Das Buch Jesaja

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UTB 4647

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Ulrich Berges / Willem A.M. Beuken

Das Buch Jesaja

Eine Einführung

Vandenhoeck & Ruprecht

Ulrich Berges, geb. 1958 in Münster/Westfalen studierte Theologie und Bibelwissenschaften in Eichstätt, Salzburg, Rom und Jerusalem. Nach Lehrstühlen in Lima/Peru, Nimwegen/Niederlande und Münster/Westf. ist er seit 2009 Professor für alttestamentliche Wissenschaften an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Bonn und u.a. Mitglied der NRW-Akademie der Wissenschaften und Künste in Düsseldorf

Willem Beuken, geb. 1931 in Helmond/Niederlande studierte in Amsterdam und Rom. Professuren in Nimwegen (1985–1989) und Leuven (1989–1996). Langjähriges Mitglied der Päpstlichen Bibelkommission und Gastprofessor in Pretoria/Südafrika

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel

EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

UTB-Band-Nr. 4647

ISBN: 978-3-8463-4647-1

Vorwort

Wie man auch ohne Kunstführer eine mittelalterliche Kathedrale mit Gewinn besuchen kann, so kann man auch das Buch Jesaja, das über die Zeitspanne von fast einem halben Jahrtausend entstanden ist, ohne weitere Anleitung lesen. Aber mit Führung sieht man mehr, versteht Zusammenhänge und beginnt selbst, Neues im Alten zu entdecken. Schauen muss man aber immer persönlich, lesen auch! So möchte dieses Lehrbuch den Einstieg in eines der wichtigsten und schönsten Bücher des Alten Testaments erleichtern, die eigene Lektüre befördern, sie nicht ersetzen, sondern beleben und bereichern.

Die Autoren sind nun schon fast zwanzig Jahre in intensivem Austausch über das Jesajabuch eng verbunden und verantworten die Kommentierung in HThKAT. Hier wie dort hat der Altmeister den ersten Teil (Jes 1–39), sein Nachfolger aus Nimweger Zeiten den zweiten Teil bearbeitet (Jes 40–66), doch ist dies ein gemeinsames Buch. Es war eine große Freude, den Weg der Konzeption und Durchführung miteinander zu gehen und das Ergebnis der interessierten Leserschaft nun vorlegen zu können. Dem Ansatz der »diachron reflektierten Synchronie« folgend werden sowohl der literarische Endtext als auch seine möglichen Entwicklungsstufen beleuchtet, Geltung und Genese gleichermaßen mitbedacht.

Ein erster Dank gilt Frau Prof. Dr. Karin Finsterbusch, welche uns mit dieser ehrenvolle Aufgabe betraute, danach dem Verlag in der Person von Herrn Reissing.

Eine besondere Anerkennung zollen wir Herrn Dr. theol. Bernd Obermayer für alle Mühen, mit denen er die Manuskriptvorlagen bis zur Drucklegung begleitete. Herrn Mag. theol. Sebastian Kirschner danken wir für die Durchsicht der Bibelstellen und die übrigen Korrekturarbeiten.

Das Jesajabuch und der Psalter sind Geschwisterbücher und so dürfen wir in stiller Trauer und aufrichtiger Freundschaft dieses Lehrbuch dem Gedenken an Frank-Lothar Hossfeld widmen.

Zusammen mit Erich Zenger hat er nicht nur die Psalterexegese zu neuen Ufern geführt, sondern der alttestamentlichen Wissenschaft insgesamt Gewicht und Stimme verliehen.


Ulrich BergesBonnNeujahr 2016Willem BeukenLeuven

in memoriam

Frank-Lothar Hossfeld

(* 19. 6. 1942 † 2. 11. 2015)

Inhalt

I.Einleitung

1.Zum Neuansatz der Schriftprophetie im Jesajabuch

2.Zentrale Eckpunkte der Forschungsgeschichte

3.Die Kernphasen der Verschriftung des Jesajabuches

4.Die Texttraditionen des Jesajabuches

5.Aktuelle entstehungsgeschichtliche Modelle

6.Aktuelle Modelle der Endtextlesung

7.Theologie im Buch Jesaja

7.1Die buchübergreifenden Gottesnamen

7.2Spezifische Gottesnamen und Metaphern für einzelne Teile des Jesajabuches

7.3Rückblick und Fazit

II.Auslegung von Jesaja 1–66 Synchrone Textbetrachtungen, diachron reflektiert

I. TeilJes 1–12 Zion zwischen Anspruch und Wirklichkeit

I. AktJes 1–4 Zweifache Ouvertüre: Aussicht auf Zions Verwandlung

II. AktJes 5,1–10,4 Die Immanuelschrift in einem mehrfachen Rahmen

III. AktJes 10,5–11,16 Doppelbild konträrer Herrscherprofile

Jes 12 Loblied der in Hoffnung Erlösten

II. TeilJes 13–27 Untergang aller Tyranneien gegenüber JHWH, dem König auf Zion

I. AktJes 13–23 Zehn Völkersprüche: das Gericht über irdische Mächte

II. AktJes 24–27 JHWHs Gerechtigkeit schafft Ordnung im Chaos der Völker

III. TeilJes 28–35 Die Durchsetzung der Königsherrschaft JHWHs auf Zion

I. AktJes 28–33 Sechs Weherufe gegen die Übeltäter in Zion

II. AktJes 34–35 Diptychon: Gericht über Edom und Heil für die Heimkehrenden

IV. TeilJes 36–39 Drei Erzählungen von der Errettung der Gottesstadt und des Davidssohnes

V. TeilJes 40–48 Aus Babel zurück in die Heimat

I. AktJes 40 Zion-Jakob-Ouvertüre

II. AktJes 41,1–42,12 Ohnmacht der Götter und JHWHs Zusage für Jakob/Israel

III. AktJes 42,13–44,23 JHWH und sein blinder und tauber Knecht

IV. AktJes 44,24–48,22 JHWHs Sieg durch Kyrus und der Fall Babels und der Götter

VI. TeilJes 49–54 Der Knecht und Mutter Zion

I. AktJes 49,1–26 Selbstvorstellung des Knechts und Zions Zweifel

II. AktJes 50,1–51,8 Überzeugungsarbeit an Zions Kindern

III. AktJes 51,9–52,12 JHWHs Rückkehr zu Zion und die Heimkehr der Zerstreuten

IV. AktJes 52,13–54,17 Leiden und Erhöhung von Knecht und Zion

VII. TeilJes 55–66 Die Knechte JHWHs und ihre Gegner auf dem Zion

I. AktJes 55,1–56,8 Umfang der Gemeinde und Zulassung

 

II. AktJes 56,9–57,21 Prophetische Anklagen und Heilsworte

III. AktJes 58–59 Gründe der Heilsverzögerung

IV. AktJes 60–62 Jerusalems und Zions zukünftige Herrlichkeit

V. AktJes 63–64 Rückblick auf die Geschichte und Bittgebet

VI. AktJes 65–66 JHWHs Antwort und die Spaltung der Gemeinde

Literatur

I.Einleitung

1.Zum Neuansatz der Schriftprophetie im Jesajabuch

Die letzten Jahrzehnte der alttestamentlichen Prophetenforschung im Allgemeinen und des Jesajabuches im Besonderen1 zeichnen sich durch eine grundlegende Neuorientierung aus. Galt zuvor die ganze Aufmerksamkeit möglichen Entwicklungsstufen mit ihren unterschiedlichen Redaktionen, Erweiterungen und Glossierungen (diachrone Analyse), so rückte die Frage nach Aufbau und Struktur der prophetischen Bücher immer mehr in den Mittelpunkt (synchrone Analyse). Richtete sich früher das Hauptinteresse auf die vermeintlich ältesten prophetischen Worte (Einzellogien), die wie Schätze aus dem Geröll der sie überlagernden Schichten herausgelöst werden mussten, um so die Stimme der inspirierten Gottesmänner vernehmen zu können, hat sich das Bild gänzlich gewandelt. Die Erkenntnis brach sich Bahn, dass das prophetische Gotteswort nur innerhalb der prophetischen Schriften zu hören ist – und nicht losgelöst oder unabhängig von diesen. Als Leitspruch gilt nun: Wer die Propheten hören will, kommt an den prophetischen Büchern nicht vorbei! In ihnen ist das Gotteswort für die jeweilige Zeit verfasst, überliefert, ergänzt und immer wieder aktualisiert worden. So sind die jüngeren und jüngsten Worte der Prophetie nicht das Ergebnis theologisch unbedeutender Epigonen, sondern die Frucht einer jahrhundertelangen Traditionspflege mit intensiver Durchdringung des Gotteswillens für Israel und die Völker. Die einstige Vorstellung, Schriftprophetie basiere ausschließlich oder zu großen Teilen auf charismatischen Einzelgestalten, die das an sie ergangene Gotteswort nach der Verkündigung für die Nachwelt aufzeichneten oder durch Schülerkreise aufschreiben ließen, ist nicht mehr haltbar. Insgesamt kann die literarische Entwicklung, die zu den großen Prophetenschriften führte, mit dem jahrhundertelangen Prozess verglichen werden, in dem die großen mittelalterlichen Kathedralen entstanden. An ihrer komplexen Struktur haben unzählige Baumeister mitgearbeitet, jeder auf seine Art und Weise. Sie dienten der gemeinsamen Sache, ohne dass von Anfang an ein allumfassender Masterplan vorgelegen hätte. Wie jeder Stein seine eigene Geschichte hat, aber nur im Ganzen des Bauwerkes seine eigentliche Funktion erfüllt, so auch jeder Spruch im Gesamtkunstwerk der prophetischen Schrift.2

Die Frage nach der Endkomposition des Jesajabuches kam mit Ausnahme der wichtigen Kommentierung durch James Muilenburg und einer Studie von Joachim Becker3 erst ab den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts auf.4 Dabei war die englischsprachige5 Exegese dieser neuen Fragestellung gegenüber aufgeschlossener als die deutschsprachige, die überwiegend diachron ausgerichtet blieb. So musste Rolf Rendtorff noch im Jahre 1984 mit Bedauern feststellen: »Die Frage nach der Komposition des Jesajabuches in seiner jetzt vorliegenden Form gehört nicht zu den allgemein anerkannten Themen der alttestamentlichen Wissenschaft«.6 Eine solche negative Einschätzung ist heute nicht mehr zu hören. Nun heißt es: »Wer zum Propheten will, ist zuerst an das Buch gewiesen. Gegenüber der lange alles dominierenden Rückfrage nach den prophetischen Personen ist deshalb die klärende Nachfrage nach den prophetischen Büchern jetzt die vordringliche Aufgabe«.7 Die einst so hitzig geführte Debatte um die Vorherrschaft synchroner oder diachroner Methoden ist der Einsicht gewichen, dass beide Ansätze ihre Berechtigung in den biblischen Büchern selbst haben. Deren Endgestalt ist das Resultat eines oft jahrhundertelangen Entstehungsprozesses, der nur noch in den großen Linien nachgezeichnet werden kann.

Zudem sieht man jetzt die Grenzen beider Ansätze klarer als zuvor: Einerseits kann keine der synchronen Endtextlesungen alle Einzelaspekte auf ein Schema reduzieren, andererseits kann keines der diachronen Modelle alle Entwicklungsstufen des Buches einholen! Wenn beide Zugangsweisen legitim sind, sollten auch beide zur Anwendung kommen. Genau dafür steht die »diachron reflektierte Synchronie«. Sie setzt beim Endtext ein, lässt aber die Rückfrage nach den geschichtlichen Entstehungsprozessen nicht außer Acht.8 Beide Aspekte sind in der Auslegung gleichermaßen zu berücksichtigen. So kann die Leserschaft einen Eindruck davon gewinnen, wie die Endgestalt des Textes immer auch das Resultat seiner Geschichte ist. Als Vergleich mag hilfreich sein, dass wir unsere Mitmenschen in ihrem jeweiligen Sosein auch besser verstehen, wenn wir ihre Lebensgeschichte kennen!

2.Zentrale Eckpunkte der Forschungsgeschichte

Die Forschungsgeschichte des Jesajabuches kann unter dem Motto zusammengefasst werden: Vom Propheten über drei Bücher zum einen Buch. In der vormodernen Zeit galt Jesaja ben Amoz als Autor der gesamten Schrift, die seinen Namenträgt. Gleiches ist auch heute noch in konservativen Kreisen der Fall.9 Die Ansicht stützt sich besonders auf die Überschrift in 1,1, wonach der Prophet den Inhalt der Schriftrolle in den Tagen der Könige Usija, Jotam, Ahas und Hiskija schaute, die alle Nachfolger auf dem Thron Davids in Jerusalem in der zweiten Hälfte des 8. Jh. waren. Dass Jesaja zwischen 734 und 701 während der neuassyrischen Expansionsbewegungen von Tiglatpileser III., Salmanassar V., Sargon II. und Sanherib aufgetreten ist, kann als gesichert gelten. Er erlebte den Untergang des Nordreiches im Jahr 722 und auch den Feldzug Sanheribs in den Jahren 703–701, der Juda völlig desolat zurückließ. Dabei hatte sich die Hauptstadt Jerusalem nur mit knapper Not dem Untergang entziehen können. Von daher ist es kein Zufall, dass Jesaja als einziger der Schriftpropheten auch im deuteronomistischen Geschichtswerk (Jos–2 Kön) genannt ist, und zwar in der Erzählung über die Belagerung Jerusalems durch die Assyrer (2 Kön 18–20; Jes 36–39). Dieser Prophet war mit dem Schicksal Jerusalems und des Zion zutiefst verbunden. Der Legende nach, wie sie im »Martyrium Jesaiae« aus dem letzten Drittel des 1. Jh. n.Chr. wiedergegeben ist, hat er unter dem judäischen König Manasse (697–642) das Martyrium erlitten, indem er zersägt worden sein soll (vgl. Hebr 11,37).

Dass das Jesajabuch seit frühester Zeit als eine einheitliche Schrift rezipiert und überliefert wurde (LXX; Qumran; NT; Patristik), kann nicht verwundern. Schon der Sirazide preist Jesaja im Lob der Väter als großen und zuverlässigen Seher (Sir 48,22–25), der dem todkranken König Hiskija das Leben verlängerte (Jes 39) und die Trauernden Zions tröstete (Jes 40): »Für fernste Zeit verkündete er das Kommende und das Verborgene, bevor es geschah« (Sir 48,25). Dass Jesaja in Jes 1,1 als derjenige vorgestellt wird, der die »Schauung schaut«, ist ein wichtiges Indiz für die Rezeption dieses Propheten in der Schriftrolle selbst. Dabei zielt die Überschrift nicht auf die Verfasserschaft Jesajas im eigentlichen Sinne ab, sondern auf seine Autorität, die dieser Schrift zugrunde liegt. Interessanterweise hält der babylonische Talmud Jesaja gar nicht für den Verfasser der Rolle, sondern Hiskija und sein Kollegium, die zudem das Buch der Sprüche, das Hohelied und Kohelet verfasst haben sollen (Baba bathra 14b–15a). Damit scheint bereits eine editorische Tätigkeit durch, für die keine Einzelperson, sondern ein Kollektiv verantwortlich zeichnet. Einer der Faktoren für die Annahme einer kollektiven Verfasserschaft lag sicherlich in der Zeitspanne, die sich von der assyrischen bis in die Zeit der Perser erstreckte. Wahrscheinlich war schon der frühjüdischen Tradition aufgegangen, dass der historische Jesaja den Perserkönig Kyrus kaum namentlich angekündigt haben konnte (Jes 44,28; 45,1). Darauf deutet auch der rabbinische Homilien-Midrasch Pesiqta de Rav Kahana 16,10 aus dem 5. Jh. n.Chr. hin, wo die Frage gestellt wird, warum es in Jes 40,1 nicht wie sonst Gott »hat gesagt« (), sondern Gott »sagt« () heiße. Damit wird betont, dass Gott weiter redet, obschon der Prophet von der Bühne abgetreten ist. Noch expliziter geht der jüdische Gelehrte Abraham Ibn Ezra auf dieses besondere Phänomen des Jesajabuches ein, das darin besteht, dass der Prophet ab der Mitte (ab 39) gar nicht mehr vorkommt und auch gar nicht mehr auftreten kann. Denn er hätte ja über 200 Jahre alt werden müssen, um die Zeit der Befreiung aus Babel durch die Perser mitzuerleben! In seinem 1145 im italienischen Lucca verfassten Jesaja-Kommentar meint Ibn Ezra, man solle sich in dieser Frage am Buch Samuel orientieren, denn auch dieser habe sein Buch nur bis 1 Sam 25,1 geschrieben, wo von seinem Tod berichtet wird. Wohl aus Rücksicht auf die jüdische Orthodoxie hatte der mittelalterliche Exeget nicht noch deutlicher gesagt, dass Jesaja nicht der Verfasser der ganzen Schrift gewesen sein könne.

Der geschichtliche Graben, der zwischen dem historischen Jesaja und der in Jes 40ff. vorausgesetzten Zeit des Exils und des Nachexils liegt, ließ sich mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelauslegung nicht mehr mit dem Hinweis auf die Überschrift »Vision Jesajas« überbrücken. Hätte Jesaja ben Amoz nur mit vagen Andeutungen auf die Zukunft verwiesen, wäre das vielleicht noch zu tolerieren gewesen, aber mit »Kyrus« (559–530) war der Begründer des persischen Großreiches namentlich genannt worden. Zum Vergleich: was sollten heutige Adressaten mit der Information anfangen, im Jahre 2150 werde eine wichtige Persönlichkeit die Weltgeschichte beeinflussen? Dass der historische Jesaja die assyrische Bedrohung mit Scharfblick wahrgenommen hat und theologisch interpretierte, bedarf keiner Begründung. Dass er darüber hinaus das Ende des babylonischen Exils durch die Perser ankündigte, ist historisch unhaltbar. Der garstige Graben der Geschichte lässt sich auch nicht mit dem Verweis auf die besondere Qualität der Schrift überspringen, wie dies mancherorts noch versucht wird: »Isaiah of Jerusalem did indeed predict the Babylonian exile, and in so doing showed how the towering theology that he applied to events in his own lifetime would become even more towering in relation to those new situations that he could see in outline, but not in detail«.10 Der geschichtliche Graben zwischen dem Propheten vom Ende des achten Jahrhunderts und der exilisch-nachexilischen Zeit lässt sich auch nicht durch die Vorstellung einer Verbalinspiration zuschütten, nach dem Motto: wenn Gott durch seine Propheten Vorhersagen machen will, kann ihm das keiner verbieten!

So ist es nicht verwunderlich, dass die historische Bibelkritik gerade bei dieser Problematik ansetzte.11 Hier trafen traditionelle Schriftauslegung und historischkritische Rückfrage ganz unversöhnlich aufeinander. So schreibt Johann Christoph Döderlein (1746–1792), Professor an der fränkischen Universität zu Altdorf: »Die Dogmatik der Christen kann nicht die Dogmatik der Zeitgenossen des Esaias seyn, und wo Cyrus beschrieben ist, da denke ich nicht an den Meßias.«12 Danach stellt er die entscheidende Frage, »ob es nicht glaublich sey, daß dieser ganze Abschnitt erst während des Babylonischen Exils sey niedergeschrieben worden«. Erst in der dritten Auflage seines Jesaja-Kommentars formuliert Döderlein explizit die These, dass die Buchrede (»oratio«) ab Kap. 40 nicht von Jesaja stamme, sondern am Ende des Exils von einem anonymen bzw. homonymen, also gleichnamigen Propheten geschrieben worden sei. Auch betont er, dass die Namenlosigkeit des Verfassers dem Ansehen von Jes 40–66 keinen Abbruch tue, denn die Autorität hänge ja nicht vom Verfasser ab, sondern vom Inhalt der Schrift und ihrem Nutzen für das Gottesvolk in einer konkreten geschichtlichen Situation. Dies ist in Exegese, Theologie und Kirche allzu oft überhört worden, denn nicht die Boten stehen im Zentrum der alttestamentlichen Schriften, sondern die Botschaft selbst ist entscheidend.

 

Zu wirklicher Popularität gelangte die These von Döderlein erst durch den großen Jesaja-Kommentar von Bernhard Duhm aus dem Jahre 1892. Darin spricht dieser zum einen die vier Gottesknechtslieder und die Götzenpolemiken dem exilischen Anonymus ab und weist zum anderen die Kapitel 56–66 einem dritten, noch späteren Propheten zu, den er der Einfachheit halber »Tritojesaja« nennt. Damit hat sich Duhm nicht nur als Erfinder von »Tritojesaja« in der Forschungsgeschichte verewigt, sondern auch als der Exeget, der dem Anonymus von Döderlein einen Namen gab, nämlich »Deuterojesaja«. Die alternative Ansicht, Jes 40–66 stelle eine Anthologie vieler anonym gebliebener Autoren dar, war damit auf lange Zeit marginalisiert.13 Vor dem Hintergrund einer romantischen Idee des wahren Propheten entwirft Duhm ein lebendiges Bild von »Deuterojesaja«, den er aber wegen der Vorliebe für Baumsorten und Küstenstreifen weder in Babylonien noch in Juda, sondern im Libanon lokalisiert.

Die alttestamentliche Wissenschaft der letzten 100 Jahre ist von der Hypothese eines anonymen Propheten »Deuterojesaja« zutiefst geprägt worden. Aus dem exegetischen Kunstnamen wurde der Eigenname eines Verfassers, der die Summe der Prophetie und den Höhepunkt des AT verkörpern sollte.14 Es war aber gerade die Anonymität, an der die Kritik ansetzte. Mit beißender Ironie hält z.B. Wilhelm Caspari den Duhmschen Deuterojesaja für »eine Zimmerpflanze auf dem Gelehrten-Schreibtische.«15 Zur Diskussion stand und steht nicht die Besonderheit der Kapitel 40ff., sondern ihre vermeintliche biographische Verankerung. Hinter »Deuterojesaja« eine historische Prophetengestalt zu vermuten, ist in der Exegese immer noch sehr verbreitet16, doch nehmen die Stimmen zu, die für eine alternative Sichtweise plädieren.17 Dass die Lieder vom Gottesknecht dieses biographische Vakuum nicht füllen können, wird ebenfalls immer deutlicher wahrgenommen.18 Auch weisen redaktionskritische Studien einer möglichen deuterojesajanischen Grundschicht immer weniger Texte zu.19

Gegenüber der breiten Akzeptanz des Duhmschen »Deuterojesaja« hat sich dessen Ansicht über »Tritojesaja« nie flächendeckend durchsetzen können. Hier dachte man schon sehr früh an Kreise von Schriftgelehrten. Doch im Sog der alles beherrschenden Deuterojesaja-Hypothese wurden diese als Schüler des exilischen Anonymus missverstanden.20 Dass »Deuterojesaja« in Theologie und Kirchen so populär werden konnte, hing nicht zuletzt vom christlich geprägten Prophetenbild ab. Man wollte so wichtige Texte nicht einfach namenlosen Schreibergruppen zuweisen. Von daher ist die vorsichtige Anfrage von Diethelm Michel zum Rätsel Deuterojesajas in der Theologischen Realenzyklopädie aus dem Jahre 1981 mit einem klaren Ja zu beantworten: »Es ist also zu fragen, ob bei der Postulierung eines Propheten Deuterojesaja nicht die Ansicht Pate gestanden hat, eine so überzeugende theologische Leistung könne nur von einem großen Individuum stammen.«21 Zu den kritischen, viele Jahrzehnte überhörten Stimmen von Caspari, Vincent und dem frühen Michel mit seiner Antrittsrede von 196722 gehört auch die kleine Monographie von Joachim Becker »Isaias – der Prophet und sein Buch« aus dem Jahre 1968. Seine damalige Einschätzung hat nichts an Wert eingebüßt: »Die verbreitete Vorstellung von einer kurz vor 539 wirkenden – aus Verlegenheit ›Deuteroisaias‹ genannten – Prophetengestalt entspringt unbewußt dem Bestreben, einen angesehenen und bedeutsamen Text wie Is 40–55 vor dem Schicksal der redaktionellen Anonymität, die ihn exegetisch zur Bedeutungslosigkeit verurteilt hätte, zu bewahren. Oder umgekehrt: Man kann den Text nicht als redaktionell gelten lassen, weil er bedeutend ist, und schafft daher künstlich die Prophetengestalt des ›Deuteroisaias‹.«23 Dieses Festhalten an der individuellen Gestalt des Propheten wurde sicherlich auch durch den Druck der kirchlichen Dogmatik befördert, die für ihre Inspirationslehre biographisch fassbare Personen als erforderlich erachtete.24

Die Annahme kollektiver Verfasserschaften ist nur auf den ersten Blick ungewöhnlich, und zwar dann, wenn es prophetische Texte betrifft. Bei der Erforschung des Pentateuchs sind die priesterlichen, nicht-priesterlichen und deuteronomischen Traditionen nie als das Ergebnis individueller Autoren verstanden worden. Hinter den Deuteronomisten und den Verfassern des Chronistischen Geschichtswerkes stehen gleichermaßen theologische Gruppen und keine Einzelpersonen. Bei den Psalmen werden die Sängergilden, die für einzelne Lieder und Liedsammlungen verantwortlich waren, zum Teil namentlich genannt (Korachiter: Ps 42–49; 84–85; Asafiten: Ps 50; 73–83; vgl. Jeduthun: Ps 39; 62; 77; Heman: Ps 88; 1 Chr 16,41–42; 25,1–6). Das Wissen um kollektive Verfasserschaften hat sich in der jüdischen Tradition erstaunlicherweise erhalten, wie der babylonische Talmudtraktat Baba bathra 14b–15a deutlich zeigt. Dort heißt es unter anderem, Hiskija und sein Kollegium hätten Jesaja, Sprüche, das Hohelied und Kohelet geschrieben.25

Die Ansicht, hinter den Autoren des Jesajabuches stünden Kollektive, hatte sich zunächst an der Vorstellung einer Jesaja-Schule26 festgemacht, sowie an der einer Deuterojesaja-Schule.27 Für erstere ist es durchaus plausibel und für die Überlieferungsbildung wohl unerlässlich, von einer Tradentengruppe am Ende des 7. Jh. auszugehen, die besonders für eine erste Abfassung der sogenannten Immanuelschrift in Jes 6–8 verantwortlich zeichnete. In Bezug auf Kap. 40–66 hätten die Schüler des großen exilischen Anonymus seine Worte bewahrt, fortgeschrieben und in die jetzige Endfassung gebracht. Demnach wäre Deuterojesaja nicht die Einzelfigur im Sinne von Duhm gewesen, sondern als »chef du groupe« aufgetreten28, dessen Botschaft nach seinem Tod von seinen Schülern gesammelt und herausgegeben worden sei.29 Diese Hypothese hat aber mit der Rückfrage zu kämpfen, warum dessen Name so konsequent verschwiegen worden wäre. Zudem lässt sich in 40ff. keine Auftrittsszene eines Propheten entdecken, ganz im Gegensatz zum ebenfalls exilischen Ezechiel (vgl. Ez 1,1; 24,1; 26,1; 29,1). Konträr zum Ezechielbuch, wo viele Texteinheiten mit »das Wort JHWHs erging an mich« (u.a. 6,1; 7,1; 12,1.8) eingeleitet werden, fehlt dies in 40ff. völlig (zu 40,6; 48,16, siehe die Auslegung). Die 1. Person Singular im zweiten und dritten Gottesknechtslied (49,1ff.; 50,4ff.) kann diese Lücke nicht füllen, denn hier dominiert eine formgebundene Sprache, die keine Rückschlüsse auf eine historische Einzelperson zulässt.30 Dass das Leiden des Knechts im vierten Gottesknechtslied (52,13ff.) nicht auf das Martyrium eines anonymen Propheten auszulegen ist31, hatte bereits Julius Wellhausen unterstrichen: »Die Annahme ist abenteuerlich, daß im Exil ein unvergleichlicher Prophet, womöglich von seinen eigenen Landsleuten, zum Märtyrer gemacht, dann aber verschollen wäre. Die Aussagen passen auch nicht auf einen wirklichen Propheten. Der hat nicht die Aufgabe und noch weniger den Erfolg, alle Heiden zu bekehren.«32

So gewinnt in den letzten Jahren die Ansicht immer mehr an Boden, dass sich aus Jes 40–66 keine prophetischen Einzelgestalten ableiten lassen.33 Im Mittelpunkt steht der Text selbst, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er mehr als andere prophetische Schriften eine dramatisch fortschreitende Entwicklung aufweist. Vom Anfang bis zum Ende geht es um Jerusalem und Zion als Zentrum und Ziel der Gottesherrschaft über Israel und die Völker. Dieses Drama der Reinigung und Bedrohung, der Gerichtsansagen und Heilsankündigungen kreist in immer neuen Anläufen um die Zukunft der Gottesstadt, dem Ziel der Geschichte JHWHs mit seinem Volk und den Völkern.

Wie immer man die Gesamtanlage des Jesajabuches bewertet und welche Entwicklungsstufen auch vorgeschlagen werden, auf die Annahme professioneller Schriftgelehrter kann heutzutage kein Erklärungsversuch mehr verzichten. Odil Hannes Steck, der sich wie kaum ein anderer um das Phänomen der schriftgelehrten Prophetie verdient gemacht hat, charakterisiert diese Literaten folgendermaßen: »Fachleute, geschulte und sich schulende Insider, die ihre Schriften im Dienste fließender Relecture aufs genaueste in Abfolge und Aussage kennen – professioneller Autoren- und Leserkreis in einem. Erst nach der Kanonisierung, als der Fluß produktiver Relecture zum Stehen gekommen war, wird dies anders und kann exegetisch vereinzelndem Gebrauch bis hin zu atomistischer Auslegung weichen. Zuvor jedoch sind es Fachleute, die ganze Bücher und Bücherfolgen betreuen.«34 Sie waren keine Autoren im modernen Sinne, sondern Begründer theologischer Diskurse und Diskursgemeinschaften, die miteinander in Kontakt und mitunter auch in Konkurrenz zueinander treten konnten: »Nebeneinander, aber nicht unabhängig voneinander existierten schulmäßig funktionierende Diskurse der Fortschreibung als Auslegung autoritativer Worte, die dem jeweiligen Diskursgründer zugeschrieben wurden. Während für die priesterliche Schriftgelehrsamkeit Mose als Diskursgründer galt, dem auch die nachexilischen fortschreibenden Auslegungen seiner Worte aus vorexilischer und exilischer Zeit in Deuteronomium und Priesterschrift in den Mund gelegt und damit autorisiert wurden, wurden in Kreisen der Tradentenprophetie Worte der prophetischen Diskursgründer eines Jesaja, Jeremia oder Ezechiel fortschreibend ausgelegt und diesen Diskursgründern in den Mund gelegt und erhielten so ihre Legitimation durch die prophetische Autorität in Konkurrenz zu Mose Funktion, Offenbarungsmittler göttlicher Worte zu sein.«35

Für Kap. 40–66 bietet sich das Paradigma schriftgelehrter Prophetie auch deshalb so sehr an, weil gerade diese Kapitel eine Vielzahl von alttestamentlichen Überlieferungen und Motiven aufnehmen und aktualisieren. Dazu gehören die Väter- und Exodustradition, die prophetische Gerichtsverkündigung, jesajanische Ausdrücke wie der »Heilige Israels«, Anleihen aus Jeremia und Ezechiel sowie die deuteronomische Worttheologie. Dazu kommen noch Jerusalemer Topoi wie Zion und David, sowie die priesterschriftliche Verknüpfung von Schöpfung und Geschichte und die Tradition der Psalmen mit ihrer starken Fokussierung auf den Gottesberg und die Gottesstadt.36 Die Vernetzung und kreative Ausgestaltung all dieser Traditionen kann nicht das Werk einer einzelnen prophetischen Person sein, sondern ist das Ergebnis intensiver Traditionspflege durch literarisch geschulte Kreise, die auf babylonischem Boden beginnend im Aufkommen der persischen Weltmacht das Heilszeichen JHWHs für einen Neubeginn und die Rückkehr zum Zion erblickten.

3.Die Kernphasen der Verschriftung des Jesajabuches

Für die ca. 400 Jahre andauernde Entstehungsgeschichte des Jesajabuches (700–300) lassen sich mit aller gebotenen Vorsicht einige Kernphasen der Verschriftung bestimmen. Das Fundament legten Jesaja ben Amoz und sein Schülerkreis, den dieser während der syrisch-efraimitischen Krise (734–732) um sich sammelte. Die jüdische Tradition hält seinen Vater »Amoz« (nicht zu verwechseln mit »Amos«) für einen Bruder des Königs Amazja (796–781), dem Vater Usijas, so dass Jesaja ein Neffe des judäischen Königs gewesen wäre, in dessen Todesjahr er seine Sendung zum Propheten empfangen hätte (bMegilla 10b). Wenn diese Tradition auch nicht zu beweisen ist, so spricht sie doch für eine große Nähe Jesajas zum Königshaus und zur Sphäre der Innen- und Außenpolitik.