Zeichen und Geist

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Stefan Eckhard

Zeichen und Geist

Eine semiotisch-exegetische Untersuchung zum Geistbegriff im Markusevangelium

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0083-6

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Inhalt

  Vorwort

  1. Zeichen und Erkenntnis

 2. Erscheinung und Zeichen2.1. Phänomenologie und Semiotik2.2. Kategorien und Konkretisierungen2.3. Kategorienlehre und Zeichenlehre2.4. Wahrheit und Finalität

 3. Darstellung und Offenbarung3.1. Semiotik und Theologie3.1.1. Zeichen und Offenbarung3.1.2. Dynamik und Offenbarung3.1.3. Offenbarung und Geist3.2. Theologie und Semiotik3.2.1. Geist und Vollmacht

 4. Erscheinung und Offenbarung4.1. Zeichen und Wirklichkeit4.2. Zeichen und Geist4.3. Geist und Zeichen

  5. Taufe und Versuchung 5.1. Text und Kontext 5.2. Taufe und Geist (vgl. Mk 1,9–11) 5.3. Versuchung und Geist (vgl. Mk 1,12–13) 5.4. Resümee

 6. Macht und Vollmacht6.1. Jesus und die Schriftgelehrten (vgl. Mk 3,22–30)6.1.1. Text und Kontext6.1.2. Geist und Ungeist6.1.3. Resümee6.2. Jesus und die Dämonen (vgl. Mk 5,1–20)6.2.1. Text und Kontext6.2.2. Vollmacht und Bekenntnis6.2.3. Resümee

  7. Glaube und Bekenntnis 7.1. Text und Kontext 7.2. Jesus und die Tochter des Jaïrus (vgl. Mk 5,21–24. 35–43) 7.3. Jesus und die kranke Frau (vgl. Mk 5,25–34) 7.4. Resümee

 8. Offenbarung und Verkündigung8.1. Jesu Tod und Auferweckung8.1.1. Jesu Tod (vgl. Mk 15,33–39)8.1.2. Jesu Auferweckung (vgl. Mk 16,1–8)8.2. Resümee

 9. Geist und Erkenntnis9.1. Botschaft und Erkenntnis9.2. Erkenntnis und Offenbarung9.3. Offenbarung und Schöpfung9.4. Erkenntnis und Bekenntnis

 Literaturverzeichnis1. Quellen und Allgemeine Hilfsmittel2. Kommentare3. Monographien, Aufsätze und Artikel

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2017 vom Fachbereichsrat der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurde sie an nur wenigen Stellen geringfügig verändert.

Herzlich bedanken möchte ich mich bei meinen drei Gutachtern, die die Entstehung der Arbeit über die Jahre hinweg fachkundig begleitet haben – bei dem Erstgutachter, Herrn Prof. Dr. Wilfried Eisele (Tübingen), dem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Dr. habil. Klaus Müller (Münster), und bei Herrn Prof. Dr. Rainer Schwindt (Koblenz), der sich bereit erklärt hat, das Drittgutachten zu übernehmen.

Dem Herausgeberkreis der Reihe „Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie“ – namentlich Frau Prof. Dr. Eve-Marie Becker – danke ich für die Aufnahme meiner Habilitationsschrift in diese wissenschaftliche Reihe. Für die Publikation danke ich der Narr-Francke-Attempto-Verlagsgruppe und insbesondere Frau Dr. Valeska Lembke und Frau Vanessa Weihgold.

Tübingen, im April 2018 Stefan Eckhard

1. Zeichen und Erkenntnis

Der Name der Rose – Das ist der deutsche Titel eines der wohl berühmtesten Historienromane der jüngeren europäischen Gegenwartsliteratur. Verfasst von einem damals noch unbekannten Autor – dem Professor für Semiotik an der Universität Bologna, Umberto Eco (05.01.1932–19.02.2016), – und 1980 erstmalig im italienischen Original veröffentlicht (Il nome della rosa), zeichnet der Roman eine vielgestaltige und bildgewaltige Kulturgeschichte des Mittelalters. Sie ist gekleidet – oder besser gesagt: verkleidet – in die Rahmenhandlung einer Detektiv- und Kriminalgeschichte – einer Geschichte um die Aufklärung einer rätselhaften Mordserie in einem Benediktinerkloster im Apennin. Der Roman spielt während einer Woche des Jahres 1327; ein Pro- und ein Epilog des Erzählers ergänzen die Handlung.

Dass es aber in diesem Roman nur vordergründig um die besagte Kriminalgeschichte geht, sondern es sich hinter- und untergründig um ein kulturhistorisches Panorama der mittelalterlichen Welt handelt, erschließt sich erst bei aufmerksamer Lektüre. Die geschlossen wirkende Erzählstruktur, die bewusst entsprechend der biblischen Schöpfungserzählung (vgl. Gen 1,1–2,4a) den Zeitraum von sieben Tagen umfasst und zusätzlich durch den Tagesablauf der monastischen Tagzeitenliturgie bestimmt wird, löst sich unter der Hand nämlich in eine Vielzahl an Erzählfragmenten auf. Die Beschreibungen über die weltliche und geistliche Machtpolitik des Mittelalters, die Erläuterungen zu den Entwicklungen der Profan- und der Kirchengeschichte, die Betrachtungen der philosophischen und der theologischen Strömungen, die Schilderungen des Alltags der mittelalterlichen Welt und nicht zuletzt die Darstellungen des vielfach gebrochen wirkenden Denkens, Sprechens und Handelns der Romanfiguren fügen sich wie die Glassteinchen in einem Kaleidoskop zu einem bunt schillernden, aber zugleich durchaus verwirrenden Ganzen zusammen. Eco zitiert und paraphrasiert historische, philosophische, theologische und literarische Quellen, er erfindet und erweitert dabei Figuren, Motive, Themen und Stoffe, und er mischt fremde Gedanken unter eigene und eigene unter fremde. Der gesamte Roman ist also ein einziges großes Rätsel, das dem Leser vom Autor aufgegeben wird, so wie sich den beiden Protagonisten des Romans – den Benediktinermönchen Adson aus dem Stift Melk und William von Baskerville – die Suche nach dem Mörder ihrer Mitbrüder als Rätselspiel erweist. Der Roman war ein weltweiter Erfolg, er wurde in viele Sprachen übersetzt und ist in zahlreichen Auflagen erschienen. Er löste die bis heute anhaltende Welle der Historienromane aus und machte Eco mit einem Schlag berühmt. Zugleich markiert dieses Werk den Anfang von Ecos zweiter Karriere als Schriftsteller einer großen Reihe an ähnlichen historischen Romanen, die er in der Folgezeit publizierte.

Der Name der Rose ist ein buchstäblich „spektakulärer“ Roman. Man kann sich als Leser in ihm mit dem sprichwörtlichen „geistigen Auge“ „umblicken“ und vieles „sehen“. Wenn man sich – um in der Sprache der Kriminalistik zu bleiben – „auf die Spur“ nach den verschiedenen, im Buch verarbeiteten Quellen begibt, wird man so manches entdecken und erfahren können.1 Wer das tatsächlich tut, wird einiges finden, anderes zu seiner Überraschung aber auch nicht. Das sind dann die vom Autor selbst erdachten Quellen – also schlicht Fälschungen. Dazu zählt ausgerechnet das für die Handlung entscheidendste Dokument – nämlich die angebliche zweite poetologische Schrift des Aristoteles über die Komödie und damit über das Lachen.2 Doch auch diese Fälschungen machen nichts, denn schließlich handelt es sich trotz des vorgespiegelten Scheins an Authentizität immer noch um eine fiktive Welt, und der Leser, der sich auf Ecos spielerisch-rätselhafte Erzählweise bewusst einlässt, wird sich daran auch nicht groß stören. Der Reiz des Romans liegt ja gerade in diesem Spiel wechselseitiger sprachlicher Verweisungen und rätselhafter inhaltlicher Verwicklungen. Aber nicht nur ein mit der mittelalterlichen Kultur vertrauter Leser fühlt sich durch diesen Roman angesprochen, auch ein weniger kenntnisreicher, aber dafür umso neugierigerer Leser findet Gefallen an dem Stoff. Selbst wenn man die textexternen Verweise nicht nachvollziehen kann, bereitet es doch schon große Freude, die textinternen Bezüge zu verfolgen. Ecos Montage- oder Collagetechnik verwebt nämlich die Erzählelemente in ein Netz von Bedeutungsbeziehungen, die sich wechselseitig konstituieren und gegenseitig interpretieren. Diese komplexe Intertextualität3 – die textexternen Bezüge – und die dazugehörige Intratextualität – die textinternen Bezüge – bilden das wesentliche Strukturprinzip des Romans. Es findet sein erzählerisches Abbild in der als Labyrinth aufgebauten Klosterbibliothek mit ihren zahlreichen Kammern, Räumen, Gängen und Treppen.

 

Ist die Form des Romans schon ein Rätsel, so ist es der Inhalt noch viel mehr. Das zeigt sich erstmalig beim Romantitel Der Name der Rose und schließlich beim letzten Satz des Romans, der aus zwei Sätzen besteht und lateinisch verfasst ist: „Stat rosa pristina nomine, nomine nuda tenemus.“4 Der Titel bildet sozusagen den ersten Satz des Romans und stellt die Rätselfrage, während der Abschlusssatz die Lösung gibt – auch wenn er in der damaligen Wissenschaftssprache Latein steht, die für viele Leser wiederum geheimnisvoll wirkt. In beiden Sätzen ist von einer „Rose“ die Rede. Diese „Rose“ sucht der Leser im gesamten Roman aber vergebens. Was soll das Ganze also? Welche „Rose“ ist gemeint, und was hat es mit dem Begriff „Name“ auf sich? Genau wie die Hintergründe der Mordfälle erst gegen Ende des Romans – im vorletzten und im letzten Kapitel – aufgedeckt werden, so muss sich auch der Leser in großer Geduld üben, wenn er das Rätsel um den „Namen“ der „Rose“ gelüftet haben will. Er muss bis zur letzten Zeile des mehrere hundert Seiten langen Werkes warten, bis es Eco doch noch gefällt, seinen Erzähler und Romanhelden Adson von Melk Licht ins Dunkel bringen zu lassen – vergleichbar dem Schein der Lampen, mit denen sich William und Adson am Schluss des Romans bei Nacht den Weg durch das Labyrinth der Bibliothek bahnen und das Rätsel der Mordserie lösen. Wie er im Prolog und im Epilog schreibt, blickt Adson als alter Mann auf sein Leben zurück und erinnert sich der geheimnisvollen Morde in besagter Benediktinerabtei. Er selbst hat seinen Mentor William von Baskerville bei der Aufklärung dieser Verbrechen unterstützt. Die beiden finden während ihrer Ermittlungen zahlreiche und widersprüchliche Hinweise zu Motiven und Tätern, die schließlich – mehr zufällig als beabsichtigt – zur Klärung der Mordfälle beitragen. Dass die Bedeutung der Indizien beiden Mönchen leider nicht immer – zumindest sofort – einsichtig wird, muss selbst der mit hohem detektivischen Spürsinn begabte William von Baskerville – der Sherlock Holmes in Ecos Roman5 – eingestehen.6 So gibt es aber für den Leser immer wieder überraschende und spannende Wendungen in der Geschichte.7

Was bedeutet die Bezeichnung „Name der Rose“ nun? Die Kriminal- oder Detektivgeschichte ist buchstäblich das „Tatindiz“, das die „Spur“ zum „Beweis“ legt. Der lateinische Schlusssatz liefert dann das entscheidende „Beweismittel“, das zur „Aufklärung“ des „Falles“ führt. Der „Name“ ist des Rätsels Lösung! Ist der Leser an das Ende des Romans gelangt, dann muss er keine Mühe mehr aufwenden, „kriminalistisch zu kombinieren“, denn die „Indizien“ sprechen für sich. Der erste Teilsatz – „Stat rosa pristina nomine“ – spielt auf den in der Philosophie und Theologie der Hochscholastik bedeutsamen sogenannten „Universalienstreit“ an und dabei besonders auf den „Nominalismus“ in seiner gemäßigten Ausprägung des „Konzeptualismus“, den William von Ockham vertrat.8 Seine Spiegelfigur im Roman – „nomen est omen“ – ist William von Baskerville. Die reale wie die fiktive Person tragen denselben Vornamen, sie haben dieselbe Nationalität und vor allem teilen sie die gleiche philosophische Erkenntnistheorie. Der in dem Satz „Stat rosa pristina nomine“ angesprochene „Name“ – das „nomen“ – bedeutet nichts anderes als „Zeichen“. Was „zeichnet“ ein solches „Zeichen“ aber nun „aus“? Ein Zeichen ist ein stellvertretend für einen Gegenstand stehender Bedeutungsträger. Hier ist es das intellektuell-logisch gebildete Sprach- und Wortzeichen „Rose“ – ein Abstraktum – für die empirisch-sensuell erfasste Pflanze – ein Konkretum. So vermittelt der „Name“ „Rose“ eine buchstäblich „sinnvolle“ gedankliche Vorstellung und kann sie selbst dann noch bewahren, wenn das von ihm benannte Objekt gar nicht mehr vorhanden ist, wenn also – wie es im Zitat weiter heißt – die zarte und empfindliche, wirkliche Rose „von einst“ (vgl. „pristina“) längst verblüht und verwelkt ist. Es entsteht beim Sprecher wie beim Hörer des Sprach- und Wortzeichens „Rose“ somit ein bleibender gedanklicher Eindruck. Der „Name“ „Rose“ hat eben eine Bedeutung, und er hat damit zugleich Bedeutung. Zeichen bilden also Bedeutungen aus, und sie bilden folglich Erkenntnis. William von Baskerville als Alter Ego Williams von Ockham beschreibt diesen Begriffsbildungsprozess mit der Metapher der „Leiter“,9 die der Mensch zum Erkenntnisaufstieg unbedingt benötige.

Sein Schüler Adson hingegen radikalisiert diese epistemologische Position, wie der zweite Teilsatz des Schlusssatzes belegt: „Nomine nuda tenemus.“ Dieser Satz verweist auf einen tiefen Erkenntnisskeptizismus, ja eher schon einen grundsätzlichen Erkenntnispessimismus. Bezeichnungen sind für Adson im doppelten Wortsinn „bloße“ Zeichen. Sie sind nichts anderes als „bloße“ – also „nackte“ („nuda“) – „Namen“ und daher auch nur „bloß“ „Namen“. Sie sind dann „gleich bedeutend“ und somit auch „gleichbedeutend“. Dadurch verlieren sich die Zeichen im „sprachlichen Irgendwo“ des „logischen Nirgendwo“ wie ein Suchender in einem Labyrinth. So verirren sich auch Adson und William – im übertragenen Sinne – erst beinahe im „Labyrinth“ der Mordgeschichte und danach – im wörtlichen Sinne – fast noch im Labyrinth der Abteibibliothek. Die mit den Zeichen bezeichneten Bedeutungen haben dann eben keine eindeutige Bedeutung mehr. Die Bedeutung wird arbiträr. Daher spielt die „Rose“ außer im Titel wie am Schluss des Romans überhaupt keine Rolle, so dass der Leser während der Lektüre zu Spekulationen verleitet wird – und diese Wirkung ist vom Autor genau so beabsichtigt.10 Eco lässt seinen Adson damit aus der Zeit herausfallen. Er ist kein Mensch des Mittelalters mehr, sondern ein Vertreter des philosophischen Postmodernismus unserer Tage. Für ihn gilt das postmoderne Postulat des Wahrheitspluralismus und – in seiner Konsequenz – des Wahrheitsrelativismus. Die Dominanz einer einzigen Wahrheit oder gar eines einzigen Wahrheitssystems hat danach endgültig ausgedient. Was die Wahrheit anbelangt, so kann es jetzt nur noch um Heterogenität anstelle von Homogenität, um Multiperspektivität anstatt Monoperspektivität und um Alterität statt Uniformität gehen.11 Dieses postmodernistische Axiom von der notwendigen Auflösung der Hegemonie einer einzigen Wahrheit schlägt sich deutlich auch in der Handlung des Romans nieder. Galt in der mittelalterlichen Welt die Kirche als alleinige Hüterin von Glaube und Wissen, so lässt Eco sie im Roman an diesem Selbstanspruch scheitern, indem er diesen in der Figur des Inquisitors Bernard Gui ad absurdum führt. Wer Zwang und Gewalt zum „Schutz“ der Wahrheit anwendet, der begeht ersichtlich Unrecht, und der befindet sich daher im Unrecht. Wahrheit braucht schließlich keine Gewalt, denn sie setzt sich aus eigener Kraft durch.12

Wer so redet wie Adson, nimmt gravierende Konsequenzen in Kauf. Der Wahrheitszweifel muss, wenn man ihn denn in aller Strenge bedenkt und anwendet, in den Gotteszweifel führen. Wenn sich schon über die Welt nichts mehr Endgültiges aussagen lässt, dann erst recht nicht über Gott. Gott ist nur noch eine denkerische Möglichkeit, eine mögliche Realität, vergleichbar der möglichen Realität eines fiktionalen Textes wie dem Roman – eben „bloß“ ein „Name“.13 Auch die Gottesvorstellung wird so untergraben. Der Gotteszweifel führt zum Glaubenszweifel und dann auch zum Lebenszweifel. Zweifel wird zur Verzweiflung, denn „Sinn“ wird buchstäblich zum „Irr-Sinn“, weil jede „Wahrheit“ wegen des ständigen Verdikts des Irrtums nur eine vermeintliche Wahrheit sein kann. So wird die Sinnsuche zwangsläufig zu einer Sinnsuche ad infinitum – also zur ständig irrenden und darüber irrewerdenden Sinnsuche. Das bedeutet für den Menschen nicht nur „ein Ende mit Schrecken“, sondern sogar wirklich „ein Schrecken ohne Ende“ – sozusagen die wahre „Hölle auf Erden“! Dass der Figur des Adson von Melk diese fatalen Zusammenhänge völlig klar sind, beweist ein Zitat aus dem Epilog des Romans. Darin ist Adson die Verzweiflung darüber deutlich anzumerken:14 „Und ausgelöscht sein werden die Unterschiede, ich werde eingehen in den einfältigen Grund, in die stille Wüste, in jenes Innerste, da niemand heimisch ist. Ich werde eintauchen in die wüste und öde Gottheit, darinnen ist weder Werk noch Bild […].“15 Ein Verlöschen im Nichts – das ist das düstere Schicksal, das Adson nach seinem Tod für sich erwartet. Postmodernismus bedeutet eben zwangsläufig Agnostizismus, wenn nicht sogar Atheismus. Dass ausgerechnet ein Mönch, der zudem noch am Ende seines Lebens steht, zu dieser resignativ-pessimistischen Erkenntnis kommt, ist bittere Ironie! Und Ironie – das Lachen – ist dann auch nach den von Eco seiner Figur William von Baskerville in den Mund gelegten Worten die scharfe Waffe, gegen die Wahrheit der fanatischen „Wahrheitspropheten“16 wirksam anzukämpfen. Das freimütige Lachen soll den heiligen Ernst der Wahrheit besiegen. Das Lachen wird zum Verlachen des Wahrheitsoptimismus der philosophischen Tradition.17 Ironie bilde – so Eco in seiner Nachschrift zur „Name der Rose“– die Ästhetik des Postmodernismus.18 Postmoderner Stil ist also Gegenrede zur Rede.

Der Name der Rose ist damit ein postmoderner Roman.19 So verbindet Eco die äußere Heterogenität – die Kompilation von Texten – mit der inneren Heterogenität – der Ironie. Die erzählte Welt des Romans entwickelt sich durch die minutiöse Stoffrecherche, durch die Auswahl geeigneter Quellen20 und die gelungene Komposition der Zitate und Allusionen, durch die Sprachgestaltung21 und den allwissenden Ich-Erzähler22, durch die Kernhandlung der Detektiv- und Kriminalgeschichte23 sowie nicht zuletzt durch die Anfügung der Deutungen des Autors, die sich in den Reden seiner Romanhelden verbergen. Gleichzeitig verwickelt diese kompositorische wie konzeptionelle Struktur den Leser in das Geheimnis um den Sinn des Romans. Es entsteht dadurch zudem ohne Zweifel etwas Neues. Auch wenn der Autor die Originalität leugnet,24 so gehört auch diese Äußerung zum bewusst-provokanten, postmodernen Rätselspiel um die Relativität und daher Arbitrarität von Bedeutungen und Sinn. Man sagt einfach das genaue Gegenteil von dem, was man sagen will, das heißt man ist im wahrsten Sinne des Wortes „ironisch“. Ecos Bemerkung in der Nachschrift, das Schreiben gleiche einem Schöpfungsakt, mit dem man einen zweiten Kosmos erschaffe,25 bestätigt den Eindruck des Originellen und widerspricht in eklatanter Weise der vorher geäußerten These des Autors. Diese entlarvt sich somit als postmoderne „Verpuppung“26 und damit als ironische Brechung. An den Roman und an die erwähnten Deutungen – oder besser: an die Andeutungen – seines Autors können und sollen sich die Interpretationen der Leser anschließen. Die Welt des Romans verknüpft sich mit der Welt des Schriftstellers und der seiner Leser, und die Fiktionalität verbindet sich mit der Faktizität. Damit vermehrt sich die Diversität und die Komplexität, und zwar ad infinitum, denn jede Interpretation gibt immer wieder neu den Anstoß für eine weitere Interpretation. So will der Roman strenggenommen auch zu keinem literarischen Genre ganz genau passen; die gewählte Bezeichnung „Historienroman“ ist nur eine Verlegenheitslösung, da sie dem Inhalt noch am nächsten zu kommen scheint. Der Name der Rose ist weder ein reiner Historienroman noch ein wirklicher Detektiv- oder Kriminalroman, keine reine Kulturgeschichte und auch keine echte Philosophiegeschichte, sondern von allem etwas.

Dieser multiperspektivische Roman ist zugleich ein semiotischer Roman des (ehemaligen) Semiotik-Professors Eco, denn die Semiotik ist Epistemologie und damit auch Fundament des philosophischen Postmodernismus. Eco verknüpft in seinem lateinischen Schlusssatz, der die Essenz seines Romans27 darstellt, die philosophischen Strömungen des Nominalismus und des Postmodernismus und somit – wie an den Figuren Adson und William deutlich zu sehen ist – die Zeitebenen von Vergangenheit und Gegenwart. Der Postmodernismus erscheint daher als Erbe der mittelalterlichen Denkrichtung. Nun ist es aber ein weiter Weg vom Mittelalter bis zur Neuzeit, und die philosophisch-theologischen Deutungsmuster wandeln sich nicht von heute auf morgen. Sie sind nicht mit einem einfachen „geistigen Sprung“ vom semiotisch-erkenntnistheoretischen Nominalismus zum semiotisch-erkenntnistheoretischen Nihilismus zu überwinden, wie das dem Mönch Adson von Melk in der fiktiven Welt des Romans möglich ist. Um zur radikalen epistemologischen Position Adson von Melks – Ecos Alter Ego – zu gelangen, benötigt es daher einer geistesgeschichtlich-philosophiegeschichtlichen Vermittlung. Im Gegensatz zu den mehr oder weniger explizit vor- und dargestellten Theorien der mittelalterlichen Semiotik des Konzeptualismus („William von Baskerville“ – William von Ockham) und der postmodernen Semiotik des Relativismus („Adson von Melk“ – Umberto Eco), tritt diese vermittelnde Instanz nur implizit auf. Gemeint ist die Semiotik des US-amerikanischen Chemikers, Mathematikers und Philosophen Charles Sanders („Santiago“) Peirce (1839–1914), der als Gründervater der modernen Semiotik gilt. Auf ihn beruft sich daher auch Eco. Die Grundvorstellung, dass der gesamte menschliche Erkenntnisprozess ein über den Gebrauch von Zeichen aller Art erfolgender Bedeutungsbildungsprozess ist, verbindet die doch so unterschiedlichen Konzepte Ockhams, Peirces und Ecos miteinander. Mit anderen Worten gesagt: Menschliche Erkenntnis besteht aus Zeichen, und sie geschieht in Zeichen. Menschliches Denken ist notwendig an Zeichen gebunden. Dazu heißt es bei Peirce apodiktisch: „All thought being performed by means of signs, […]“.28 An anderer Stelle wird er noch etwas präziser, dort heißt es: „[…] and the life of thought and science is the life inherent in symbols.“29Zeichen bilden die Welt ab, und sie bilden auf diese Weise Erkenntnis der Welt. Erkenntnis geschieht in einer ausschließlich durch Zeichen vermittelten Beziehung – also in Relationalität. Als Darstellungsmittel für einen Gegenstand kann ein Zeichen alles sein – etwa ein Gegenstand, eine Handlung, eine Geste, ein Bild, ein Wort, eine Regel. Letztlich ist ein Zeichen aber bereits jeder Gedanke, wie das obige Zitat darlegt. Peirce definiert diese Sinnerschließung im Einzelnen als triadischen Zeichenprozess – er nennt es „Semiose“ oder „Zeichenprozess“ bzw. „Zeichenwirkung“ („semeiosis“)30 –, und zwar genauer als untrennbares Beziehungsgefüge von „Objekt“, „Zeichen“ und „Interpretant“. Das „Zeichen“ – in Ecos Roman der „Name“ oder das „nomen“ – wird zum Grundbegriff der semiotischen Zeichenlehre, die nach Peirce zugleich Erkenntnislehre ist. Die genannte Universalität des Zeichens bedingt die damit verknüpfte Universalität der Bedeutung. Aufgrund der Universalität der Zeichenstruktur ist der Zeichenprozess nur als infiniter Regress vorstellbar. Wenn alles zum Zeichen werden kann, dann wird auch alles zum Zeichen. Daher kann man sich den Anfang der Semiose nicht denken, denn jedes Zeichen, das etwas bezeichnet, löst eine Bedeutung aus, die wiederum zum Zeichen für etwas anderes werden kann und wird, und so fort. So entsteht ein stetig wachsendes Netz an Bedeutungen. Den Aspekt der Netzstruktur von Zeichenprozessen teilt auch Eco. Der beschriebene Bedeutungsbildungsprozess zeigt sich auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene. Das heißt, dass jeder Mensch einerseits eigenständig Bedeutungen generiert, er aber andererseits als gesellschaftliches Wesen zugleich in Verbindung mit anderen Menschen steht, die ebenfalls Bedeutungen produzieren. Sowohl die Einzelperson wie die Personengruppe übernehmen somit wechselseitig Zeichen und Bedeutungen.

 

Der philosophisch-semiotische Postmodernismus, wie ihn Eco literarisch verarbeitet und darbietet, radikalisiert jedoch das Zeichensystem Peirce’scher Prägung. Uneindeutigkeit statt Eindeutigkeit wird zum bestimmenden Grundzug der postmodernen Auffassung über die Welt. Dabei löst der literarische Postmodernismus aus dem triadischen Zeichensystem das Zeichen heraus. Es wird zur „bloßen“ „Maske“, die ohne bestimmbare und somit bestimmte Bedeutung31 eben nur noch der „Maskerade“ – der „Verpuppung“32 – dient. Das Aufbrechen der klassisch-semiotischen Zeichenstruktur der Moderne in der Postmoderne geschieht in der Stilfigur der ironischen Brechung. Zugleich wird das Zeichen im Postmodernismus zum einzig verbleibenden, allgemeingültigen Begriff, es wird zum Selbstzweck. Daher entfaltet Eco in seinem Roman ein Verwirrspiel von Zeichen und Bedeutungen. Es gibt viele Zeichen und viele Bedeutungen, die jedoch kein festes Bedeutungssystem mehr ausbilden. In der Rahmenhandlung der Kriminalgeschichte wird dieser Zusammenhang manifest. Die „Indizien“ oder „Spuren“ lassen sich nicht mehr einem einzigen Täter zuordnen – im Gegensatz etwa zu den berühmten Fällen des Sherlock Holmes. Wie sich am Ende des Romans nämlich herausstellt, sind dem Haupttäter – dem Bibliothekar Jorge von Burgos – die Fäden seines perfiden Mordplans aus den Händen geglitten, so dass auch die Ermittler lange im Dunkeln tappen müssen. Die Wege zur Wahrheit zeigen sich daher oft als Irrwege. Alles ist ein Zeichen, aber alles wirkt äquivok. Nichts ist so, wie es scheint; nichts ist mehr klar erkennbar. Für die postmoderne Position wird der Sinn fraglich. Namen sind in der Tat „Schall und Rauch“; es sind eben „bloß(e)“ „Namen“, wie es im Roman lapidar heißt.

Diese ins Extrem gewendete postmoderne Deutung des Zeichenprozesses würde Peirce aufs Schärfste ablehnen.33 Seine Zeichenlehre ist dezidiert eine Erkenntnislehre. Den Zeichen entsprechen Gegenstände in der Wirklichkeit, auf die mit den Zeichen hingewiesen und die mit den zugehörigen Bedeutungen eindeutig bestimmt werden. Sie sind das, was die Zeichen von ihnen darstellen (Korrespondenztheorie). Es gibt also eine univoke Relation zwischen Zeichen und Objekten, keine äquivoke wie in der postmodernistischen Variante der Semiotik. Mit Zeichen kann man deswegen wahre Aussagen treffen. Folglich gibt es auch einen Erkenntnisfortschritt, so dass sich der Erkenntnisprozess linear-teleologisch gestaltet. Semiotik ist Logik, ist Erkenntnis. Dass mit Zeichen Erkenntnis entsteht – Sinn erzeugt wird –, steht für Peirce also außer Frage. Dieser Zusammenhang ist für ihn grundlegend, nicht grundstürzend wie im Postmodernismus. Eco in seinem Roman und Peirce vertreten in diesem entscheidenden Punkt grundverschiedene Positionen.34 Zeichen als formale Kategorie und Zeichen als Bedeutungsstruktur bilden jedoch die beiden Aspekte, in denen die Positionen von Peirce und Eco konvergieren. Das Zeichen ist als hermeneutischer Grundbegriff anzusehen.