Das Buch Jesaja

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Nach Jes 6,1 fällt die Vision der Herrlichkeit JHWHs im Jerusalemer Heiligtum, die Reinigung und Sendung des Propheten in das Todesjahr Usijas, so dass damit – bei aller Unsicherheit der unterschiedlichen Chronologien – ungefähr das Jahr 734 erreicht ist. Für die Auslegung der ersten Kapitel ist dies nicht nur ein geschichtliches Datum, sondern auch ein strukturell wichtiges Element, denn die Sendung des Propheten findet – anders als z.B. bei Jeremia und Ezechiel – nicht bereits zu Beginn des Buches, sondern erst nach dem Vorspann der Kapitel 1–5 statt. Somit folgt der Verstockungsauftrag (6,9ff.) in der Textchronologie den ersten Kapiteln nach, in denen der Prophet seinen Zuhörern die Alternative »Gericht oder Heil« in aller Deutlichkeit vor Augen geführt hat. Der Auftrag an den Gottesmann, das Herz des Volkes zu verhärten, trifft die Adressaten weder unschuldig noch unvorbereitet!

In den Anfangsjahren der Verkündigung hat sich Jesaja vor allem innenpolitisch geäußert. Dabei stellt er durchaus eine heilvolle Zukunft in Aussicht, aber nur unter der Bedingung einer wirklichen Verhaltensänderung (vgl. 1,19f.). Die Konditionierung der Heilsbotschaft bedeutet kein diplomatisches »sowohl als auch«, sondern das Ernstnehmen der individuellen und gesellschaftlichen Verantwortung, die sich aus dem personalen Verhältnis JHWHs zu seinem Volk ergibt. Dem Propheten, der selbst aus der Oberschicht stammt, ist jegliche Arroganz zutiefst zuwider: »Ja, ein Tag für JHWH Zebaot kommt über alles Stolze und Hohe, über alles Erhobene – es wird erniedrigt!« (2,12). Diese Thematik durchzieht die Kap. 1–39 und gehört zu den Grundpfeilern seiner Verkündigung und ihrer Fortschreibung (vgl. 2,12–17; 3,16–24; 5,15; 9,8; 10,12.33; 13,11.19; 14,11.13; 16,6; 23,9; 25,11; 28,1.3; 37,23).

Zumindest die Selbstberichte in der sogenannten Immanuelschrift (6,1–8,18) werden von der Mehrzahl der Ausleger dem Propheten belassen. Dass der Text nach der Überschrift (1,1) mit 6,1 zum ersten Mal eine weitere chronologische Notiz bietet, markiert eine deutliche Zäsur. Die Geschichtlichkeit des sogenannten syrisch-efraimitischen Krieges (734–732) wird in der jüngeren Forschung immer mehr bezweifelt. Dies tut aber der Tatsache keinen Abbruch, dass die Überlieferung dem Propheten Jesaja für die Zeit der zunehmenden Bedrohung durch das assyrische Reich eine besondere Rolle zuweist. Nicht um Geschichte geht es den Verfassern der Immanuelschrift, sondern um die theologische Aussage, dass wahre Sicherheit nicht auf politischen Bündnissen, sondern auf dem Vertrauen auf JHWH gründet. Genau diese Weisung (»Tora«) versiegelt der Prophet in seinen Schülern (8,16), zu denen auch die aufmerksamen Leserinnen und Leser des Jesajabuches gehören!

Wie politisch engagiert Jesaja seine prophetische Sendung verstanden hat, lässt sich gut an der Zeichenhandlung ablesen, die er während der Aufstände der philistäischen Städte unter Leitung Aschdods in den Jahren 713–711 ausführte (Jes 20,1–6). Erneut versuchten die Nachbarn, den kleinen judäischen Staat mit der Hauptstadt Jerusalem in einen Aufstand gegen Assur zu verwickeln. Dagegen protestierte der allseits bekannte Jesaja in höchst provokanter Weise: Drei Jahre lang lief er »nackt« und »barfuß«, d.h. wie ein Kriegsgefangener in Jerusalem als »Zeichen und Mahnmal« umher. Seine Botschaft war klar: Wer sich auf einen anti-assyrischen Aufstand einlässt und dabei auf militärische Unterstützung durch Ägypten hofft, wird als Kriegsgefangener enden! Diese werden in altorientalischen Reliefs – falls es sich um männliche Gefangene handelt – meist nackt dargestellt.

Ein weiteres biographisierendes Textelement stellt Jes 22 dar, wo Jesaja den völlig deplatzierten Jubel der Jerusalemer Bevölkerung scharf verurteilt. Die Szene lässt sich am besten auf das Ende der Aufstandsbewegungen im Jahre 711 beziehen. Der judäische König Hiskija, der sich noch rechtzeitig von der Rebellion seiner Nachbarn distanziert hatte, rettete sich und Jerusalem in allerletzter Minute.

Im Hintergrund der Kapitel 28–39 steht die politische Lage der Jahre 705–701, in denen Juda erneut versucht war, seine Loyalitätspflicht gegenüber Assur durch eine Allianz mit Ägypten aufzukündigen (vgl. 31,1ff.). Die Notizen über die öffentliche Tätigkeit Jesajas kulminieren in den Berichten über sein Auftreten während der Belagerung Jerusalems durch die Truppen Sanheribs im Jahre 701. Die biblische Überlieferung spricht davon, dass der Äthiopier Tirhaka in Richtung Jerusalem gezogen, woraufhin Sanherib zeitweilig von Jerusalem abgerückt sei (37,9; 2 Kön 19,9). Damit liegt jedoch eine Mischung von geschichtlichem Faktum, Halbwahrheit und Unwahrheit vor: Wahr ist, dass es zu einer Schlacht zwischen assyrischen Kräften und dem Hilfskontingent aus Ägypten bei Elteke gekommen ist. Unwahr ist, dass Tirhaka damals bereits den Königstitel trug, denn im Jahre 701 war noch sein Bruder Schebitku (Schabataka) an der Macht. Doch könnte Tirhaka als Zwanzigjähriger am Kampf mit den Assyrern teilgenommen haben. Nach der Schlacht von Elteke schlug Sanherib sein Hauptlager in Lachisch auf und belagerte damit die wichtigste Stadt auf dem Weg nach Jerusalem. Die Situation von Jerusalem und ihrem König Hiskija war daraufhin hoffnungslos. Die assyrischen Annalen sprechen davon, dass 46 Städte in Juda erobert und 205.105 Gefangene weggeführt worden seien37, während Hiskija wie ein Vogel im Käfig eingeschlossen sei. Hiskija blieb nichts anderes übrig, als sich dem Großkönig Sanherib zu beugen und die exorbitante Tributlast von 810 kg Gold und 8.100 kg Silber auf sich zu nehmen. Sowohl die assyrischen Annalen als auch die biblischen Texte stimmen darin überein, dass es in Jerusalem, im Gegensatz zu Lachisch, nicht zu einer regulären Belagerung, sondern nur zu einer Blockade der Stadt gekommen war. Dass Sanherib weder einen Pfeil in die Stadt schoss, noch einen Wall gegen sie aufschüttete, machen die biblischen Verfasser in 2 Kön 19,32; par. Jes 37,33 post factum zum Beweis für den göttlichen Schutz in allergrößter Not. Obwohl es in den assyrischen Quellen heißt, Hiskija habe den Tribut Sanherib nach Ninive hinterhergeschickt, hat das nicht etwa mit einem überstürzten Abzug des Assyrers aus Juda zu tun, sondern damit, dass er Wichtigeres zu tun hatte, als darauf zu warten, bis Hiskija die ihm auferlegte Menge an Gold und Silber unter größten Mühen zusammengebracht hatte. Nach 2 Kön 18,16 musste Hiskija die Türen des Tempels und die mit Gold und Silber überzogenen Pfosten zerschlagen lassen, um die Edelmetalle nach Assur abliefern zu können. Von dieser Tributzahlung will die Jesaja-Überlieferung nichts wissen und lässt die Notiz von 2 Kön 18,14–16 einfach aus. Im Jesajabuch rettet Hiskija sich und Jerusalem nicht durch eine Tributzahlung, sondern durch die Fürsprache des Propheten und das Gebet des frommen Königs!

Die Tatsache, dass Sanherib auch nach 701 sehr aktiv blieb und keineswegs an militärischer Kraft eingebüßt hatte, verweist den Tod von 185.000 Assyrern vor den Toren Jerusalems durch JHWHs Boten ins Reich der Legenden (2 Kön 19,35–37; Jes 37,36–38; 2 Chr 32,21–22).38 Dass noch Flavius Josephus ein Gebiet im Nordwesten Jerusalems als »Heerlager der Assyrer« bezeichnet, in dem dann auch Titus im Jahre 70 n.Chr. sein Lager aufgeschlagen habe, spricht für die Langlebigkeit der biblischen Fiktion bezüglich der Niederlage Assurs vor den Toren der Gottesstadt (vgl. 1 Makk 7,41; 2 Makk 8,19; 15,22; Sir 48,21).

Der Abzug Sanheribs wurde von den Tradenten des Jesajabuches zum historischen Beweis für den unverbrüchlichen Schutz JHWHs für Zion und Jerusalem stilisiert. Dazu passte natürlich keine Tributzahlung des frommen Königs! Allzu gern hätten die biblischen Autoren wohl auch Sanherib unter die toten Assyrer gerechnet, der es gewagt hatte, Jerusalem und JHWHs Tempel, den irdischen Wohnort des himmlischen Weltenkönigs anzugreifen. So stark ließ sich die Weltgeschichte dann aber doch nicht umschreiben! Zumindest reichte es, ihn im eigenen Tempel von seinen Söhnen ermorden zu lassen (Jes 37,38; par. 2 Kön 19,37). Dass Sanherib durch die Hand seiner Söhne getötet wurde, ist zwar historisch korrekt. Dies geschah jedoch nicht schon kurz nach 701, sondern erst im Jahre 681.

Die Jerusalemer Jesaja-Tradition muss in der langen Regierungszeit Manasses (697–642) bewahrt und gepflegt worden sein. Die Legende vom Martyrium des Propheten unter diesem König gibt davon zumindest ein indirektes Zeugnis ab. Jesajas Mahnung, Juda solle sich anti-assyrischer Koalitionen enthalten, fiel bei Manasse sicherlich auf fruchtbaren Boden, nicht aber sein ebenso grundsätzlicher Appell, sich allein auf JHWH zu verlassen. Hiskijas Sohn steuerte einen realpolitischen Kurs und unterwarf sich voll und ganz der assyrischen Großmacht. Zum Zeichen seiner Vasallentreue ließ er in beiden Tempelvorhöfen »Altäre für das ganze Heer des Himmels« bauen (2 Kön 21,5).

Nach dem Tod Assurbanipals (669–627) ging das assyrische Großreich nicht zuletzt wegen des Erstarkens der Meder (Kyaxares, 625–585) und der Neubabylonier (Nabopolassar, 626–605) sehr schnell dem Ende entgegen. Im Jahre 614 fällt die Stadt Assur und 612 die assyrische Hauptstadt Ninive durch eine Koalition der beiden aufstrebenden Mächte. In dieser Endphase des assyrischen Reiches gelang es dem judäischen König Joschija (639–609), die staatliche und kultische Unabhängigkeit Judas und Jerusalems wiederherzustellen. Er machte die Assimilationspolitik seines Großvaters Manasse rückgängig, führte eine tief greifende Kultreform durch und entfernte alle Symbole assyrischer Gottheiten aus dem Jerusalemer Tempel (2 Kön 22–23). In der modernen Forschung gehen viele Ausleger davon aus, dass in den Jahrzehnten unter Joschija die Jerusalemer Jesaja-Tradition, die unter Manasse nur unterschwellig tätig sein konnte, einen großen Wachstumsschub erhielt, und zwar unter dem Eindruck der sich erfüllenden Gerichtsansage gegen das assyrische Weltreich. In seiner einflussreichen Monographie »Die Jesaja-Worte in der Josiazeit« spricht Hermann Barth von einer »Assur-Redaktion«, die u.a. 8,23b–9,6; 10,16–19; 14,20b–27; 17,12–14; 28,23–29; 30,27–33; 31,5.8b–9; 32,1–5.15–20 umfasst. Auch Jacques Vermeylen nimmt eine redaktionelle Überarbeitung in der Zeit des Joschija an (u.a. 2,2–4; 7,15; 8,23b–9,6a; 11,1–5; 22,19–23). In der englischsprachigen Exegese wurde dieser Ansatz besonders von Martin Sweeney aufgenommen39 und auf weitere Texte ausgedehnt (Jes 7; 11; 27; 32; 36–39), so auch auf die Heimkehrtexte in 11,11–16; 19,18–25; 27,6–13. Letztere hätten dazu gedient, eine Repatriierung von Exilierten des Nordreiches zu propagieren, die 722 von Assur deportiert worden waren.

 

Die dramatischste Zeit begann mit dem plötzlichen Tod Joschijas im Jahre 609, der sich dem ägyptischen Pharao Necho II. (609–594) bei Megiddo entgegengestellt hatte. Möglicherweise war Joschija durch hochfliegende davidische Restaurationsvorstellungen dazu verleitet worden, die direkte Auseinandersetzung mit dem Ägypter zu suchen, um so die erst kürzlich gewonnene Unabhängigkeit von Assur zu verteidigen. Gegen das übermächtige ägyptische Heer hatte Joschija in der Ebene von Megiddo keine Chance. Doch die ägyptische Präsenz sollte nur von kurzer Dauer sein, denn die Truppenkontingente des Pharao konnten sich zwar bis zur Schlacht bei Karkemisch im Jahre 605 im Norden halten, wurden dann aber vom neubabylonischen Kronprinzen Nebukadnezzar am Nordlauf des Euphrat vernichtend geschlagen. So gerieten das Haus David, Jerusalem und Juda in den Strudel der Ereignisse, die im Jahre 597 zur ersten Deportation der Königsfamilie und zehn Jahre später zur Zerstörung des Tempels, der judäischen Hauptstadt und zur Exilierung der gesamten Oberschicht führen sollten. Möglicherweise sind die Hiskija-Jesaja-Erzählungen, wie sie in 2 Kön 18–20; par. Jes 36–39 vorliegen, zu dem Zweck überarbeitet worden, die Widerstandskraft des Königshauses und der Jerusalemer Bevölkerung während der Jahre zwischen der ersten Wegführung (597) und der zweiten Deportation (586) zu festigen.40

Insgesamt ist für die Kapitel 1–39 mit jesajanischen Grundbeständen zu rechnen, auch wenn diese nicht mehr versgenau zu rekonstruieren sind. Ein kritisches Minimum ist geradezu gefordert, denn jede Tradition braucht einen Kern, den sie weiterentwickelt. Dass Jesaja einen Schülerkreis um sich sammelte, der nach dessen Tod seine Predigt in schriftlicher Form weiterführte, sollte also nicht in Abrede gestellt werden. Daraus ergibt sich aber nicht ipso facto eine Jesaja-Schule, die für Kap. 40–66 verantwortlich gewesen wäre.41

Dass der historische Jesaja ursprünglich nur ein Unheilsprophet gegen die Fremdvölker und damit ein reiner Heilsprophet für das eigene Volk gewesen sei42, ist sehr unwahrscheinlich. Dieser Theorie folgend wären alle Unheilsorakel exilisch-nachexilischen Ursprungs, weil man post eventum den großen Propheten zum Warner vor der Katastrophe habe machen wollen. Hätte der historische Jesaja aber nie vor dem Ungehorsam gewarnt, wäre er doch vielmehr der Falschprophetie überführt worden! Auf den ersten Blick scheint die Dissertation von Matthijs de Jong »Isaiah among the Ancient Near Eastern Prophets« denen Recht zu geben, die den historischen Jesaja nur als Heilspropheten sehen wollen. Demnach sei der Grundbestand in Jes 6–9; 10–11; 28–32 »basically pro-state« ausgerichtet.43 Eine solche Staatsräson sei auch das Merkmal der neuassyrischen Prophetie des siebten Jahrhunderts unter Asarhaddon (681–669) und Assurbanipal (669–627) gewesen. Doch verschweigt de Jong auch nicht die Differenzen zur Prophetie Mesopotamiens: Zum einen sind dort z.B. Wehesprüche unbekannt, zum andern scheint auch Jesaja eine sehr viel größere öffentliche Rolle gespielt zu haben, als das bei den neuassyrischen Propheten der Fall war. Zudem ist die jesajanische Verkündigung, die durch das Gericht hindurch zur Heilsansage kommt, ebenfalls auf die Erhaltung des Staates ausgerichtet. Wenn Jesaja vor politischen Allianzen mit Ägypten gegen Assur warnt, dann tut er das aus tiefster Sorge um Juda und Jerusalem!

Eine weitere Kernphase der Buchentstehung liegt in exilischer Zeit, die textweltlich mit dem Trostaufruf in 40,1ff. beginnt. Schon häufig ist gesehen worden, dass Kap. 40–48 und Kap. 49–54 zwei zu unterscheidende Entitäten sind. Erstere handelt vom Geschick Israels in Babel, letztere stellt Jerusalem und Zion in den Mittelpunkt. Mit Jes 48 kommen wichtige Themen an ihr Ende, so »Babel und Kyrus« (41,1–5.25; 43,14; 44,24–45,7; 45,13; 46,11; 48,12–16a), die »früheren und späteren/neuen Dinge« (41,21–29; 42,6–9; 43,8–13; 44,6–8; 45,21; 46,8–11; 48,3–8.14–16), die »Fremdgötterpolemik« (40,19–20; 41,6–7; 42,17; 44,9–20; 45,20; 46,1–7; 47,9b–15) und die Aussagen über die »Unvergleichbarkeit JHWHs« (40,12–18.21–31; 41,21–28; 42,14–17; 45,9–13; 46,3–5; 48,1–11). Nach Jes 48 ist von all dem nichts mehr zu hören, was deutlich dafür spricht, dass sich der geschichtliche Kontext vom babylonischen Exil zum nachexilischen Jerusalem verschoben hat. Dafür spricht auch der Befehl in 48,20ff., aus Babel und Chaldäa auszuziehen und sich auf den Weg in die Heimat zu machen. Ein Spezifikum der Kapitel 49–54 (nicht 55 einschließend) betrifft den regelmäßigen Wechsel von Passagen über den Knecht (49,1–13; 50,4–11; 52,13–53,12) und Zion/Jerusalem (49,14–50,3; 51,1–52,12; 54,1–17a). Einen wichtigen Einschnitt markiert 54,17b, wo erstmalig nicht vom Knecht, sondern von den Knechten die Rede ist, was von da an bis zum Ende des Buches durchgehalten wird (56,6; 63,17; 65,8.9.13.14.15; 66,14). Diese Knechte sind die Nachkommen des Knechts (53,10) und zugleich die kostbaren Kinder Zions (54,13).

Die opinio communis, zumindest ein Teil der Kap. 40ff. seien im babylonischen Exil verfasst worden, wurde besonders von Hans Barstad und seiner Schülerin Lena-Sophia Tiemeyer in Frage gestellt.44 Beide votieren für eine Gesamtabfassung im nachexilischen Jerusalem. Aus den akkadischen Lehnworten (u.a. in 40,20; 41,25) könnten keine Schlüsse für eine Verschriftung in Babylon gezogen werden, denn wir Heutigen besäßen mit dem AT nur einen sehr kleinen Teil der einst lebendigen Sprache. Zudem beinhalte das Biblische Hebräisch insgesamt sehr viele Hapaxlegomena. Darüber hinaus seien die meisten, wenn nicht gar alle Texte in 40ff., die von einem Weg durch die Wüste sprechen, metaphorisch zu verstehen. Diese meinten also gar keinen Zug durch die terra intermedia zwischen Babel und Jerusalem.45 Mit Recht betonen beide, dass von einer totalen Verwüstung Judas keine Rede sein könne. So habe es u.a. in Mizpa, Gibea, Bethel und Gibeon Enklaven gegeben, die eine literarische Tätigkeit in Juda durchaus zugelassen hätten. Trotz dieser wichtigen Hinweise ist doch sehr auffällig, dass zentrale Themen wie Babel, Kyrus oder die Fremdgötterpolemik auf Kap. 40–48 beschränkt bleiben und die Perspektive nach 49 eindeutig zu Zion/Jerusalem wechselt. Dass ein Kern von Kap. 40–48 im babylonischen Exil entstanden ist, von exilierten Schreibern (Leviten?) in die Heimat mitgebracht und in Jerusalem fortgeschrieben wurde, bleibt die wahrscheinlichste Annahme, die auch in diesem Lehrbuch vertreten wird.

Die letzte Kernphase liegt in der Zeit der nachexilischen Restauration in der zweiten Hälfte des 5. Jh., in die der Wiederaufbau und die Wiedereinweihung des Tempels (520–515) sowie die national-religiösen Bemühungen unter Esra und Nehemia fallen. Hierzu passt die redaktionsgeschichtliche Mehrheitsmeinung, dass Jes 60–62 den ältesten Kern des letzten Großteils des Jesajabuches bilden. Die Schlagworte »Opfer« (60,7), »Mauern und Tore« (60,10f.18; 62,6), »mein heiliger Ort« ([=Tempel] 60,13; 62,9), »Priester« (61,6) weisen auf eine Zeit hin, in der der Jerusalemer Opferkult wieder in Gang gekommen ist und man erwartet, dass sich die Völkerwelt am Aufbauprojekt mit reichen Gaben beteiligen werde. Zugleich ist die Zukunftsvision des göttlichen Lichts über Zion/Jerusalem eng verbunden mit der Hoffnung auf eine gerechte Ordnung (60,17b.21; 61,1–3.8.10f.; 62,1f.). Um dieses Zentrum legen sich drei sukzessiv entstandene Rahmen, die mit der Ausweitung der Tempel-Bürgergemeinde auf Fremde und Völker (56,1–8; 66,18–24), mit der Trennung zwischen Gerechten und Frevlern (56,9–58,14; 65,1–66,17) und kollektiven Klagen über das bisherige Ausbleiben des göttlichen Heils (59; 63,1–64,11) zu tun haben. Die Inklusion von Gerechten aus den Völkern und die Exklusion von Frevlern aus dem eigenen Volk sind zwei Seiten einer Medaille! Nach Paul Hanson geht diese Spaltung im nachexilischen Israel zwischen Frommen und Frevlern auf prophetisch-eschatologische Gruppen zurück, die einen erbitterten Kampf gegen die priesterliche Tempelaristokratie führten und im Zuge dessen immer stärker an den Rand gedrängt wurden.46 Diese radikale Kontrastierung ist zu schematisch, denn die Trägerkreise im Jesajabuch lehnen Tempel, Opfer und Priesterschaft keineswegs grundsätzlich ab. So stellt Bruce Schramm die entscheidende Frage, wie denn eine tritojesajanische Redaktion so erfolgreich am Gesamtbuch Jesaja mitgearbeitet haben könne, wenn es sich dabei nur um eine marginalisierte Gruppe gehandelt hätte!47

Mit dem Ende der persischen Periode wird auch das Jesajabuch in seinen tragenden Teilkompositionen zum Abschluss gekommen sein, denn vom Aufkommen Alexanders des Großen sind keine eindeutigen Spuren zu entdecken.48 Diese Schlussphase der Genese des Jesajabuches liegt bereits nahe am Ende des Traditionsprozesses der Prophetenbücher überhaupt.49 Da im Lob der Väter (Sir 48f.) neben Jesaja (48,23–25), Jeremia (49,7) und Ezechiel (49,8) auch das Dodekapropheton (49,1050) genannt wird, muss der Kanon der Schriftpropheten um die Mitte bzw. am Ende des 3. Jh. festgestanden haben.

4.Die Texttraditionen des Jesajabuches 51

Der massoretische Text, auf den sich die Kommentierung in diesem Lehrbuch bezieht, stützt sich auf den Codex Leningradensis aus dem Jahre 1008/1009 n.Chr.52 Zudem liegt mit dem Aleppo-Codex aus dem Jahre 895 n.Chr. ein ebenfalls äußerst wichtiger hebräischer Textzeuge vor.53 Beide Texte stammen aus dem Hause des Gelehrtengeschlechts Ben Ascher aus Tiberias am See von Genezareth und unterscheiden sich vor allem in Bezug auf die Vokalisierung.

Demgegenüber bieten die beiden Jesajarollen aus Qumran natürlich noch den unvokalisierten Text. Die erste Rolle (1QJesa) aus der Mitte des 2. Jh. v.Chr. hat den gesamten Jesajatext in ausgesprochen hoher Qualität bewahrt. Die zweite Rolle (1QJesb) vom Anfang des 1. Jh. v.Chr. ist dagegen fragmentarischer erhalten geblieben: Sie beginnt mit Jes 7,22, es fehlen aber u.a. Jes 9 und 11 und erst für die zweite Hälfte des Jesajabuches ist sie vollständiger. Obschon sie jünger ist als die erste Rolle, bietet sie einen archaisierenden hebräischen Text, hat schwierige Lesarten bewahrt und steht insgesamt dem massoretischen Text näher.54 Neben diesen beiden Jesajarollen aus der ersten Höhle sind besonders in der vierten (4Q) eine große Anzahl von Jesajafragmenten gefunden worden, die etwa von 100 v.Chr. bis 50 n.Chr. datieren.55 Sie bestätigen das Bild einer reichen Überlieferung, die am Beginn der Zeitenwende noch keinen einheitlichen hebräischen Text des Jesajabuches kannte. Der Konsonantenbestand des späteren mittelalterlichen massoretischen Textes ist in der Gruppe der proto-massoretischen Qumrantexte am stärksten vertreten (so auch 1QJesb). Eine viel kleinere Gruppe bietet eine zum Teil abweichende Orthographie und Morphologie, die anscheinend im Schreibermilieu von Qumran gepflegt wurden (dazu gehört 1 QJesa). Die Jesajafragmente aus 4Q nehmen hier eine Zwischenstellung ein. Es handelt sich aber bei keinem dieser Textzeugen um eine separate, eigenständige Rezension, denn dazu ist der überlieferte Textbestand – trotz aller Differenzen – viel zu einheitlich.

Von den alten Versionen des Jesajabuches ist die der Septuaginta (LXX)56, der griechischen Übersetzung, von besonderer Bedeutung, nicht zuletzt wegen ihrer Rezeption im Neuen Testament. Die hebräische Vorlage der JesLXX wird nicht wesentlich anders gelautet haben als jene des JesMT. Doch die griechische Übersetzung hatte nicht nur das Ziel, gutes Koine-Griechisch zu schreiben und unklare Passagen zu verdeutlichen (was nicht immer gelang, denn manchmal verschlimmbesserte sie den Text), sondern verfolgte auch ein aktualisierendes Interesse, was geschichtliche Umstände, Rechtsbräuche und theologische Ansichten angeht.57 Diese Freiheit der Übersetzung kann Worte, Satzteile und auch ganze Sätze betreffen, was bei manchen Passagen auf ein ganz neues Textverständnis hinausläuft, wie es danach in den Targumim der Fall sein wird. Anders als im hebräischen Text, wo dem Gottesknecht ein Grab bei den frevlerischen Reichen zugeteilt wird, verspricht JHWH in der LXX-Version, die Bösen anstelle des Gerechten dem Tod preiszugeben: »Und ich werde die Bösen anstelle seines Grabes und die Reichen anstelle seines Todes geben« (53,9aLXX). Der griechische Übersetzer präsentiert Gott nicht als gewalttätig gegenüber seinem Knecht, wie dies im hebräischen Text der Fall ist: »JHWH aber hatte es gefallen, ihn zu zermalmen, ließ erkranken« (53,10aMT). Die LXX stellt ihn vielmehr in positivem Licht dar: »Aber der Herr will ihn reinigen von dem Unglücksschlag« (53,10aLXX). In textkritischer Hinsicht kommt JesLXX besonders dann ein großes Gewicht zu, wenn die griechische Lesart mit Bezeugungen aus Qumran gegen JesMT übereinstimmt.58

 

Der Targum Jonathan stellt die aramäische Wiedergabe der Prophetenbücher dar (gegenüber Targum Onkelos für den Pentateuch). Targumim wurden im Synagogengottesdienst gebraucht, um den vorgetragenen hebräischen Bibeltext dem gewöhnlichen Volk verständlich zu machen. Der Targum Jonathan ist in Palästina entstanden, wurde aber während des vierten oder fünften Jahrhunderts n.Chr. in Babylon einer stark vereinheitlichenden Redaktion unterzogen. Die Datierung des Targums bleibt sehr schwierig. Man kann das Material zwar bis zu einem gewissen Grad der tannaitischen oder amoräischen Periode (vor bzw. nach dem Abschluss der Mischna ca. 200 n.Chr.) zurechnen – was die erste Periode betrifft, sogar einer Zeit vor oder nach dem Bar Kochba Aufstand (135 n.Chr.) – doch lassen sich keine literarhistorischen Schichten abheben. Der Targum stellt eher ein jahrhundertelang gepflegtes jüdisches Ethos dar, als dass es das Schriftprodukt einer historischen Epoche wäre.59 Er vergegenwärtigt die Wirkungsgeschichte Jesajas im frührabbinischen Judentum nach der Verwüstung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr. Jesajanische Themen wie Gericht und Heil, Tempelkult und der Gesalbte werden auf ganz eigene Weise interpretiert, um die erlebte und erlittene Geschichte im Lichte des weiterhin gültigen Gotteswortes zu deuten. So stellt z.B. Jes 53Tg eine explizite Identifikation des Knechts mit dem »Messias« her, dem fast alle Leidensaspekte fehlen, auf dem dafür aber die Hoffnung ruht, er werde Israel aus der Unterdrückung der Völker erretten und für die Wiedererrichtung des zerstörten Heiligtums sorgen.

Die syrische Übersetzung, die Peschitta, stammt aus der frühchristlichen syrischen Kirche und wird um rund 300 n.Chr. datiert. Ihre Bedeutung liegt in der Tatsache, dass sie auf einer proto-massoretischen Textform basiert, allerlei Beziehungen zum Targum aufweist und zum Teil rabbinische Erklärungen verarbeitet. Besonders dort, wo sie zusammen mit einer oder mehreren der alten Übersetzungen vom MT abweicht, ist sie textkritisch beachtenswert.

In der lateinischen Übersetzung, der Vulgata (zwischen 391 und 405 in Bethlehem verfasst), folgt Hieronymus grundsätzlich dem MT gegen LXX, weicht aber auch in vielen Fällen davon ab. Das hat mehrere Gründe: die teilweise größere Deutlichkeit der LXX, rabbinische Erklärungen, christliche Interpretationen und alte Handschriften, zu denen er Zugang hatte. Man konsultiert diese Übersetzung des Buches Jesaja (392–393) am besten zusammen mit dem Jesaja-Kommentar des Hieronymus, den er im Jahre 410 vollendete.60

Schlussendlich hat Origenes in seiner Hexapla (ca. 245 n.Chr.) Fragmente aus drei griechischen Übersetzungen aus dem dritten Jahrhundert n.Chr. bewahrt, die für die Textanalyse des Jesajabuches von Bedeutung sind.61 Sie stammen von Theodotion (ca. 100 n.Chr. aus der Schule Hillels), Aquila (ca. 125 n.Chr. aus der Schule Aqibas) und Symmachus (ca. 200 n.Chr. aus der Schule von Jehuda ha-Nasi). Alle drei Übersetzer gehörten also dem Milieu jüdischer Gelehrter an, wobei bei Symmachus auch ein jüdisch-christlicher Einfluss (Ebioniten) spürbar ist. Sie stellten sich auf unterschiedliche Weise die Aufgabe, JesLXX besser an JesMT anzupassen. So versucht Theodotion, der hebräischen Wortfolge möglichst nahe zu kommen, Aquila arbeitet stark ideolektisch (konkordanter Wortschatz), während Symmachus darauf aus ist, die Treue gegenüber dem MT mit gutem Koine-Griechisch zu kombinieren.

5.Aktuelle entstehungsgeschichtliche Modelle

Die Hypothesen, welche die Entstehung des Gesamtbuches zu fassen suchen, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe vertritt ein Kontinuitätsmodell: Demzufolge habe Deuterojesaja bewusst auf Protojesaja aufgebaut, den ersten Teil redigiert und als Einleitung seinen eigenen Kapiteln vorangestellt. Dies könne man u.a. daran erkennen, wie stark Jes 6 auf 40,1–8 eingewirkt habe. Aus den engen Querbezügen müsse man folgern, dass Deuterojesaja sein eigenes Werk als kongeniale Fortsetzung der jesajanischen Verkündigung angesehen habe bzw. dass er dessen Jerusalemer Worttradition seiner eigenen Predigt vom Ende des babylonischen Exils als Prolegomenon voranstellte.62 Diesen Ansatz von Hugh Williamson führt sein Schüler Jacob Stromberg noch einen Schritt weiter: Tritojesaja habe diese Art der Rezeption und Redaktion von Deuterojesaja fortgesetzt und könne somit als Leser und Redaktor des ganzen Jesajabuches gelten.63 Dies sucht er an Passagen wie 1,27–31; 6,13; 4,2–6; 11,10; 36–39; 48,22; 54,17b nachzuweisen. Da ergänzende Fortschreibungen in der Antike nicht in eine bestehende Schriftrolle eingetragen wurden, habe Tritojesaja seine eigenen Kapitel zusammen mit den Überarbeitungen von Kap. 1–55 bei einer notwendig gewordenen Neuanfertigung der Jesajarolle angefügt.64

Die zweite Gruppe von Forschern favorisiert ein Kombinationsmodell: Danach wäre das Buch durch die redaktionelle Zusammenfügung ehemals relativ unabhängiger Großteile entstanden. Zu den Hauptvertretern dieser Richtung gehören Odil Hannes Steck und Jacques Vermeylen. Letzterer geht von einer protojesajanischen Sammlung aus, die um das Jahr 480 eine vergleichbare Struktur aufwies wie das Ezechiel- und das Jeremiabuch (in der LXX-Fassung): Prophetische Orakel gegen Juda und Jerusalem (Kap. 1–12), Gerichtsworte gegen die Völker (Kap. 13–27) und Verheißungen für das Gottesvolk (Kap. 28–35). Die Kapitel 36–39 seien ein historisches Supplement (vgl. 2 Kön 18–20), das die Sammlung beschlossen habe.65 Für Jes 40–55 geht Vermeylen von einer relativen Geschlossenheit dieser exilisch-nachexilischen Komposition aus, die nach 480 mit der protojesajanischen Sammlung verbunden worden sei. Für den letzten Teil des Jesajabuches verzichtet er auf das Postulat eines Einzelpropheten »Tritojesaja«, sondern geht für diese Kapitel gänzlich von schriftgelehrter Prophetie aus. Der Kern der Aussage von Kap. 60–62 beziehe sich nicht auf den Tempelwiederaufbau, sondern auf die Errichtung der Jerusalemer Stadtmauern (60,10; 62,6), was gut in die Zeit Nehemias passe. Die Bezüge zielten nicht nur auf 40ff. ab, sondern beträfen schon die vorderen Kapitel. So wäre 56,9–62,12 Schritt für Schritt mit Blick auf 1,2–2,5 verfasst worden. Eine großjesajanische Redaktion sei nach der Zeit Nehemias für die jetzt vorliegende Endgestalt des gesamten Buches verantwortlich. In vielzähligen Detailstudien kommt Steck zu analogen Ergebnissen. Auch er hält die tritojesajanischen Kapitel für reine Fortschreibungsprophetie, was bei Kap. 60–62 mit den Rückverweisen auf Jes 40ff. besonders deutlich zu Tage trete. Den Zusammenschluss mit der protojesajanischen Sammlung setzt Steck aber deutlich später als Vermeylen an. Dieser sei erst im Zuge einer sogenannten »Heimkehr-Redaktion« erfolgt (vgl. 11,11–16; 27,[12].13; 62,10–12), in einer frühen Phase der Diadochenkämpfe nach dem Tod Alexanders des Großen (323). Als Brückentext zwischen den beiden Großteilen sei Jes 35 eigens für die Gesamtrolle verfasst worden.66 In der Zeit der Konsolidierung unter den Ptolemäern (ca. 270) seien noch kleinere Ergänzungen eingefügt worden, die jedoch nicht mehr strukturbildend gewirkt hätten (vgl. 19,18–25; 25,6–8).