Das Buch Jesaja

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57Siehe u.a. TROXEL 2008; VAN DER KOOIJ / VAN DER MEER (Hg.) 2010.

58Unverzichtbar ist in diesen Fragen BARTHÉLEMY 1986.

59CHILTON (Hg.) 1987; den aramäischen Text und eine englische Übersetzung bietet auch STENNING (Hg.) 1949.

60GRYSON u.a. (Hg.) 1993; 1994; 1996; 1998; 1999.

61Siehe auch FüRST / HENGSTERMANN 2009.

62WILLIAMSON 1994, S. 113.

63STROMBERG 2011.

64STROMBERG 2011, S. 144.

65VERMEYLEN 1989, S. 28–34.

66Siehe die Zusammenfassung bei STECK 1985, S. 80.

67BERGES 1998, S. 247 und das Schaubild S. 551.

68BEUKEN 1991, S. 28.

69STECK 1985, S. 39–41.

70ACKROYD 1987, S. 338.

71BROWNLEE 1952; 1964, S. 247.

72BROWNLEE 1964, S. 255.

73BROWNLEE 1964, S. 249.

74SWEENEY 1996, S. 41.

75MATHEUS 1990.

76Dazu auch VAN WIERINGEN 1998.

77SHEPPARD 1992, S. 575.

78Anders BALTZER 1999.

79UTZSCHNEIDER 2005, S. 13.

80UTZSCHNEIDER 2005, S. 13. Die Szenen lassen sich wiederum in Auftritte ordnen, »die Redesituationen, die im Text durch jeweils bestimmte dramatis personae als Sprecher bzw. Angesprochene gebildet werden« (UTZSCHNEIDER 2005, S. 12).

81UTZSCHNEIDER 2005, S. 15f.

82RöSEL 2000.

83BERGES / SPANS 2012, S. 181.

84Protojesaja kennt aber auch die Verbindungen (1,24; 3,1; 10,16.33; 19,4) und (3,15; 10,23–24; 22,5.12.14–15; 28,22).

85ABERNETHY (Hg.) 2013.

86Jes 1,4; 5,19.24; 10,20; 12,6; 17,7; 29,19.(23); 30,11.12.15; 31,1; 37,23; 41,14.16.20; 43,3.14; 45,11; 47,4; 48,17; 49,7; 54,5; 55,5; 60,9.14. Das Attribut »heilig« für JHWH kommt auch ohne die explizite Nennung »Israels« vor, ist aber immer von dieser Beziehung geprägt: Jes 5,16; 6,3; 10,17; 40,25; 43,15; 57,15. Der Titel findet sich zudem in 2 Kön 19,22; par. Jes 37,23; Jer 50,29; 51,5; Ps 71,22; 78,41; 89,19.

87Th. WAGNER 2012, S. 134–144, hat diesen Konnex zwar gesehen, doch verkennt seine kohärente Übersetzung »Fülle des Landes« (6,3) die besondere Tragweite dieses Begriffs im Gesamt der Tempelvision.

88Singulär für Gott im Jesajabuch, siehe BERGES 2008, S. 113f.

89Implizit wird JHWH als Feldherr in 40,26; 45,2; 49,2; 51,9 dargestellt.

90HARTENSTEIN 2013.

91RINGGREN 1973.

92FABRY 1982, Sp. 1040f.

93Jes 41,4.10.13.17; 42,6.8; 43.3.10–11.15; 44,6.24; 45,3.5–8.18–19.21; 46,9; 48,17; 49,23.26; 51,15.

94Jes 41,4; 43,10.13.25; 46,4; 48,12; 52,6 (vgl. Dtn 32,39; Ps 102,28).

95Bereits ZIMMERLI 1963; ALBANI 2003.

96Vgl. WILLIAMS 2000, S. 15–41; DIESEL 2006, S. 281–342.

97HERMISSON 2003, S. 114.

98Die Kernfrage lautet, ob diese Figur buchextern (als König oder Hohepriester) oder buchintern (als Prophet Jesaja oder der Knecht) modelliert ist. Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten siehe die Übersicht bei ACHENBACH 2007, S. 199–212.

99Einige Ausleger nehmen an, dass der Sprecher in Jes 61 eine zusammengesetzte Identität besitzt. So soll in V. 10–11 der (prophetische) Sprecher von V. 1–3 proleptisch im Namen Zions auf das Orakel von V. 1–9 reagieren (KOOLE 2001, S. 292; OSWALT 1998, S. 574; BLENKINSOPP 2003, S. 231; SPANS 2015, S. 40–50; LABOUVIE 2013, S. 180–183).

100SPANS 2015, S. 41.

101SPANS 2015, S. 299.

102Gesenius18, S. 1225-1227.

103Andere Texte, in denen »Licht« bzw. »Feuer« als Instrument oder Produkt JHWHs begegnen, bleiben hier außen vor (vgl. 30,30; 45,7; 51,4; 58,8.10; 59,9; 62,1).

104RINGGREN 1973, Sp. 1–7; VANONI 1995, S. 32–38.

105HARTENSTEIN 2012.

II.Auslegung von Jesaja 1–66 Synchrone Textbetrachtungen, diachron reflektiert

I.Teil Jesaja 1–12 Zion zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Der exegetische Zugang in das Buch Jesaja erfolgt in »diachron reflektierter Synchronie«, wie dies im Einleitungskapitel bereits dargelegt wurde. Wenn man die Kap. 1–12 unter dieser Perspektive betrachtet, wird deutlich, dass diese Teilkomposition in literarkritischer Hinsicht zugleich älteres und jüngeres Material enthält. Theologisch liefern diese Kapitel die Basis für das ganze Buch und stellen auf synchroner Ebene den »Plot« des Gesamtwerkes dar.

Die Teilkomposition der Kap. 1–12 bildet ein abgerundetes Ganzes. Ihr Aufbau gliedert sich – nach der Überschrift (1,1) – in drei Akte: eine zweifache Ouvertüre (1,2–4,6), die zur gerahmten und erweiterten »Immanuelschrift« führt (6,1–8,18 in 5,1–10,4), an die sich das Doppelbild zweier Herrscherprofile (10,5–11,16) und ein Loblied (Kap. 12) anschließen. Parallel zum Textverlauf beschreitet die Leser- bzw. Hörerschaft einen Weg, der von der Anklage über das Gericht zum vorweggenommenen Dank für die erwartete Erlösung führt. Wer für diese Komposition verantwortlich zeichnet, ist nicht leicht zu bestimmen. Aber da sich diese Struktur im Buch mehrfach findet, geht sie wahrscheinlich auf diejenigen zurück, die dem Buch insgesamt seine Endgestalt gaben. Das Loblied in Jes 12 verleiht der Komposition auf der einen Seite einen abgeschlossenen Charakter, führt auf der anderen aber zur Erwartung von etwas Neuem. Diese Kantate dient der Verheißung, die in den vorangegangenen Kapiteln entfaltet wurde: der Erwartung des »Immanuel«, d.h. »Gott mit uns«, und zwar in Gericht und Heil (7,14).

Die Kap. 1–12 präsentieren die Aktanten des gesamten Buches: JHWH, Volk und Land Israel sowie die Tochter Zion auf der einen, die Götter und die Völker auf der anderen Seite, wobei Assur an vorderster Front steht. Die Darstellung der Protagonisten des Buches erfolgt dabei auf eine für die Leserlenkung wichtige Art und Weise, und zwar vor dem Hintergrund von Exil und Nachexil. Die in diesen Epochen zentrale Perspektive fußt auf der Entwicklung vom Gericht zum Heil. Analog dazu bereitet die zweifache Ouvertüre (1,2–4,6) nicht nur die Szenerie für die erste Teilkomposition, sondern dient dem gesamten Jesajabuch als Einleitung. So schärfen zahlreiche Verbindungen zwischen den ersten und den letzten Kapiteln das Profil Jerusalems als Ziel der Wallfahrt des geläuterten Israel und der Völker: Dorthin ziehen sie hinauf, zum Berg JHWHs, zu seinem Haus, d.h. zu seinem Tempel. Auch auf das zentrale Ereignis von Kap. 1–12, die Vision von JHWHs Herrlichkeit (Kap. 6), wird am Anfang von Deuterojesaja (Kap. 40) und am Schluss von Tritojesaja (Kap. 66) Bezug genommen. Die Entwicklung des Großjesajabuches im 5./4. Jh. hat Jes 1–12 eindeutig ihren Stempel aufgedrückt.

Die Entstehungsgeschichte dieser Kapitel hängt einerseits mit der des Gesamtbuches zusammen. Sie ist andererseits aber auch stark autonom verlaufen. Selbst wenn sich die Forschung bis dato noch nicht einmal über die großen Linien dieser Prozesse hat verständigen können, ist zumindest allgemein anerkannt, dass Jes 1–12 einige der grundlegenden Orakel des historischen Propheten beherbergen. Die Autoren dieses Lehrbuches rechnen mit verschiedenen Phasen in Überlieferung und Redaktion, halten es aber nicht für möglich, diese für alle einzelnen Verse oder Versteile trennscharf nachzuweisen.

Folgendes Entwicklungsmodell scheint derzeit vertretbar: An der literarhistorischen Basis steht die sogenannte »Denkschrift«, besser »Immanuelschrift« (6,1–8,18). Sie besteht aus drei Szenen: zwei Ich-Erzählungen (Kap. 6 und 8,1–18), die einen Er-Bericht (Kap. 7) rahmen. Diese Einzelüberlieferungen stammen vermutlich aus dem Jüngerkreis des Propheten. Diese Trias ist sukzessiv überarbeitet worden, und zwar mittels eines Prologs (5,1–7) und eines Epilogs (8,19–9,6). Die dort angesprochenen Themen »Verwüstung des Landes und Exilierung« lassen die angekündigten Nöte des 8. Jh. schon auf die Zeit nach dem Fall von Jerusalem im Jahre 586 hin transparent werden. Solch eine durchdachte literarische Struktur kann nur das Ergebnis nachexilischer, schriftgelehrter Kreise sein.

Für den weiteren Ausbau der bereits ergänzten Immanuelschrift zur Endgestalt von Kap. 1–12 sind weitere Hinzufügungen entscheidend, die man diachron nur schwer unterscheiden kann. Synchron lässt sich jedoch sehr wohl eine Differenzierung vornehmen, und zwar von der Gesamtperspektive des Buches her. Das betrifft erstens die zweifache Ouvertüre in 1,2–2,5 und 2,6–4,6, zweitens das Doppelbild der Kap. 10–11 und drittens das Schlusslied in Jes 12. Man darf sich die Bearbeitungen nicht als eine zusammenhängende Initiative eines einzigen Schreiberzirkels und schon gar nicht als die einer singulären Schreiberpersönlichkeit zu einem einzigen Zeitpunkt vorstellen, denn dafür ist das literarhistorische Bild der Einzelpassagen viel zu pluriform und mehrschichtig. Es ist vielmehr an eine Entwicklung zu denken, die ihre Absicht erst anhand der Endgestalt preisgibt. Es geht dabei im Wesentlichen um den Verlauf des göttlichen »Plans« (siehe zu 5,19; 8,10; 11,2). Dieser nimmt seinen Ausgangspunkt bei Anklage und Gericht (1,1–31; 2,6–4,1), jedoch nicht ohne in der Ferne die Aussicht auf das endgültige Heil anzubieten (2,1–5; 4,2–6). Doch zuvor muss die unterdrückende Großmacht Assur fallen, die JHWH herausforderte (10,5–34). Erst dann kann es zur Herrschaft des Sprösslings Isais kommen, der die Zerstreuten Israels sammelt (Kap. 11), worauf sich das Danklied der Erlösten anschließt (Kap. 12).

I.Akt Jesaja 1–4 Zweifache Ouvertüre: Aussicht auf Zions Verwandlung

 

Die Überschrift in 1,1 fungiert als Echtheitsbeweis für die Vision, die sich im Buch entfaltet. Dadurch wird Jesaja ben Amoz aber nicht zum Autor, sondern zur Autorität, auf die alles zurückgeht, was in der nach ihm benannten Schrift steht. Dies gilt sowohl für die Texte in Kap. 1–39 als auch für die in Kap. 40–66. Damit wird Jesaja ben Amoz zum Verkündiger von Unheil und Heil, sein Buch zur Magna Charta der Gemeinde Israels in der Zeit des Zweiten Tempels (vgl. 2 Chr 32,32). Der Begriff »Vision« (vgl. Obd 1; Nah 1,1; Hab 2,2–3) deutet hier auf keine besondere seherische Fähigkeit hin, sondern unterstreicht den Ursprung und die Reputation der Prophezeiungen, wobei der Singular deren Vielzahl auf einen Nenner bringt. Die geschichtliche Notiz verankert Jesajas Amtszeit in der Zeit der gewaltsamen Ausbreitung des neuassyrischen Reiches, welche die Regierung der vier genannten Könige von Juda dominierte (von der zweiten Hälfte bis zum Ende des 8. Jh.). Die Prophezeiungen Jesajas setzten diesen Hintergrund voraus und behielten ihre Aktualität im 7. Jh. bis zum Fall Ninives (612) und darüber hinaus bis zur Verwüstung Jerusalems (586). Wegen ihrer Bedeutung, die sich durch die eingetretenen Katastrophen nur noch erhöht hatte, wurden diese Orakel zum einen als Komposition gesammelt und weiterentwickelt, zum anderen nach der Rückkehr aus dem Exil mit dem anwachsenden Textbestand von Jes 40ff. als gemeinsame jesajanische Tradition gepflegt und aktualisiert.

Auf die Überschrift folgt die Ouvertüre mit zwei parallel verlaufenden Szenen: 1,2–2,5 und 2,6–4,6. Beide entwickeln sich jeweils von der Anklage gegen und dem Gericht über Juda und Jerusalem (1,2–31; 2,6–4,1) hin zur Verheißung, JHWH selbst werde Zion erneuern (2,1–5; 4,2–6). Dorthin ziehen die Völker, um Tora zu empfangen (2,1–5), und dort wird der geheiligte Rest unter JHWHs Schutz in Sicherheit wohnen (4,2–6). Beide Bewegungen ergeben eine der wesentlichen Perspektiven des Jesajabuches. Sie gehören zur redaktionellen Einfassung des Buches. Die Reinigung Zions/Jerusalems von Sünde und Frevlern und die Wallfahrt der Weltvölker zu diesem Ort der Präsenz Gottes verbinden Anfang und Ende des Jesajabuches in semantischer, thematischer und theologischer Hinsicht (vgl. 66,15–24).

Die doppelte Ouvertüre des Jesajabuches ist diachron betrachtet aus älterem, prophetisch anmutendem Material gebildet worden. Weitere Rückfragen nach »authentischen« Jesajaworten sind jedoch nicht zu beantworten, denn dafür ist die Unterscheidbarkeit zu gering. Die formgeschichtliche Parallelität der beiden Szenen und ihre fast stereotype Verbindung durch den Ausdruck »Haus Jakob« (2,5–6; vgl. 65,9) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Abschnitte über die Völkerwallfahrt zum Zion (2,1–5) und über den Einbruch des Gottesschreckens gegen das Treiben aller Hochmutigen der Erde (2,6–22) so präsentiert sind, als würden hier Utopia und Dystopia aufeinanderstoßen.1 Die Bestürzung, die durch diese Kollision hervorgerufen wird, erzeugt eine große Spannung und innere Dynamik für die weitere Lektüre des so eröffneten Jesajabuches.

I.Szene Jesaja 1,2–2,5 Vom Gericht über Israels Bluttaten zu JHWHS Tora für die Völker

Der Aufbau wird in synchroner Hinsicht bestimmt durch feststehende Ausdrucksweisen der Redeeröffnung: »Hört/horch(t)« (V. 2.10), »Kommt doch, spricht JHWH« (V. 18), »Ach, sie ist geworden« (V. 21 [Beginn eines Leichenliedes]), »Darum, Spruch des Herrn« (V. 24) und den häufig eine Einheit beschließenden Ausdruck: »Der Mund JHWHS hat gesprochen« (V. 20). Die Redesituation ist ganz und gar (nach)exilisch gefärbt. Lässt man all diese Struktursignale zu ihrem Recht kommen, so besteht Kap. 1 aus den Abschnitten V. 2–9, V. 10–20 und V. 21–31. Sie stellen sukzessiv das Volk, die Führer des Volkes und Zion in den Mittelpunkt. Der vierte Abschnitt (2,1–5) ist nicht mehr diskursiv gestaltet, sondern beschreibt Zions endzeitliche Funktion für die Völker.

Der erste Abschnitt (1,2–9) präsentiert Jesaja als einen Propheten von universaler Reichweite (V. 2: »Himmel und Erde«), der dem sündigen Volk, das unter dem Gericht gebeugt geht, verkündet, auch dieser Zustand mache unter Gottes Führung noch Sinn, denn JHWH habe ja einen Rest übriggelassen. Der Prophet bettet Gottes Anklage gegen Israel (V. 2–3) in seine eigene Botschaft, den Weheruf (V. 4–9), ein. Darin verweist er auf die anhaltenden Folgen des Gerichts über das Land und die Stadt, das nun Wirklichkeit geworden ist. Die Verwüstung des Landes (1,6–9) könnte sich auf Katastrophen aus der Zeit Jesajas beziehen (den syrischefraimitischen Krieg [734–732], den Untergang des Nordreiches [722], Sanheribs Feldzug gegen Juda [701]), aber auch auf die Notsituation nach der Eroberung Judas und Jerusalems durch die Babylonier (586). So entsteht das Bild von Jesaja als dem Propheten des Buches, der sowohl den Untergang Israels, besonders den von Juda und Jerusalem, und darüber hinaus die Exilierung ankündigte als auch die Errettung des Restes nach JHWHS Plan vorhersah (V. 9). Während er am Beginn auf der Seite Gottes gegen Israel steht (ab V. 5), ist er am Schluss mit seinem Volk solidarisch (V. 9: »wir«).

Der zweite Abschnitt (1,10–20) ist eine Art Mustertext für Jesajas Kritik an den Führern und der Bevölkerung der korrupten Stadt. Der Name »Jerusalem« fällt nicht, was die Anrede »Sodom/Gomorra« noch dramatischer macht (V. 10). Die Kultkritik der V. 11–13 bezieht sich ohne Zweifel auf Zion, die ja bereits in V. 8–9 genannt war. In dieser Auftrittsskizze wird Jesaja zugleich als der Verkündiger von JHWHS »Wort« und als Lehrer seiner »Tora« präsentiert (V. 10). Das Miteinander von Prophetenspruch und Rechtsbestimmung zielt weder unter historischem Blickwinkel, noch im literarischen Sinn auf die viel spätere kanonische Zweiteilung in Gesetz und Prophetie, sondern lädt die Adressaten des Buches ein, Jesaja auf einer Linie mit Mose zu betrachten.2 Wie dieser als Weisheitslehrer die Befolgung der Tora anmahnt (Deuteronomium), so unterrichtet Jesaja das Volk darüber, was JHWH gefällt (V. 10–17) und wie es im Falle des Gehorsams dem Elend zum Trotz doch noch zu einem glücklichen Leben im Land gelangen kann (V. 18–20).

Nach dem Aufruf, die Lehre anzunehmen (V. 10), konkretisieren zwei Fragen und Antworten die eigentliche Weisung, die konkrete Tora: Welchen Nutzen könnte JHWH von Opfertieren haben (V. 11)? Fordert er den häufigen Besuch des Heiligtums (V. 12)? Die Antworten darauf werden in einem negativen Teil – was man nicht und warum man es nicht tun sollte (V. 13–15) – und in einem positiven Teil – was man sehr wohl tun soll (V. 16–17) – ausgearbeitet. Die Verbindung zwischen beiden liegt in der Anklage, die Hände, mit denen man Opfergaben darbringt (V. 12) und bittet (V. 15a), seien mit Blut beschmiert (V. 15b). Kult- und Sozialkritik sind dabei nicht willkürlich verbunden, sondern haben eine gemeinsame anthropologische Basis: die Unteilbarkeit des Menschen. Der nachfolgende Prozess (V. 18–20) hat nicht den Charakter einer bedingungslosen Gerichtsankündigung, da die vorausgehende Anklage in die Form einer Belehrung gekleidet ist, die eine positive Verhaltensänderung zumindest als Möglichkeit offen hält. Die literarische Gattung des Gerichtsverfahrens ist kontextuell angepasst: Sie schließt eine bindende Regelung in Bezug auf die erwartete und geforderte Verhaltensänderung ein. Konkret heißt das: Wie die Hörer der Verkündigung des Propheten, so sind auch die Adressaten des Buches dazu aufgefordert, ihr soziales und religiöses Verhalten zum Positiven zu verändern. Dass diese Erwartung zum Teil schon auf fruchtbaren Boden gefallen war, zeigt die Errettung eines Restes, der sich danach in den Schülern Jesajas, dem Knecht und den Knechten fortsetzt. Der grausige Schlussvers in 66,24 unterstreicht dagegen, dass die Zeit der Entscheidung nicht auf ewig offen steht.

Der dritte Abschnitt (1,21–31) zeichnet ein programmatisches Bild von Jesajas Verkündigung in Bezug auf das große, einheitsstiftende Thema des Jesajabuches: Zion. In der ersten Perikope (V. 21–26) wird Zion als das Opfer gewissenloser Führer präsentiert, die zuvor schon unter Anklage standen. Die prophetische Totenklage, die durch einen Schuldaufweis begründet ist (V. 21–23), und der Gottesspruch (V. 24–26) werden durch die Ausdrücke »treue Ortschaft«, »voll des Rechts«, »Stadt des Rechts« (V. 21.26) umschlossen. Diese Verbindung spielt bei der Eröffnung des Jesajabuches insofern eine wichtige Rolle, als das Urteil allein den Sündern, das heißt JHWHS Feinden, gilt (V. 24). Demgegenüber ist Zion die Wiederherstellung gerechter Verhältnisse verheißen (V. 25–26). Die zweite Perikope arbeitet den zuvor ergangenen Gottesspruch weiter aus (V. 27–31). Die Wiederherstellung von Zions moralischer Integrität bedeutet zugleich ihre Errettung (V. 27). Dem steht der völlige Untergang der Sünder gegenüber (V. 28–31), wie dieser am Ende des Buches ebenfalls in Szene gesetzt wird (Jes 66).

Die drei ersten Abschnitte klingen zwar wie die Verkündigung eines Propheten des 8. Jh., sprechen aber zugleich in die gesellschaftliche Zerklüftung des nachexilischen Israels hinein. Die Problem- und Gedankenwelt des Exils und Nachexils ist mit Händen zu greifen. Darauf verweist zum einen der theologisch zentrale Restgedanke, der die Golagemeinde legitimiert (V. 9), zum anderen das Angebot zur Vergebung mit der Alternative von Gehorsam und Widerspenstigkeit (V. 18–20; vgl. Dtn 11,26–28; 30,11–20). Darüber hinaus deutet der Kontrast zwischen den »Sündern« und »denen, die sich bekehren« (V. 24.27) auf die nachexilische Zeit hin (vgl. u.a. die Spannungen in der Jerusalemer Tempelgemeinde unter Esra und Nehemia).

Der vierte Abschnitt (2,1–5) besteht seiner literarischen Form nach aus einer neuerlichen Überschrift (V. 1), einer Heilsschilderung (V. 2–4) und einer Selbstaufforderung (V. 5). Die Heilsschilderung kündigt nicht etwa JHWHS Eingreifen an, denn dies ist schon in 1,24–26 geschehen. Als Folge davon wird hier dem Berg mit dem Haus Gottes eine kosmische Hoheit in Aussicht gestellt. Sie ist der Grund für seine zukünftige Rolle als Ausgangspunkt der Tora-Belehrung und Friedensstiftung. Diese Faszination regt die Völker an, gemeinsam eine Pilgerfahrt zum Zion zu unternehmen, damit sie dort Tora/Gottes Wort lernen (V. 2–3). Folglich wird JHWH zwischen ihnen Recht sprechen, woraufhin sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden können (V. 4). Am Ende ermahnt der Prophet das Haus Jakob, der Aufforderung der Völker zu folgen: »Kommt doch! Wir wollen gehen im Licht JHWHS!« (V. 5; vgl. V. 3).

Die Gleichstellung von Tora und JHWHS Wort in 2,3 setzt die Warnung von 1,10 fort. In beiden Kontexten bezieht sich diese Parallelisierung nicht etwa auf schriftlich fixierte Gebote, sondern betont die göttliche Autorität, wenn es um das sittliche Verhalten von Menschen geht. Diese Autorität JHWHS legitimiert in 1,10 die Predigt des Propheten an die ungläubigen Einwohner Jerusalems und ist zugleich der Maßstab für die Leserschaft des Jesajabuches. Die Erhöhung Zions ist kein geographisches Phänomen, sondern regt die Wallfahrt der Völker zur Quelle der ethischen Belehrung an. Dies kann aber erst und nur dann funktionieren, wenn sich das »Haus Jakob« daran macht, im Licht JHWHS zu wandeln. Die Belehrung der Völker macht die Vorrangstellung Israels als auserwähltes Volk keineswegs zunichte!

Der Abschnitt passt unter diachronen Gesichtspunkten zur Situation der nachexilischen Gemeinde, als Israel eine ethnische Gruppe innerhalb des Persischen Reiches geworden war. Da sich diese Verse auch noch in Mi 4,1–3 finden, gibt es eine anhaltende Diskussion darüber, in welchem Buch sie ursprünglich beheimatet waren. Die kontextuellen Argumente sprechen eher für das Buch Micha als für das Jesajabuch.3 Insgesamt gesehen sind die zwei thematischen Bestandteile, Zions Erwählung durch JHWH und seine Anerkennung durch die Völker, auch vorexilisch nachweisbar und Jesaja keineswegs fremd. So fließen am Ende der ersten Szene der Ouvertüre drei aus diachroner Sicht unterschiedliche Motive ineinander: Die Bedeutung Zions als Gottes Wohnsitz passt zu Protojesaja, die Anerkennung JHWHS durch die Völker zu Deuterojesaja und der Völkerzug zum Zion zu Tritojesaja. Zu dieser Gesamtperspektive trägt zuerst der Prophet mit seinen Schülern bei, danach der sehende und hörende Knecht, und schließlich dessen Nachkommen, die Knechte.

II.Szene Jesaja 2,6–4,6 Vom Gericht gegen jeden Hochmut zu JHWHS Schutz auf Zion

Diese Szene ist aus vier Abschnitten zusammengestellt: zunächst drei Schilderungen des Gerichts, zum einen über allen Hochmut gegen JHWH (2,6–22), zum anderen über jene Männer, die in Jerusalem Unrecht begehen (3,1–15), sowie über deren leichtfertige Frauen (3,16–4,1). Daran schließt sich als vierter und letzter Teil eine Beschreibung der Reinigung Zions beim Erscheinen JHWHS an (4,2–6). Der innere Zusammenhang ist hier zwar weniger stark ausgeprägt als in der ersten Szene der Ouvertüre, dennoch streben die beiden Abschnitte über die Männer und Frauen Jerusalems einem gemeinsamen, negativen Höhepunkt zu: von einem nach Beruf und Stand geordneten Sozialgefüge (3,1–3) hin zu anarchischen Zuständen, bei denen die Männer ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den Frauen nicht mehr nachkommen (4,1). Der Schlussabschnitt über die Reinigung Zions verbindet die zwei vorangegangenen Abschnitte durch den Hinweis auf den Unrat der Töchter Zions und die Bluttaten Jerusalems (die Frevel der Führungskräfte; vgl. 4,1 mit 3,17.24 und 3,9.14–15).

 

Der erste Abschnitt (2,6–22) dient im Rahmen der Ouvertüre dem übergreifenden Thema des Gerichts über Juda und Jerusalem. Zum einen ist er mit 2,1–5 durch den Scharnierbegriff »Haus Jakob« verbunden (2,5–6; vgl. 48,1!). Die universale Bedeutung des Ziongottes, die ihren sichtbaren Ausdruck in Zion als dem höchsten der Berge findet (V. 2–3), gründet in seinem Auftreten als Richter über alle Hochmütigen der Erde (V. 11.17.21). Zum anderen nimmt dieser Abschnitt auch eine prospektive Funktion wahr, und zwar durch den Kehrvers »der Schrecken JHWHS und die Pracht seiner Hoheit« (V. 10.19.21). Im Laufe des Buches wird der »Schrecken JHWHS« gegen die Sünder innerhalb und außerhalb Israels agieren (19,16–17; 24,17–18; 33,14; 44,11). Die »Pracht JHWHS« wird sich den Rückkehrern Zions offenbaren (35,2; vgl. 63,1), während seine »Hoheit« die Hybris der Völker vernichtet (13,11.19; 14,11; 16,6; 23,9), aber seinen Treuen als Erlösung zugutekommt (24,14; 60,15).

Anklage und Gerichtsankündigung stehen in einem dialogischen Rahmen: Erstere ist gerahmt durch eine Anrede an Gott (V. 6a.9b), Letztere durch eine Anrede an Menschen (V. 10a.22). Die Anklage skizziert zunächst die Schwere des moralischen Verfalls (V. 6–8: fremdländische Wahrsagerei, Gold und Silber, militärische Aufrüstung und Fremdgötter). Es folgt keine Gerichtsankündigung im Namen JHWHS, sondern ein Spruch über die Erfahrung, dass Menschen zu Fall kommen (V. 9a). Der Kern der Gerichtsankündigung in V. 12–17 besteht aus der Schilderung »eines Tages für JHWH« mit seinen Folgen für alle Orte und alle Arten des Hochmuts. Diese wiederum ist gerahmt durch eine monitio per absurdum, sich vor JHWHS schrecklicher Theophanie (V. 10) und ihren fatalen Auswirkungen zu verbergen (V. 19). Die Warnung wird in V. 11 fortgeführt durch den Ausblick auf die Erniedrigung der Hochmütigen (vgl. V. 17). Im Zuge der Warnung (V. 19) soll es zum Wegwerfen der Fremdgötter kommen (V. 20; vgl. V. 6a–8). Am Ende wiederholt V. 21 mit etwas anderen Begriffen die Aussage von V. 19.

Mit der Ankündigung eines Tages für JHWH gegen alles, was sich gegen ihn erhebt (V. 12–17), enthält der Abschnitt einen Kern, den man im Allgemeinen dem historischen Propheten zuspricht. Um diesen Kern herum hat sich ein Rahmen gelegt, der den Fremdgötterkult anprangert (V. 6–9.20–22). Diese Anklage könnte aus jeder Epoche der prophetischen Überlieferung stammen. Doch sind die Kultbildpolemik und die Gerichtsreden gegen die Völker anders gelagert, als dies etwa in Kap. 40–48 der Fall ist. Das erste Segment weist in V. 6–7 Spuren der gegen die Auslandspolitik gerichteten Predigt Jesajas ben Amoz auf, das zweite ist eher weisheitlich ausgerichtet (V. 22). Der Rahmen präsentiert den Propheten als Mittler zwischen Gott und Volk und verrät so das wachsende Interesse der Redaktion an der theologischen Bedeutung des Propheten und seines Amtes (V. 6a.9b.22).

Der zweite Abschnitt (3,1–15) ist literarisch durch die Klammer »der Herr, JHWH Zebaot« als Einheit ausgewiesen. Das erste Segment skizziert die gesellschaftliche Erschütterung, die das Strafgericht für das Land mit sich bringt (V. 1–7), das zweite den moralischen Verfall, über den Gott das Urteil fällt (V. 8–15). Beide Segmente beginnen mit »Jerusalem/Juda« (V. 1.8). Der Tag JHWHS über alles, was sich gegen ihn erhebt (2,12), trifft zuerst die Oberschicht seines eigenen Volkes (3,1–15). Ihr Sturz bekommt so den Charakter einer Lehrstunde, denn er bestätigt die traditionelle Weisheit, dass der Gerechte und der Sünder genau das als Lohn bzw. Strafe empfangen, was sie verdient haben (V. 8–11). Zudem wird deutlich, dass JHWH für die Opfer der Ungerechtigkeit Partei ergreift (V. 12–15).

Insgesamt gesehen wendet dieser Abschnitt eine Volksklage (V. 1–7) und eine weisheitliche Antithese (V. 10–11) mit dem jesajanischen Motiv des Hochmuts der Elite gegen JHWH (V. 8) und dem Rechtstreit gegen sie (V. 12–15) auf Jerusalem und Juda an. Dabei verdeutlichen die Tempora der Verben die Gleichzeitigkeit zwischen dem Propheten, der das Gericht für die nahe Zukunft ankündigt, und der Leserschaft, die bereits darauf zurückblickt. So können und müssen die Adressaten des Buches das Urteil aus der Zeit Jesajas mit seinen Folgen als ihre eigene Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen.

Der dritte Abschnitt (3,16–4,1), die Prophetie gegen die Töchter Zions, gliedert sich in eine Anklage mit Gerichtsankündigung (V. 16–17) und das Strafgericht (3,18–4,1). Er bildet ein Pendant zur Prophetie gegen die männlichen Anführer der Stadt (3,1.8: »Jerusalem/Juda«). Mit dieser Doppelung wird deutlich, dass die ganze Bevölkerung für das Strafgericht verantwortlich ist. Allerdings nehmen beide Abschnitte nur die höheren Schichten ins Visier: die Oberhäupter mit den Mitgliedern der Handwerkergilden und deren prunksüchtige Frauen. Was Letztere betrifft, so gehörten modische Kleider und anderer Luxus noch nicht zum allgemeinen Schönheitsideal.

Bei der Ausgestaltung sind folgende literarische Mittel eingesetzt worden: 1.) Die Litanei der Modeartikel (V. 18–23) fungiert als Echo auf die Litanei der gesellschaftlichen Autoritäten (V. 2–3). Beide stehen unter dem Leitgedanken »JHWH entfernt«. 2.) Beide Prophetien enden mit einem kurzen Dialog, der die große Not beider Bevölkerungsgruppen skizziert (3,6–7; 4,1). Zudem verweist der wiederholt eingesetzte Begriff »die Töchter Zions« (V. 16.17) bereits zu Beginn auf ein Hauptthema des gesamten Jesajabuches: An Jerusalems Frauen wird sowohl der Untergang (1,8; 4,4; 10,32) als auch die Wiederherstellung Zions sichtbar (37,22; 52,2; 62,11). Auch der Streit um einen Ehemann und damit um das Ende der Schande bildet ein thematisches Pendant zu den Versen über Zions neue Hochzeit mit JHWH (54,1–8; 62,1–5). Diachron ist der Abschnitt nur schwer einzuordnen. Abgesehen von der Liste der Modeartikel (V. 18–23) ist der Abschnitt im zeitlosen Sprachstil der Volksklage gehalten, insbesondere im Stil der Frauenklage über die Nöte einer Nachkriegszeit. Zusammen mit dem Drohwort gegen die Männer (3,1–15) verdeutlicht die ganze Passage den umfassenden Charakter des Gerichts. Zudem bereitet sie antithetisch den nachfolgenden Abschnitt vor: die Reinigung der Töchter Zions.

Der vierte Abschnitt (4,2–6) folgt rein syntaktischen Regeln. Der erste Satz (V. 2) wird durch den makrosyntaktischen Ausdruck »an jenem Tag« eingeleitet. Daran schließen sich zwei weitere Sätze an (V. 3–4: »Geschehen wird es«; V. 5: »Dann schafft er«). Eine neue syntaktische Einheit beendet den Abschnitt in V. 5b–6 (»Ja, über aller Herrlichkeit«).

Die Passage beschließt die zweite Szene der Ouvertüre: JHWH wird der Beschmutzung Jerusalems durch seine Anführer und deren vornehme Frauen ein Ende bereiten (V. 4). Der Abschnitt verweist dabei auf die erste Szene, die das Ende der desolaten Lage Zions in den Blick nahm: Die ärmliche Laubhütte des kleinen Rests wird durch JHWHS Erscheinen zum Schutzdach (vgl. V. 5–6 mit 1,8–9), wodurch die Verlassenheit des Landes eine positive Wendung nimmt (vgl. V. 2 mit 1,7.19). Zion kann mit ihrer Tora nur deshalb zum Mittelpunkt der Völkerwelt werden (2,3), weil JHWH sie wieder zum Ort von Reinheit und Gerechtigkeit erschafft (4,4).

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