Zeichen und Geist

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3. Darstellung und Offenbarung
3.1. Semiotik und Theologie
3.1.1. Zeichen und Offenbarung

Religiöse Rede – das Sprechen über Gott – ist stets symbolische Rede, Rede im übertragenen Sinn.1 Symbole sollen die Paradoxie auflösen, mit dem Begrenzten der menschlichen Sprache das Unbegrenzte des göttlichen Seins vorstellbar zu machen. Es ist das Unaussprechliche, das ausgesprochen wird. Das kann nur in „Symbolen“ geschehen,2 die aus der menschlichen Erfahrungswelt entnommen werden und in einer Beziehung zu einer Wesenseigenschaft Gottes stehen. Irdische und himmlische Welt berühren sich in der Verwendung dieser Symbole. Etymologisch gesehen fügen sich im „Symbol“ buchstäblich beide Welten zu einer Sinnwelt zusammen (συμβάλλειν – wörtlich: „zusammenwerfen“).3 Der Begriff „Symbol“ kann zudem in dem allgemeineren Begriff des „Zeichens“ aufgehen (verbunden mit dem Begriff συμβάλλεσθαι).4 Zeichen sind – wie die semiotische Konzeption von Peirce veranschaulicht – stellvertretende und bedeutungstragende Größen, die auf einen Gegenstand der Wirklichkeit verweisen und ihn inhaltlich eingrenzen. Religiöse Symbole sind Zeichen.

Die Bibel bietet eine Fülle von sprachlichen Zeichen – von Metaphern und Vergleichen –, um Wesen und Handeln Gottes ins Wort zu bringen.5 Mit ihrer Hilfe sprechen Menschen in erinnerten Geschichten über Gott und wenden sich im Gebet und Lobpreis an ihn. Die menschliche Seite bildet aber nur die Antwort auf den göttlichen Ruf, denn nach dem biblischen Gottesbild zeigt sich Gott als ein sprechender und somit zugleich ansprechbarer Gott.6 Die biblischen Geschichten über den Gott JHWH und sein Volk konstituieren die Geschichte Israels: JHWH erwählt sein Volk, führt, richtet und rettet es. Er spricht sein Volk an. Der Weg Israels durch die Zeiten ist der Weg Gottes mit Israel. Den Wesenskern Gottes bilden sein Schöpfersein und sein Schöpferhandeln. Es ist Gottes Wunsch, schöpferisch zu wirken, um sich dadurch selbst mitzuteilen. Die Erwählung Israels als Gottesvolk ist als ein solch schöpferischer Akt zu verstehen. Diese Schöpferkraft wird in der Berufung des Gottessohnes neu wirksam, der „sich selbst entäußerte“ (vgl. Phil 2,7) – das heißt die himmlische Welt verlässt, um in die irdische einzugehen, so dass dadurch beide Sphären miteinander verbunden werden. Sprechendes Zeugnis für das Schöpfersein Gottes ist der Gottesname „JHWH“. Seine Deutung wird bekanntermaßen in Ex 3,14a berichtet. Auch hier ist es Gott selbst, der für Mose im brennenden Dornbusch sichtbar wird und sich ihm anschließend mit seinem Namen hörbar zu erkennen gibt. JHWH macht sich mit den beiden wichtigsten Sinnen des Menschen sinnenhaft wahrnehmbar und damit sinnhaft erfahrbar. „Ich bin der ‚Ich-bin-da‘“ bzw. besser die futurische Form: „Ich werde sein, der ich sein werde“7 (vgl. Ex 3,14a) lautet die paradoxe Formulierung des Gottesnamens, die Gott dem Mose gegenüber ausspricht. Die Bezeichnung referiert auf die hebräische Wurzel היה / „hjh“ („sein“, „werden“, „sich erweisen“).8 Gott offenbart sich damit einerseits als der Da-Seiende – der Urgrund des Lebens und des Lebendigen – sowie als der Mit-Seiende für sein erwähltes Volk, was auch zukünftiges Heilshandeln umfasst, und andererseits zugleich als der Anders-Seiende, der sich dem menschlichen Begreifen und Denken entzieht.9 Es bleibt in diesem Offenbarungsgeschehen bei einem gleichzeitigen Ineinander von Offenbaren und Verhüllen, von Immanenz und Transzendenz. Gottes „Gottsein“ besteht in seinem geheimnisvollen Sein. Gott teilt sich mit und verbirgt sich gleichzeitig, da nur er allein sich selbst kennt.10 Der Begriff des Lebendigen verweist auf die Schöpfermacht Gottes, denn „Schöpfen“ heißt: „etwas ins Leben rufen“. In diesem Schöpfersein Gottes manifestiert sich ein dynamischer, evolutiver Aspekt: Gott begründet immer neu das Sein der Welt – das Leben –, weil er selbst der Inbegriff des Seins ist.11 „Ins Leben rufen“ bedeutet aber zugleich, sich mitzuteilen. Die schöpferische Fähigkeit steht allein JHWH zu. Sein Name reflektiert seinen Wesenskern. Darin gibt er sich den Menschen zu erkennen. Er teilt sich selbst den Menschen in Zeichen mit. Die biblischen Geschichten sind Offenbarungsgeschichte.12 Treffend formuliert Gesche Linde diesen Zusammenhang: „Zeichen sind darum nicht so sehr Erkenntnishilfe als vielmehr Teil einer dynamischen Realität, in der der Mensch eingebettet ist: Sie bilden gewissermaßen diejenigen Koordinaten, an denen die Welt für Gott durchlässig wird oder Gott die Welt für sich durchlässig macht.“13

Für den biblischen Gebrauch von Zeichen gilt nun allgemein, dass sich die Ebene der formal-sensuellen Erfahrung von Zeichen mit der Ebene der material-kognitiven Erkenntnis durch Zeichen verbindet.14 Im Einzelnen bestimmen drei Merkmale das Verhältnis beider Funktionsebenen:15 Erstens kommen Zeichen in den biblischen Texten immer dann vor, wenn göttliches Handeln dem Menschen als einsichtig vermittelt werden soll. Dann kann man sogar so weit gehen, die repräsentative wie die hermeneutische Funktion von Zeichen als austauschbare Größen zu sehen. Zweitens machen Zeichen offenbarungstheologische Zusammenhänge im wörtlichen und dann im übertragenen Sinne „begreiflich“. Die Bibel wählt optische wie akustische Zeichen als Zeichenkörper. Sinnlich zugängliche Zeichen haben den Vorteil, dass sie universell wirken und zudem kommunikativ zu vermitteln sind. Somit lassen sich Zeichen drittens auch tradieren, da in ihnen überzeitlich gültige, unmittelbare Gotteserfahrungen präsent sind. Diese Aussagen über Gott stellen aber erinnerte Zeichen des Kollektivs der Glaubenden dar und erschließen sich für das Individuum im Tradierungsprozess daher nur mittelbar. Zeichen in der Bibel sind also speziell zu fassen; sie sind als „Offenbarungszeichen“16 zu werten: Sie erschließen Gottes Sein und Tun. Den biblischen Kontext zeichnen zwei Momente aus, die die göttliche und die menschliche Perspektive widerspiegeln.17 Zum ersten handelt es sich um eine Vielzahl an zeichenhaften Elementen, die für den einen Gott stehen, so dass im Gottesbild die lebendige Schöpferkraft wie die unergründliche Tiefe JHWHs anschaulich wird – Gott lässt sich nicht vollständig erfassen –, und zum zweiten unterliegt die verwendete Bildsprache – wie bereits angedeutet – selbst wieder einem Tradierungsprozess, der den Anspruch an die nachfolgenden Generationen erhebt, den in den Sprachzeichen aufbewahrten Gotteserfahrungen Glauben zu schenken, auch wenn sie ihnen nicht selbst widerfahren sind.

Somit ist religiöses Sprechen essentiell von Zeichenvermittlung abhängig. Daher kann auch das Zeichen zu Recht als Fundamentalbegriff der Theologie gelten. Es bietet sich für die Beschäftigung mit biblischen Texten grundsätzlich an, den Zeichenbegriff auch ins Zentrum einer exegetischen Untersuchung zu stellen. Ein semiotischer Zugang kann als neue Hermeneutik dienen, um den Blick zu schärfen, das schöpferische Offenbarungsgeschehen neu zu betrachten. Dabei ist die semiotische Konzeption von Charles Sanders („Santiago“) Peirce im Besonderen dafür geeignet. Die Erschließungsfunktion der Peirce’ schen Semiotik korrespondiert nämlich in wesentlichen Aspekten mit der Offenbarungsvorstellung des jüdisch-christlichen Gottesbildes.18 Der erwähnte dynamische Aspekt des Schöpfungs- und Offenbarungshandelns Gottes kann man gewinnbringend mit der Zeichenlehre in Verbindung bringen. Das Thema des dynamischen Momentes ist von zwei Seiten näher einzugrenzen – von Seiten Gottes und von Seiten des Menschen.19 Aus göttlicher Perspektive lässt sich sagen: Wenn man die semiotische Deutung als universale Erkenntnislehre akzeptiert, dann kann man Offenbarung als Prozess der Begriffs- und Bedeutungsbildung definieren. Folglich kann das Offenbarend-Schöpferische Gottes zeichentheoretisch in der triadischen Struktur angemessen abgebildet werden.20 Das offenbarende und schöpferische Handeln Gottes kommt darin in elementarer Weise zur Sprache. Konkret heißt das: Gott setzt also ein Offenbarungszeichen und gibt ihm eine Bedeutung bei, die ein Erschließen Gottes möglich macht.21 Die triadische, dynamisch-relationale Deutung des Offenbarungshandelns Gottes in der Semiotik findet ihre Analogie und Begründung zuletzt auch in der trinitarischen Vorstellung Gottes. Aus menschlicher Perspektive besteht folgender Zusammenhang: Im dreistelligen Zeichenereignis – der Semiose – als Erkenntnisvorgang drückt sich das Bestreben des Menschen aus, seinerseits die göttliche Sphäre in menschlich nachvollziehbarer Weise zu erfassen. Dies geschieht im Erkennen des Offenbarungszeichens als „Darstellungsmittel“. Gott wird dadurch dezidiert als „Objekt“ der Erkenntnis des Menschen bestimmt. Das Zeichen verweist zum einen auf den Gegenstand und löst zum anderen ein Netz von Interpretationen aus, die sich gegenseitig bestätigen oder ablehnen, ergänzen und verändern können. Die Theologie nimmt also die philosophische Fundamentalwissenschaft Semiotik auf; Theologie wird dadurch als „Theosemiotik“ definiert, um die gelungene Wortprägung von Michael L. Raposa zu verwenden.22 Die relational interpretierte Dynamik JHWHs in seiner Offenbarungs- und damit Schöpfungstätigkeit korrespondiert so mit der relational strukturierten Dynamik des Erschließungsprozesses im semiotischen Konzept von Peirce.23 In der folgenden Darstellung soll der semiotisch-exegetische Ansatz der vorliegenden Studie vertiefend ausgeführt werden.

3.1.2. Dynamik und Offenbarung

Das offenbarende und schöpferische Wirken Gottes kann also semiotisch neu interpretiert werden. Das dynamisch-relationale Moment der Zeichentheorie von Peirce bildet das entscheidende tertium comparationis für einen solchen hermeneutischen Ansatz. Er lässt eine Beschäftigung mit der Peirce’ schen Semiotik im Rahmen einer bibelwissenschaftlichen Analyse und Interpretation sinnvoll erscheinen und neue Ergebnisse im Hinblick auf eine Akzentuierung der Offenbarungs- wie der Schöpfungstheologie erwarten. Auf diesen Punkt ist im Folgenden näher einzugehen. Drei wesentliche Aspekte gehören zum Aspekt der „Dynamik“, die alle dem biblischen Offenbarungsverständnis zugeordnet werden können: Das semiotische Konzept von Peirce ist ontologisch ausgerichtet, triadisch – also dynamisch (in phänomenologisch-semiotischer Ausprägung) – bestimmt und relationenlogisch geordnet.

 

Erstens: Peirce bestimmt seine Triade als ontische Gegebenheit. Das hat insbesondere für das externe, reale Objekt zu gelten, das den Fixpunkt der semiotischen Epistemologie bildet. Ziel ist die Erschließung des wahren Seins dieses Gegenstandes. Auf es allein ist das Interesse gerichtet.

Zweitens: Peirce entfaltet seine Erkenntnislehre in einer triadischen Struktur kategorialer Aspekte. Sie stellen den Erkenntnisvorgang in umfassender Weise dar. Übertragen auf den offenbarungstheologischen Zusammenhang bedeutet das: Die triadische Struktur reflektiert das Offenbarungsgeschehen zwischen Gott und Mensch, wobei Gott zum Objekt der Erkenntnis wird. Das Offenbarungszeichen, das sich auf Gott bezieht, wird mit einer deutenden Aussage verknüpft. Es geht um die Dynamik der Selbsterschließung. Bemerkenswert an Peirces Theorie ist die Tatsache, dass sie dem Objekt eine dynamisch-evolutive Qualität zuschreibt. Das Objekt übt einen Zwang zur Selbstmitteilung aus. Daher initiiert es den Begriffs- und Bedeutungsbildungsprozess. Die Aussagen von Peirce sind in dieser Hinsicht frappierend eindeutig, wie in der voraufgegangenen Analyse und Interpretation der Kernstellen aus seinem Werk aufgezeigt werden konnte. Erinnert sei nur an folgenden markanten Satz: „[The dynamical object – S.E.] means something forced upon the mind in perception, but including more than perception reveals.“1 Die Aussage ist deutlich: Das dynamische Objekt wird zeichenhaft erfasst, und zwar im unmittelbaren Objekt. Darin geht das dynamische Objekt nicht ganz auf, so dass die Zeichen- und Bedeutungsgenerierung fortgesetzt werden muss, um genauere Erkenntnis zu erhalten. Auch in dieser voranschreitenden Erkenntnisbedürftigkeit mit dem Ziel der „letzten Meinung“ („final opinion“) zeigt sich eine Analogie zum ambivalenten biblischen Offenbarungsbegriff des gleichzeitigen Offenlegens und Verbergens sowie der teleologisch-eschatologischen Struktur. „Offenbarung“ und „Telos“ sind die zwei entscheidenden Punkte. Im obenstehenden Zitat fällt sogar noch expressis verbis der Begriff „Offenbarung“ („reveals“! – vgl. „revelation“).

Drittens: Die Relationalität verbindet die drei Universalbegriffe zu einer festen Struktur und sorgt somit für Einheit. Es handelt sich um einen Erkenntnisprozess und daher aus theologischer Perspektive um einen Offenbarungsvorgang, der das Objekt erfahrbar werden lässt.

Das Moment der Dynamik – die (Selbst-) Erschließungsfunktion, die als Ruf Gottes im Erkenntnisprozess transparent wird, – und das Moment der Relationalität – die geistige Verbindung und Vereinheitlichung, die der Mensch im Bedeutungsbildungsprozess als Antwort vornehmen muss, – führen zu Gott zurück und lassen Aussagen zu seiner Wesenheit zu. Das ist das ontologische Moment. Aufgrund der erwähnten Relationalität der drei Komponenten verbinden sich alle diese Teile zu einem untrennbaren erkenntnistheoretischen bzw. offenbarungs- wie schöpfungstheologischen Ganzen.

3.1.3. Offenbarung und Geist

Das Offenbarungsgeschehen zwischen Gott und Mensch ist daher dem Kommunikationsgeschehen zwischen Mensch und Mensch analog zu begreifen. Gott wirkt in und mit seinem Geist. Der Geist ist die Kraft, die sich dem Menschen mitteilt. Der kommunikativ-hermeneutische Akt der Offenbarung vollzieht sich in der Wirkung des Gottesgeistes, der sich – in elementarisierender Betrachtung – dem Menschen im Zeichen mitteilt. Der Geist ist Gabe Gottes – Ruf – und Aufgabe – Antwort – des Menschen. Die dialogische Struktur – die Dialogizität – kommt in diesem Zusammenhang zum Ausdruck. Die Rede vom Geist Gottes trifft den Kern des christlichen Offenbarungsverständnisses. In ihm zeigt sich Gott als lebendiger, wirkmächtiger und menschenzugewandter Gott.

Der Geist Gottes hat also hermeneutische Funktion. Er trifft den menschlichen Geist und erschließt das göttliche Sein als der menschlichen Vernunft einsichtig. Offenbarung geschieht im Geist, und der Geist erscheint im Zeichen. Damit verbindet sich die göttliche Welt mit der menschlichen Welt. Das verbindende Moment findet seine Entsprechung im Peirce’schen Schlüsselbegriff „mediation“ – „Vermittlung“ – zwischen den einzelnen Kategorien. Ferner zeigt sich der Aspekt der Verbundenheit in Peirces Verständnis der Relationalität, die die semiotische Triade als dynamische Struktur auszeichnet. Das Thema „Geist“ reflektiert das dynamisch-relationale Moment der Peirce‘ schen Semiotik, das heißt, Dynamik („Erschließung“) und Relation („Verbindung“) gehören zusammen.

3.2. Theologie und Semiotik
3.2.1. Geist und Vollmacht

Die semiotischen Aspekte lassen sich also mit theologischen Momenten im Hinblick auf die Geistthematik in Verbindung bringen, so dass sich eine Anwendung auf eine Evangelienschrift anbietet. Dabei zeigt das älteste der vier kanonischen Evangelien ein elementares und profiliertes Verständnis der Wirkmacht des Gottesgeistes. Somit erscheint dieses Evangelium in besonderer Weise dafür geeignet, eine Interpretation anhand der semiotischen Hermeneutik zu erproben. Das Markusevangelium zeichnet sich dadurch aus, dass es die Geistaussagen als Zeichen der Vollmacht Jesu interpretiert. Diese Verbindung ist wesentlich für die Deutung des markinischen Geistbegriffs. Die programmatische Schlüsselszene für die Darstellung des Vollmachtsbegriffs ist Mk 1,21–28.1

Die Szene schildert im prägnanten – typisch markinischen – Stil das erste Auftreten Jesu. Die Handlung spielt an einem Sabbat in der Synagoge von Kafarnaum (vgl. V. 21). Mit Mk 1,21–28 liegt ein „narratives Diptychon“ vor, denn diese Szene bietet einen zweifachen Blick auf Jesus.2 Dieser tritt zum einen als Lehrer auf (vgl. Mk 1,21–22) und setzt sich damit gleich zu Beginn des Evangeliums der Gefahr des Widerspruchs und des Widerstands der Schriftgelehrten aus. Es deutet sich bereits hier die den weiteren Lebensweg Jesu und damit den folgenden Handlungsverlauf des Evangeliums zutiefst prägende Auseinandersetzung zwischen Jesus und der religiösen Elite bzw. den religiösen Gruppen Israels an, die in Passion und Tod Jesu gipfelt. Diese an die Personen gebundene Beobachtung lässt sich auch topografisch bestätigen: Galiläa – die religiöse Peripherie – ist der Ort der Wirksamkeit Jesu, Jerusalem – das jüdische Kultzentrum, mit dem die Schriftgelehrten (vgl. Mk 3,22) sowie die weiteren religiösen Autoritäten verbunden sind (vgl. Mk 14–15), – wird der Ort des Leidens und Sterbens Jesu sein. Wie bereits in der voraufgegangenen Taufszene beim Herabsteigen des Geistes (vgl. Mk 1,10), verschränken sich daher Erde (Galiläa) und Himmel (Jerusalem, Tempel) markant auch in dieser Szene. Darüber hinaus zeigt sich der Mann aus Nazaret zugleich als machtvoller Exorzist, der die Herrschaft der Dämonen bricht (vgl. Mk 1,23–28, im Kern die Verse 23–26). Das in Jesu Predigt verkündigte Gottesreich – die βασιλεία τοῦ θεοῦ – führt nicht nur zu einer geistigen, sondern auch zu einer körperlichen Befreiung. Damit ist das Leben in all seinen Dimensionen – also nach jüdischer Vorstellung als leibseelische Einheit – durch das Evangelium angesprochen.

Ein doppelter Kontrast ist in der behandelten Szene festzustellen: Jesu Vollmachtsanspruch in seiner Lehre steht der Lehrbefugnis der Schriftgelehrten gegenüber; seine in seinen Taten sich manifestierende Vollmacht widersetzt sich dem Machtanspruch der Dämonen.3 Die Dämonen kann Jesus offenkundig überwinden – er kann diese satanischen Kräfte binden (vgl. auch Mk 3,27) –, während umgekehrt die religiösen Autoritäten des Judentums, als deren Stellvertreter die Schriftgelehrten in der vorliegenden Perikope fungieren, Jesus zu Fall bringen werden: Er wird für seine vollmächtige Botschaft in den Tod gehen (vgl. die drei Leidensankündigungen Mk 8,31–33; 9,30–32; 10,32–34). Die widerstreitenden Vollmachts- bzw. Machtansprüche spiegeln sich in der Demut Jesu und dem Hochmut seiner Kontrahenten wider.4 Dass aber mit dem Leiden und Sterben Jesu die Botschaft von der Königsherrschaft Gottes gleichwohl nicht hinfällig ist, weiß der Leser des Markusevangeliums, wenn er die Lektüre beendet hat. Anfang und Ende des Evangeliums verweisen aufeinander und deuten sich in der Relecture.5 Jesus von Nazaret verkündet und vollzieht die befreiende Botschaft vom angebrochenen Gottesreich, sie wird in den Worten und Taten des vollmächtigen Mannes buchstäblich anschaulich.6 Die Szene Mk 1,21–28 soll dem Leser verdeutlichen, dass Jesus tatsächlich der Sohn Gottes ist; er ist sozusagen genauso Herr über die Schriftgelehrten wie er unzweifelhaft Herr über die Dämonen ist.

In die Wahrheit über Jesu Identität werden, nachdem der Leser bereits im Prolog Mk 1,1–137 darüber in Kenntnis gesetzt ist, nun auch die Erzählfiguren eingeweiht. Die beiden wesentlichen Aussagen über die Vollmacht und somit die Messianität Jesu kommen in den Reaktionen der Zuhörer (vgl. VV. 21. 22) und Zuschauer (vgl. VV. 23–28) der geschilderten Ereignisse zum Ausdruck. Sie sind Ohren- und Augenzeugen der wundersamen Begebenheit, die sich in der Synagoge abspielt. In beiden Fällen berichtet der Evangelist von der tiefen Erschütterung – dem Erstaunen und dem Erschrecken (vgl. Mk 1,22a: ἐξεπλήσσοντο, vgl. Mk 1,27a: ἐθαμβήθησαν) – der Umstehenden, und in beiden Fällen benutzt er den Begriff „Lehre“ (διδαχή – vgl. Mk 1,22b. 27c) und verbindet ihn mit dem Begriff „Vollmacht“ (ἐξουσία).8 Das Stichwort „Lehre“ verweist zurück auf das „Evangelium Gottes“ (τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ – vgl. Mk 1,14), dessen Wortlaut Mk 1,15 referiert, und der Begriff „Vollmacht“ fällt an dieser Stelle zum ersten Mal – durch die doppelte Nennung aber in prononcierter Form. Was jedoch „Vollmacht“ im Rahmen des Markusevangeliums bedeutet, definiert der Verfasser durch die Komposition, die zwei Aspekte umfasst:

Erstens: Der Evangelist stellt zunächst das Wirken des Geistes anschaulich dar. In seiner Taufe im Jordan durch Johannes teilt sich Jesus der Geist Gottes mit. Das Zerreißen des Himmelsfirmamentes demonstriert dabei die kraftvolle Gegenwart des Geistes, die dadurch auf die Allmacht Gottes verweist. Der Geist „steigt wie eine Taube herab“ (ὡς περιστεράν καταβαίνων – vgl. Mk 1,10) und dringt „in“ (εἰς! – vgl. Mk 1,10) Jesus ein – auch das ein Zeichen für die drängende und daher machtvolle Wirksamkeit des Geistes (vgl. zur Auslegung der Stelle weiter unten im Fließtext)! Diese göttliche Kraft verspürt Jesus – und mit ihm der Leser – dann erneut in der unmittelbar an die Taufperikope anschließenden Versuchungsepisode buchstäblich am eigenen Leib, worauf der Begriff ἐκβάλλω (vgl. Mk 1,12 – wörtlich: „hinauswerfen“!) hinweist. Die schöpferische Allmacht (δύναμις)9 Gottes und die endzeitliche Vollmacht (ἐξουσία)10 Gottes werden zur eschatologisch-messianischen Vollmacht (ἐξουσία) Jesu,11 die eine Überbietung prophetisch-charismatischer Bevollmächtigung bedeutet:12 Johannes der Täufer war der letzte Prophet – der „Elija redivivus“ –, Jesus hingegen ist der neue Messias.

Zweitens: Das Evangelium schildert danach die Folge bzw. die Folgen des Geistes: Jesus besteht die Prüfung in der Wüste und erweist sich somit unzweifelhaft als der, den die Himmelsstimme zuvor zweifach angekündigt hat (vgl. Mk 1,2. 11). Die Heilsbotschaft des Sohnes Gottes bringt die Sendung Jesu, die mit dem endzeitlichen geistbegabten Messias verbunden ist, ins Wort (vgl. Mk 1,14–15). Die vier ersten Jünger, die Jesus daraufhin beruft (vgl. Mk 1,16–20), werden zu seinen von ihm mit Vollmacht ausgestatteten Nachfolgern. Sie bilden die „Menschenfischer“ der neuen Heilsgemeinschaft, die zur Gruppe der „Zwölf“ anwächst und dadurch ganz Israel zeichenhaft erfasst. Schließlich dehnt sich die Heilzusage auch auf die Heiden aus (vgl. Mk 7,24–30: die Beispielerzählung über die Syrophönizierin). In dieser neuen Gemeinschaft vollzieht sich die Gottesherrschaft (vgl. auch die markanten Jüngerbelehrungen Mk 9,35–37: Urvertrauen in die Botschaft; 10,43–45: Dienst für die Botschaft). Auf die geschilderte Berufung der beiden Brüderpaare folgt sofort die kurze Erzählung über Jesu erstes Wirken in Kafarnaum.

 

Für Markus ist es also evident, dass Geistbesitz Vollmachtsbesitz bedeutet.13 Die Verleihung der Vollmacht ist jedoch an die Geistbegabung in der Taufe Jesu im Jordan gebunden (vgl. Mk 1,9–11). Sie markiert den narrativen wie theologischen „Anfang“ – die ἀρχή (vgl. Mk 1,1) – für die irdische Wirksamkeit des Mannes aus Nazaret (vgl. Mk 1,9) im Sinne einer Prämisse bzw. Legitimation. Jesus wird mit dem Geist Gottes erfüllt (εἰς αὐτόν – vgl. Mk 1,10). Er ist daher nun imstande, „das Evangelium Gottes“ (τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ – vgl. Mk 1,14) über „die Königsherrschaft Gottes“ (ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ – vgl. Mk 1,15a) als bevollmächtigter Bote Gottes (vgl. κηρύσσων – Mk 1,14) zu verbreiten. Die Botschaft und ihr Bote werden durch die Vermittlung des Geistes verbunden. Das heißt, dass sich in Jesu Lebensweg zeichenhaft die göttliche Königsherrschaft verwirklicht: So lässt sich das „Evangelium von Jesus Christus“ (τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ – vgl. Mk 1,1) mit dem „Evangelium Gottes“ (vgl. Mk 1,14: τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ; vgl. Mk 1,15: τῷ εὐαγγελῳ) gleichsetzen.14 Gottes Allmacht kommt in Jesu Vollmacht zum Ausdruck. Jesu Vollmacht partizipiert an der Allmacht JHWHs.15 Jesus handelt demnach als bevollmächtigter Stellvertreter Gottes.16 Daher besteht eine innige Verbindung zwischen Gott-Vater und Sohn Gottes, so dass die Verwendung der familiär-intimen Bezeichnung „Sohn“ im christologischen Titel „Sohn Gottes“ im ersten Satz des Markusevangeliums legitim erscheint.17 Dieser Jesus von Nazaret ist also wahrhaftig der erwartete Messias, den die einleitenden zwanzig Verse des Evangeliums – stilistisch herausgehoben durch eine Klimax – als den „Herrn“ (vgl. Mk 1,3: κυρίου), den „Stärkeren“ (ὁ ἰσχυρότερός – vgl. Mk 1,7), den „Geisttäufer“ (αὐτὸς δὲ βαπτίσει ὑμᾶς ἐν πνεύματι ἁγιῳ – vgl. Mk 1,8b) und „(meinen geliebten) Sohn“ (vgl. Mk 1,11b: ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητός) vorstellen. Das aus menschlicher Sicht Ungreifbar-Unbegreifliche der angebrochenen Gottesherrschaft wird in den vollmächtigen Worten und Taten Jesu greifbar und begreifbar, zugleich aber auch angreifbar, wie die doch verbreitete Ablehnung gegen Jesu Auftreten belegt (vgl. beispielhaft Mk 3,21–22).18 Der im Markusevangelium erscheinende Vollmachtsaspekt ist daher meines Erachtens nicht nur christologisch,19 sondern auch pneumatologisch zu deuten: Das Handeln Jesu in Vollmacht beruht auf der Wirkung des Geistes Gottes.

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Der Vollmachtsbegriff stellt ein Synonym für den Geistbegriff dar. Diese Vollmacht manifestiert sich in Zeichen, und zwar – wie Mk 1,21–28 eindrücklich zeigt – in Wort- und Tatzeichen. Der Vollmachtsbegriff bleibt daher wie der Geistbegriff nicht schwebend-unbestimmt. Der Text Mk 1,21–28 ist daher als Zwischenstück zu begreifen, das die in Mk 1,14–15 proklamierte Königsherrschaft Gottes mit erzählerischen Mitteln zum Ausdruck bringt.20 Dabei weist die Tatsache, dass der Beginn des Wirkens Jesu in der Synagoge von Kafarnaum stattfindet, auf die tiefe Verbundenheit zwischen JHWH und Jesus und damit auf die Verbindung zwischen Gottes Allmacht und Jesu Vollmacht hin. Es handelt sich bei Mk 1,21–28 evident um eine Szene der Offenbarung göttlicher Schöpfermacht; die Schriftauslegung und die Dämonenaustreibung sind Zeichen der Vollmacht Jesu und damit zugleich Zeichen der Allmacht Gottes, die sich nun in seiner beginnenden Königsherrschaft Bahn bricht. Die programmatische Stelle hat einen sowohl abschließenden wie eröffnenden Charakter, denn sie deutet einerseits Jesus von Nazaret als geistbegabten, bevollmächtigten Sohn Gottes (vgl. Mk 1,1. 11) – somit als den von Israel erhofften Messias – und leitet andererseits zugleich über in die Erzählung über das Wirken Jesu.