«, »Männlichkeit« mehr auf der des Winkels. Die beiden Qualitäten sind also psychologische Realitäten ersten Grades, deren phänomenologisches Wesen wir bei der Einschätzung von Bewegungen nur auf die spezifische Ausprägung, hinsichtlich ihrer Polarität, einer bestimmten Bewegung beziehen müssen, um einige der grundlegendsten Eigenschaften der spezifischen inneren Erfahrung zu verstehen, die die je besondere Bewegung vermittelt: Die gerade Linie, die notwendig Winkel erfordert, um Richtungswechsel möglich zu machen, liegt unausweichlich auf der Seite von Festigkeit, Bestimmtheit, Härte, Entschlossenheit, Kampf; die gebogene, die den Richtungswechsel selbst besorgt, auf der von Nachgiebigkeit, Spannkraft, Gewandtheit, Ausgeglichenheit, Sanftheit; die gerade Linie auf der Seite des Stoßens, Angreifens, Abzielens, Treffens; die gebogene auf der des Übereinkommens, Verbindens, Verschlingens, Umschließens. Was die eigentlichen psychologischen Hintergründe betrifft, hat Klages Entscheidendes zur Klärung der Situation beigetragen: »Es fällt nämlich die Bewegung offenbar umso geradliniger aus, je mehr der Antrieb ausschließlich vom Bilde des Zieles bestimmt wird, umso winkliger, je mehr in derselben Weise die Wendung geschieht auf das neue Ziel; dagegen umso bogiger, je mehr er nicht so sehr dem Bilde des Ziels als dem Bedürfnis nach Knüpfung und Vereinigung folgt.« (›Handschrift und Charakter‹, S. 83) Daraus folgt, daß bestimmte Haltungen, bestimmte Formen des Wünschens, Verlangens, Gebens, Nehmens, Tuns durch die Bindungsformen vermittelt werden, ebenso aber, daß das relative Fehlen bestimmter Haltungen durch die mehr oder weniger vollständige Abwesenheit distinkter und ausgeprägter Bindungsformen und im Maße dieser Abwesenheit widergespiegelt werden. Die letztgenannte Beobachtung ist grundlegend für das Verständnis einer der genannten Hauptformen, der Fadenbindung; was die anderen betrifft, wird klar, daß unserer Diskussion zweier von ihnen, der Girlande und der Arkade, deren jede eine spezifische Kombination von Winkeligkeit und Gebogenheit darstellt, die des weit elementareren Winkels vorausgehen muß.