Zeichen und Geist

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4.3. Geist und Zeichen

Der Ding-, der Zeichen- und der Bedeutungsaspekt finden sich somit in der Struktur des Gesamttextes wieder, der die Freudenbotschaft der kommenden Königsherrschaft Gottes deutet. Dieses neue Heilsangebot muss aber von zwei Seiten betrachtet werden – von göttlicher wie von menschlicher Ebene. Es gilt also die Zuordnung von Offenbarung und Bekenntnis: Gott offenbart sich in Jesu Leben; diese Offenbarung muss jedoch auch vom Menschen im Bekenntnis angenommen werden. Das Offenbarungsgeschehen ist also ein notwendig dyadisch strukturiertes Kommunikationsereignis zwischen Offenbarungsträger (Gott, Geist Gottes, Jesus: Sender) und Offenbarungsempfänger (Mensch: Empfänger). Die theologischen Aspekte von „Vollmacht“ – also „Geist“ – und „Offenbarung“ – also „Zeichen“ – können miteinander verknüpft werden: Vollmacht muss sich in der irdischen Erfahrungswelt manifestieren; Vollmacht zeigt sich daher im Zeichen. Die δυνάμεις Jesu und seine διδαχή repräsentieren die vollmächtigen Zeichen der βασιλεία τοῦ θεοῦ. Deswegen sind sie Offenbarungszeichen für die neue Heilswirklichkeit, die Gott in seinem Sohn eröffnet hat. Sie stehen für die neue Schöpfungswirklichkeit.

Mit der durch den Vollmachts- bzw. Geistaspekt geprägten triadischen Matrix, die die semiotischen Kategorien repräsentiert, ist daher zugleich das Moment von „Offenbarung und Bekenntnis“ gegeben. Im Rahmen einer Erzählung wird dieser Aspekt durch die Figuren verwirklicht, die – im Zusammenhang mit dem Offenbarungscharakter eines Evangeliums – die unterschiedlichen Rollen des Offenbarungsträgers und Offenbarungsempfängers annehmen. Die Personen einer Erzählung sind Handlungsträger. Deswegen erscheint es zweckmäßig, die nach dem Moment „Geist“ bzw. „Vollmacht“ gegliederten Szenen und Perikopen mit den passiven wie aktiven Figuren der Erzählhandlung des Markusevangeliums in Verbindung zu bringen.1 Dieses Vorgehen stellt neben der Profilierung des Geist- und Vollmachtsbegriffs zudem ein sinnvolles Gliederungsprinzip dar, das dem Episodenstil2 des Markusevangeliums entgegenkommt, der sich gegen Systematisierungsentwürfe sperrt.3 Für die Personen eines Erzähltextes gelten zwei Momente: Zum einen sind die Personen einer Erzählung – wie gerade erläutert – im Hinblick auf den Text Handlungsträger, zum anderen stellen sie im Hinblick auf den Leser Identitätsträger dar.

Was den Aspekt „Handlungsträger“ betrifft, so kann man sagen: Die in der jeweiligen Erzähleinheit auftretenden Charaktere tun etwas selbst oder erdulden etwas durch andere – treiben also die Handlung in aktiver oder passiver Weise voran. Das Markusevangelium schildert ein – im metaphorischen Sinne gesprochen – „kosmisches Drama“. Darin verbinden sich Himmel und Erde unter dem Aspekt der Offenbarung miteinander. Die Handlung geht vom Himmel aus (vgl. Mk 1,1–13), entwickelt sich auf der Erde zum Höhepunkt der Verurteilung und der Hinrichtung Jesu und führt am Ende zurück in den Himmel, indem durch das erneute Eingreifen Gottes in der Auferweckung Jesu die in Mk 1,1. 11b proklamierte Gottessohnschaft des Nazareners ihre Bestätigung findet (vgl. Mk 15,33–39; 16,1–8). Diese kompositorische, zirkuläre Struktur „Himmel – Erde – Himmel“ korrespondiert mit der Bewegung der Relecture. Wie sich aus dem Aufriss der Szenen ergibt, spielt sich das Drama um die Vollmacht – und damit um den Geistbesitz – Jesu auf der Erde ab. Es geht um Zustimmung oder Ablehnung, Bekenntnis oder Verleugnung auf das Angebot der Offenbarung der Königsherrschaft Gottes in Jesu vollmächtigem Wirken in Wort und Tat. Handlungsträger – die Figuren – und die durch sie erzeugte Handlung – die erzählte Begebenheit – „spielen“ daher im wahrsten Sinne des Wortes „die entscheidende Rolle“ in den Offenbarungsszenen des Markusevangeliums. Markus bietet seinem Leser ein großes Tableau an Personen. Dabei lassen sich aktive und passive Personen unterscheiden. Unter die aktiven Figuren sind zu zählen: Gott, Geist, Jesus von Nazaret, Johannes der Täufer, Satan, Engel, Verwandte Jesu, Jünger Jesu (vor allem Simon Petrus), Volk, Herrscher (Herodes, Pilatus), Schriftgelehrte, Pharisäer, Hohepriester (Hoher Rat), fremder Wundertäter, römischer Hauptmann. Alle anderen Personen – Menschen und Dämonen – verhalten sich passiv, denn an ihnen erweist Jesus als Offenbarungsträger in den Wunderheilungen, Totenerweckungen und Dämonenaustreibungen seine göttliche Vollmacht. Dennoch bestätigen gerade sie explizit durch Furcht (Dämonen) und Vertrauen bzw. Glauben (Geheilte) den Vollmachtsanspruch Jesu und enthüllen – „offenbaren“ – somit seine wahre Identität. Die positiven oder negativen Reaktionen der Erzählfiguren, die die potentiellen Offenbarungsempfänger sind, belegen somit die Vollmacht Jesu. „Freund“ und „Feind“ trennen sich an dieser Frage. Jesus führt in die Entscheidung – in die „Scheidung der Geister“.4

Hinsichtlich des Momentes „Identitätsträger“ gilt Folgendes: Die Figuren eines Textes sprechen nicht nur mit- und übereinander, sondern wenden sich durch ihre Gestaltung über den Text hinaus an den Leser.5 Fiktive Figuren bieten reale Identifikationsmöglichkeiten für den tatsächlichen Leser. Daher gibt es eine Leserlenkung (eine „Erzählstrategie“ bzw. einen „impliziten Leser“),6 die der Intention des Autors bzw. des Erzählers entspricht. Im Falle des Markusevangeliums soll neben den Figuren des Textes auch der Leser oder Hörer des Textes zur Stellungnahme über die Frage der Vollmacht Jesu – sprich der Gottessohnschaft oder Messianität Jesu – herausgefordert werden.7 Der Rezipient selbst wird daher implizit aufgefordert, das Bekenntnis zu Jesus als dem „Christus“ abzugeben. Dies wird ihm einerseits durch die Komposition in der erwähnten zyklischen Struktur von „Himmel – Erde – Himmel“ erleichtert und geschieht andererseits durch das Verhalten der Figuren. Die Figurenperspektive verknüpft sich so mit der Leserperspektive. Handlung (und damit Figuren) und Deutung werden verbunden. Die Schrift erzählt gedeutetes Geschehen. Somit bedient sich das Markusevangelium einer evident persuasiven Strategie. Es handelt sich sozusagen um eine „doppelte Offenbarung“, die auf die fiktiven Figuren wie auf die realen Leser gleichermaßen zielt.

Auf die narrativen Eigenheiten des Markusevangeliums wird auch die vorliegende Studie eingehen und die aus Peirces Semiotik entnommenen hermeneutisch-semiotischen Aspekte („Ding“ und „Dynamik“, „Zeichen“ und „Relationalität“, „Bedeutung“ und „Ontologie“) mit theologischen Deutungen in Verbindung bringen, denn die triadische Struktur der semiotischen Konzeption von Peirce muss man inhaltlich auswerten. Die von Peirce beschriebenen semiotischen Kategorien des „Ersten“ – des „Objektes“–, „des „Zweiten“ – des „Zeichens“ – und des „Dritten“ – des „Interpretanten“ – beruhen nämlich selbst auf einem bedeutungsgebenden Erkenntnisvorgang. Sie sind seine Ergebnisse: Peirces semiotische Kategorien stellen nämlich Abstraktionen dar, in denen sich die erkenntnisbildenden Funktionen der „Dynamik“ (des „Dynamischen“), der „Relationalität“ (des „Relationalen“) sowie der „Ontologie“ (des „Ontologischen“) widerspiegeln. Diese den semiotischen Kategorien inhärenten, funktionalen Aspekte kann man abweichend von der durch Peirce festgelegten Terminologie als „semiotische Funktionen“ bezeichnen. Bei der Adaption des Peirce‘ schen hermeneutisch-semiotischen Konzeptes auf den theologischen Sinnzusammenhang müssen ebenso die den semiotischen Funktionen und damit auch den semiotischen Kategorien korrespondierenden „theologischen Interpretationen“ gefunden und erläutert werden: Die Bestimmung dieser theologischen Begriffe parallel zum semiotischen, triadischen Erkenntnisprozess erfolgt durch die Analyse der göttlichen Offenbarungsereignisse, die eine der Kommunikationssituation unter Menschen vergleichbare Offenbarungssituation zwischen Gott und Mensch darstellen, wie bereits festgestellt wurde. Die göttliche Offenbarungssituation korrespondiert mit der menschlichen Kommunikationssituation. Die Kommunikation zwischen Menschen wird aber – wie an früherer Stelle erwähnt wurde – vom semiotischen Modell ebenso erfasst: Ein semiotischer Bedeutungsbildungsprozess braucht nämlich nicht auf das Verhältnis zwischen dem Menschen als erkennendem Subjekt und dem Ding – dem zu erkennenden Objekt – als unmittelbarem Erschließungsprozess beschränkt bleiben, sondern kann auch durch einen Kommunikationsprozess ersetzt sein. In diesem Fall läuft der Bedeutungsbildungsprozess mittelbar – eben durch einen Sprecher vermittelt – ab. Ein Mensch als erkennendes Subjekt präsentiert einem anderen Menschen als erkennendem Subjekt ein in einem Sprachzeichen repräsentiertes Ding als zu erkennendes Objekt. Dieses vom Sprecher (oder Sender) im Zeichen gegebene Objekt muss vom Hörer (oder Empfänger) entschlüsselt werden. Auf diese Weise kann auch die Offenbarung Gottes im beschriebenen Offenbarungsgeschehen als ein Kommunikationsgeschehen verstanden, untersucht und gedeutet werden. Als den semiotischen Funktionen und Kategorien analoge „theologische Interpretationen“ eignen sich meines Erachtens Dichotomien bzw. Begriffspaare oder binäre Formulierungen am besten, da sie den jeweiligen semiotisch-triadisch strukturierten, theologischen Zusammenhang des Offenbarungsgeschehens vollumfänglich erfassen können. Sie fungieren als Vergleichspunkte. Die Bestimmung dieser Begriffe erfolgt durch die Beantwortung der Leitfrage: „Was bedeuten der semiotische Ding-, der Zeichen- und der Bedeutungsaspekt im Rahmen des Markusevangeliums in theologischer Hinsicht – das heißt im Hinblick auf das christliche Evangelium von der Auferstehung?“ Auf diese grundsätzliche Frage lässt sich antworten: Jesus von Nazaret – der Messias-Christos – ist der Protagonist der markinischen Erzählung, der als Geistträger zum Offenbarungsträger Gottes wird. Der Offenbarungsprozess erscheint also zweifach vermittelt – zum einen durch Gott und zum zweiten durch Jesus; in beiden Fällen jedoch agieren beide Offenbarungsträger im Geist. Es erfolgt also eine pneumatologische Legitimierung der jesuanischen Sendung. Dass Jesus Offenbarungsträger ist, lässt sich bereits aus dem ersten Vers des Evangeliums unzweifelhaft ablesen (vgl. Mk 1,1). Das ist evident. Der im Evangelium des Markus erzählte Jesus tritt – wie dargestellt wurde – im Text mit den Menschen seiner Zeit – den Erzählfiguren – und über den Text hinaus mit den Menschen aller Zeiten – den Hörern und Lesern – in Kontakt. Jesus ist – wie jede Erzählfigur – Handlungs- und (zumindest potentieller) Identitätsträger, wie schon gezeigt werden konnte. Man könnte auch sagen: Es geht um die Person Jesu und um die Personen der jeweiligen Zeit, um die einmalige Geschichte über Jesus von Nazaret und um die bleibende Geschichte über Jesus Christus – das heißt um menschliche und göttliche Geschichte oder um Weltgeschichte und Heilsgeschichte. Narratives und Theologisches verbinden sich. So ergibt sich daraus die folgende, dem semiotischen, kategorial-triadischen Konzept von Peirce korrespondierende Terminologie: „Tod und Leben“, „Verheißung und Erfüllung“, „Vollmacht und Glaube“. Diese Momente verweisen jeweils auf den Ding- oder Wesensaspekt, den Zeichen- bzw. Erscheinungsaspekt und den Bedeutungs- oder Wirkungsaspekt: „Tod und Leben“ entsprechen dem Ding- oder Wesensaspekt, „Verheißung und Erfüllung“ dem Zeichen- oder Erscheinungsaspekt und „Vollmacht und Glaube“ dem Bedeutungs- bzw. Wirkungsmoment. Die aufgezählten Begriffspaare lassen sich wiederum den geläufigen Motiven „Verwandlung“ und „Umkehr“ („Scheidung der Geister“) zuweisen. Im Einzelnen stehen hinter der Definition der Dichotomien folgende Überlegungen: Das Ding umfasst die Substanz, die ausgesagt werden will und soll. Die Substanz drängt auf Selbstmitteilung. Es ist daher ersichtlich, dass dem semiotischen Dingaspekt aus theologischer Perspektive die grundlegende, Gott offenbarende Botschaft der Erneuerung des Lebens in der Überwindung des Todes und in der Zueignung des ewigen Lebens entspricht. Diese Botschaft ist zugleich die „gute Nachricht“ – das „Evangelium“ – von der Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes und stellt ihrerseits Gott als Inbegriff des Lebendigen und als Schöpfer des Lebendigen, wie es in seinem Namen zum Ausdruck kommt, dar. Der Zeichenaspekt reflektiert das verbindende Element – das In-Verbindung-Treten des Substanzhaften mit der Welt. Dies muss in der Form einer Äußerung – einer „Darstellung“ („representation“) – geschehen, die in theologischer Hinsicht angemessen in das Deutungsmuster von „Verheißung und Erfüllung“ gefasst werden kann: Es geht hierbei um heilsgeschichtliche, in Worten und Taten zeichenhaft erkennbare Ankündigungen und ihre ebenso in Worten und Taten zeichenhaft vermittelte Einlösungen. Das Moment der Bedeutung schließlich umschreibt die entscheidende Komponente des semiotischen Erschließungsprozesses – die Bedeutungsbildung. Das Bezeichnete und das Bezeichnende werden aufeinander bezogen, das heißt das bezeichnete Ding wird dem Verstand zur Anschauung gebracht. Die Aspekte der „Deutung“ und „Bedeutung“ fließen ineinander: Was gedeutet ist, ist zugleich bedeutend. Theologisch gesehen muss die Selbstentäußerung Gottes, die sein Sohn überbringt, zu den Menschen als erkennende Subjekte gelangen, um den semiotischen Prozess abzuschließen. Damit sind die Begriffe „Vollmacht“ des Boten Jesus sowie „Glaube“ des bzw. der Menschen gegeben: Ob die Menschen Jesus Glauben schenken, hängt davon ab, ob sie die in den Wort- und Tatzeichen Christi sich darstellende Vollmacht, die die messianische Identität Jesu – des Sohnes Gottes – bezeichnet, als solche erkennen. Da die jesuanische Vollmacht der göttlichen Allmacht (oder Vollmacht) entspringt, trifft damit auch der Glaube oder Unglaube der Mitmenschen Jesu – und der Leser oder Hörer des Evangeliums – Gott selbst in seiner Machtfülle. Die theologische Zuordnung von „Vollmacht“ und „Glaube“ bezieht sich somit mittelbar auf das offenbarende Handeln Gottes. In den drei Dichotomien „Tod und Leben“, „Verheißung und Erfüllung“ sowie „Vollmacht und Glaube“ dokumentiert sich also die Offenbarung des lebendigen und lebensspendenden Gottes. Die den drei semiotischen Kategorien wie Funktionen zugeordneten drei theologischen Dichotomien, die im Kern offenbarungstheologisch-schöpfungstheologisch orientiert und pneumatologisch-soteriologisch strukturiert sind, deuten die Jesusgeschichte als Heilsgeschichte, indem sie auf das irdische Schicksal des Jesus von Nazaret ausgerichtet sind. Das heißt, sie beziehen sich auf Person und Lehre Jesu – auf den Messias sowie seine Ankündigung des Gottesreiches und auf die Auferstehung Jesu, die den Menschen seiner Zeit und aller Zeiten das ewige Leben schenkt. Im endzeitlichen Gottesboten und zugleich in seiner damit untrennbar verbundenen Botschaft konvergieren die drei theologischen Begriffspaare, die die Bedeutung Jesu in semiotischer Perspektive ermitteln und vermitteln. Daher stellt die methodische Fokussierung auf die Aktion Jesu und die Reaktion seiner Zeitgenossen – also auf die Figuren der Erzählung – eine sinnvolle Strukturierung des episodenhaft gestalteten Markusevangeliums dar.

 

5. Taufe und Versuchung

Der Anspruch Jesu, im Namen Gottes zu handeln, bildet den theologischen Kern des gesamten Markusevangeliums: Es geht um die Frage nach der wahren Identität des Mannes aus Nazaret.1 Pointiert kommt dieses zentrale Thema der Vollmacht Jesu schon recht früh im Evangelium in Mk 6,3a. b in der verwunderten Reaktion der Nazarener über das souveräne Auftreten Jesu zum Ausdruck: οὐχ οὗτός ἐστιν ὁ τέκτων, ὁ υἱὸς τῆς Μαρίας καὶ ἀδελφὸς Ἰακώβου καὶ Ἰωσῆτος καὶ Ἰούδα καὶ Σίμωνος; – „Ist dieser nicht der Zimmermann – der Sohn der Maria und der Bruder des Jakobus und des Joses und des Juda und des Simon?“ Die Menschen aus dem näheren Umfeld Jesu meinen, diesen Mann zu kennen – aber sie kennen ihn anscheinend doch nicht. Die Aufzählung der zahlreichen Fragen der Nachbarn Jesu (vgl. Mk 6,2c–3c) belegt ihr Erstaunen: Der ihnen doch so vertraute Mann redet jetzt charismatisch wie ein Prophet (σοφία – vgl. Mk 6,2d)! Wie kann das bloß sein? Den nach ihrem Empfinden offenkundigen Widerspruch können sich die Nazarener nicht erklären und lehnen daher Jesus mit seiner Botschaft entschieden ab (vgl. καὶ ἐσκανδαλίζοντο ἐν αὐτῷ – vgl. Mk 6,3d). Nicht nur für die Nachbarn und Bekannten Jesu, sondern auch für die Rezipienten des Markusevangeliums stellt sich so die grundsätzliche Frage: Wer ist denn überhaupt „dieser“ (οὗτός – vgl. Mk 6,3a) vermeintlich gewöhnliche Zimmermann aus Nazaret? Markus gibt darauf in der Tauf- und Versuchungsszene Mk 1,9–13 eine eindeutige Antwort. Hier wird nüchtern berichtet, dass „Jesus von Nazaret“ (Ἰησσῦς ἀπὸ Ναζαρέτ – vgl. Mk 1,9) zu Johannes dem Täufer kommt, um sich von ihm im Jordan taufen zu lassen. Die Einführung der Person Jesu mit dem schlichten Abstammungshinweis verdeutlicht die noch gewöhnliche Existenz Jesu, die sich durch die nun folgende Gabe des göttlichen Geistes grundlegend wandeln wird. Die alttestamentliche, feierlich-hoheitliche Formulierung καὶ ἐγένετο ἐν ἐκείναις ταῖς ἡμέραις („Und es ereignete sich in jenen Tagen …“) gleich zu Beginn des Verses weist auf diesen Kontrast hin.

5.1. Text und Kontext

Die Geschichte Jesu als offenbarungstheologisch-schöpfungstheologisch geprägte Erzählung über den Sohn Gottes (vgl. Mk 1,1) wird in der Tauf- und Versuchungsepisode mit der Geschichte des wirkenden Geistes parallelisiert. Somit begründet die pneumatologische Bestimmung das apokalyptisch-eschatologische wie soteriologisch-christologische Deutungskonzept. Die Perikope präsentiert sich im Hinblick auf die Geistthematik in ihrer narrativen Struktur als Diptychon, das mit der Erzählung von Taufe – vgl. Mk 1,9–11 – und Versuchung – vgl. Mk 1,12–13 – die Begabung Jesu mit dem Geist und seine Bewährung im Geist schildert.1 In beiden Szenen ist also Jesus der Protagonist, dessen Erwählung zum Sohn Gottes in einer bildgewaltigen und symbolträchtigen (das heißt apokalyptisch-eschatologischen)2 Darstellung ausgeführt wird (vgl. den folgenden Haupttext).

Das den beiden Geschichten gemeinsame Moment des Geistes3 begründet in der Forschungsliteratur die These von der Einheitlichkeit beider Erzählstücke. Entweder lag die Zusammenfügung bereits ursprünglich vor, oder sie wurde spätestens durch Markus hergestellt.4 Der Verweis auf den Aspekt des Geistes ist in der Tat das ausschlaggebende Argument: Die Geistthematik stellt gerade die Pointe des Textstückes dar, so dass meines Erachtens von einer schon vormarkinischen Einheitlichkeit der vermeintlich eigenständigen Szenen auszugehen ist.5 Dafür spricht in formaler Hinsicht auch die sprachliche Gestaltung durch die Wiederholung der markanten Wendung καὶ εὐθύς6 jeweils am Anfang von Mk 1,10 und Mk 1,12, die sich auf die Erscheinung (Taufszene) bzw. die Wirkung (Versuchungsszene) des Geistes bezieht.7 Ferner sind die Tauf- und die Versuchungsgeschichte mit je einer Schilderung sowie einer Deutung der Situation parallel aufgebaut.8 Diese Beobachtung lässt sich auch in semiotischer Hinsicht bestätigen, denn die Erzählweise repräsentiert gerade frappierend die triadische Systematik des Ding-, Zeichen- und Bedeutungsaspektes (siehe unten). Ergänzend können als Argumente für die Einheitlichkeit einerseits der mehrmalige Gebrauch des Personalpronomens αὐτός (in Mk 1,10. 12. 13), das auf Jesus rekurriert, dessen Name aber allein im V. 9 vorkommt, sowie andererseits der ebenfalls logisch aufeinander folgende Wechsel des Schauplatzes der Handlung vom Jordan (vgl. Mk 1,9) in die Wüste (vgl. Mk 1,12. 13) angeführt werden.9 Zudem spiegeln sich in beiden Szenen die haggadische Gestaltung und die christologische Deutung wider.10 Aufgrund der festen Struktur dieses Traditionsstückes ist die redaktionelle Arbeit des Evangelisten wohl gering zu veranschlagen.11 Die somit insgesamt inhaltlich abgeschlossen wirkende Perikope lässt eine vom voraufgehenden Text gesonderte Überlieferung12 vermuten. Darauf verweisen zum einen die schon genannte feierliche Eröffnungsformel und zum zweiten die nochmalige Erwähnung der Tauftätigkeit des Johannes.13

So ergibt sich eine mit der semiotischen Matrix zu entwickelnde triadische Struktur des Textabschnittes Mk 1,9–13. Jeder Vers repräsentiert dabei jeweils eine der für die Peirce’sche Ausprägung der Semiotik charakteristischen Kategorien von „Ding“, „Zeichen“ und „Bedeutung“. Eine Ausnahme findet sich nur im V. 13, in dem der Zeichen- und der Bedeutungsaspekt zusammengefasst sind, wie der nachstehende Aufriss veranschaulichen wird: Der Vers 9 leitet die Taufszene, der Historizität nicht abzusprechen ist,14 ein. Der Erzähler blickt darin auf die Darstellung der Tauftätigkeit durch Johannes im Jordan zurück, von der in der vorausgegangenen Episode gleich dreimal die Rede ist – nämlich in Mk 1,4. 5. 8. Im V. 8 verknüpft sich die Wasserhandlung mit der Geisttaufe und weist voraus auf den schon in Mk 1,7b angekündigten „Stärkeren“. „Jesus von Nazaret in Galiläa“ als dieser „Stärkere“ wird nun im V. 9 eingeführt15; er unterzieht sich wie alle anderen zu Johannes geströmten Menschen der Taufe, indem er in den Fluss steigt und dort von Johannes untergetaucht wird. Der Taufakt repräsentiert in semiotischer Hinsicht den Dingaspekt. Im V. 10 berichtet der Erzähler von der Vision, die Jesus in dem Moment widerfährt, als er den Jordan verlässt: Er sieht den Himmel geöffnet und den Geist Gottes daraus hervorkommen, der sich nun „wie eine Taube“ auf ihm niederlässt und in ihn eindringt. Aus der markinischen Formulierung – der Analogie ὡς περιστεράν – geht klar hervor, dass die dargestellte Begebenheit symbolisch zu verstehen ist. Sie ist ein Zeichen für Gottes Gegenwart. Somit lässt sich in dieser göttlichen Intervention, die Initiationscharakter hat, der Zeichenaspekt der semiotischen Triade wiedererkennen. Dieses visionäre Ereignis deutet die „Stimme aus dem Himmel“ im Vers 11: Zur Vision tritt nun noch eine Audition. Es ist die Stimme Gottes, die Jesus mit der soeben geschehenen Geistverleihung zum „geliebten Sohn“ annimmt. Jesus wird zum „Sohn Gottes“ proklamiert und als solcher adoptiert. Darin kommt die Verheißung Gottes auf den Anbruch seiner Königsherrschaft zum Ausdruck, der mit der Sendung des Menschensohnes zur Erfüllung gelangt. Diese Aussage spiegelt das Bedeutungsmoment in der semiotischen Hermeneutik wider. Damit endet die Taufszene – der erste Teil der Doppelperikope.

 

Die in den VV. 9–11 geschilderte bildhafte Vermittlung des göttlichen Geistes stellt die Voraussetzung für die nun folgende Versuchungsperikope dar: Der Heilige Geist „treibt“ Jesus vom Jordan jetzt „hinein in die Wüste“ (vgl. V. 12). Es geht um eine Aussage über das Wesen des Geistes: Er ist eine vorwärtsdrängende Kraft, ist δύναμις. Damit ist – semiotisch gesehen – der Dingaspekt angesprochen. Nach diesem Ortswechsel beschreibt der Erzähler im Vers 13 die sich anschließende Handlung. Jesus hält sich „vierzig Tage“ in der Einöde auf, während er vom „Satan“ „versucht“ wird; zugleich lebt er inmitten „wilder Tiere“ und empfängt den Dienst der Engel. Die Darstellung der Versuchung hat wohl einen historischen Kern,16 zeigt aber zugleich eine bewusste Gestaltung. Die Prüfung durch den Widersacher Gottes ist analog der Geistbegabung im Vers 10 gehalten. Auch der V. 13 handelt vom zeichenhaften Moment: Wie Jesus der Geist in der Gestalt einer Taube begegnet, so wird der nun mit göttlicher Kraft Ausgestattete von der widergöttlichen Macht in Gestalt des Teufels in Versuchung geführt (vgl. V. 13a). Der Tierfrieden und der Engelsdienst (vgl. V. 13b. c) dagegen belegen, dass Jesus die Bewährungsprobe bestanden hat. Diese beiden Motive stellen die Interpretamente der Versuchungsszene dar, präsentieren sie doch den Bedeutungsaspekt in einer protologisch-eschatologisch geprägten Szene und markieren somit bereits am Anfang des Evangeliums die Erfüllung der mit der Geisttaufe Jesu angestoßenen messianischen Hoffnung. Aus semiotischem Fokus betrachtet, enthält also der Vers 13 den Zeichen- wie den Bedeutungsaspekt (vgl. Tabelle 1 am Ende des Kapitels).

Die Perikope fügt sich sinnvoll in den Kontext des Anfangs des Markusevangeliums ein. Die Stelle im Evangelium, an der die Szene jetzt steht, lässt sich nämlich gut begründen: Die Doppelperikope Mk 1,9–13 repräsentiert eine Legitimationserzählung für den Vollmachtsanspruch Jesu. Seine Identität als endzeitlicher, mit dem Geist Gottes ausgerüsteter Übermittler der Königsherrschaft Gottes wird darin anschaulich. Man könnte die Tauf- wie die Versuchungsepisode, die eine Sinneinheit bilden, in einer gemeinsamen Textgattung zusammenfassen und diese sachlich angemessen als eine „Berufungsgeschichte sui generis“ bezeichnen. Der Zusatz „sui generis“ erscheint nötig, da die Vollmacht Jesu zwar einerseits auf das Erwählungshandeln Gottes zurückgeführt wird,17 aber andererseits das für die Prophetenbeauftragung konstitutive, göttliche Sendungswort fehlt.18

Die in Mk 1,9–13 geschilderte Handlung von Taufe und Versuchung ist gedeutetes Geschehen: Die neue Existenz Jesu bleibt den ihn umgebenden Menschen allerdings verborgen; selbst der Täufer, der dem Ereignis buchstäblich noch am nächsten steht, ist bloße „Staffage“. Es gibt keine Augen- und Ohrenzeugen für die Vision und Audition Jesu in der Taufszene (vgl. Mk 1,10: εἶδεν; vgl. Mk 1,11: ἐγένετο: Der Konnex mit dem vorausgehenden Lexem εἶδεν zeigt deutlich, dass Jesus der ausschließliche Empfänger der Vision ist), und beim Wüstenaufenthalt ist es evident, dass Jesus allein ist, als der Satan an ihn herantritt und die wilden Tiere und die Engel bei ihm sind. Geteilt wird die Offenlegung der Gottessohnschaft Jesu ausschließlich mit dem Leser des Buches; für die Menschen in der Szene bleibt Jesu messianische Identität weiterhin zweifelhaft. Sie kann nur – wie der weitere Weg Jesu zeigen wird – im Glauben, im Bekenntnis erfasst werden. Das Moment des sogenannten „Messiasgeheimnisses“ scheint damit gleich mit dem ersten Auftreten Jesu im Evangelium auf. Enthüllung und Verhüllung sind also die Aspekte, die das Wesen Jesu als den „Christos“ oder „Christus“ (den „Gesalbten“, den „Messias“) auszeichnen, und die mit Gottes unergründlichem Sein, das durch die Verbundenheit von Immanenz und Transzendenz charakterisiert ist, korrespondieren. Hierin kommt das wahre Wesen Jesu als Sohn Gottes zum Ausdruck. Wie JHWH ist auch Jesus Christus geheimnisvoll. Ganz offenbar wird seine wahre Identität jedoch erst in Kreuz (vgl. Mk 15,33–47) und Auferstehung (vgl. Mk 16,1–8). Allerdings ist diese Offenbarung auch dort zunächst nur auf einen kleinen Kreis Eingeweihter beschränkt – nämlich auf die Frauen und vor allem auf die Jünger. Anfang und Ende des Evangeliums verbinden sich auf diese Weise.

Die kurze Tauf- und Versuchungsszene Mk 1,9–13 gehört deswegen zu den eindrucksvollsten Beispielen für das im Markusevangelium häufig verwendete Stilmittel der Intratextualität, das die hermeneutische Beziehung zwischen den Einzeltexten und dem Gesamttext stiftet und so die markinische „Relecture“ begründet. Die Episode Mk 1,9–13 weist damit voraus auf das letzte Kapitel der Schrift. Sie geht aber gleichermaßen zurück auf den eröffnenden Vers des ersten Kapitels, der mit dem Begriff „Evangelium“ einerseits und der christologischen Titulatur „Sohn Gottes“19 andererseits die Botschaft Gottes mit dem Botschafter Gottes verbindet und dadurch Jesu „wahres Ich“ deutet: Der dort von der Stimme des Erzählers benannte „Gottessohn“ (vgl. υἱός θεοῦ) wird in Mk 1,11 von der Himmelsstimme als „geliebter Sohn“ (ὁ υἱός […] ὁ ἀγαπητός) bezeichnet. Sprachlich unterstreicht der die Taufszene rahmende feierlich-hoheitliche Terminus ἐγένετο in Mk 1,9 und Mk 1,11 die göttliche, geistgewirkte Bevollmächtigung und damit die rechtmäßige Vollmacht Jesu. Darüber hinaus nimmt das Motiv des „Evangeliums“ das Summarium der Gottesreichspredigt Jesu in Mk 1,14–15 vorweg.

Die Szene Mk 1,2–8 bezieht die Personen und ihre Handlung auf die unmittelbar folgende Tauf- und Versuchungserzählung: Zum einen wird Johannes der Täufer (vgl. Mk 1,4. 6. 9) mit Jesus von Nazaret (vgl. Mk 1,9) verbunden, die vergangene (vgl. den Aorist ἐβάπτισα – vgl. Mk 1,8a) Taufe „mit Wasser“ (ὕδατι – vgl. Mk 1,8a; vgl. das Heraussteigen Jesu aus dem Wasser in Mk 1,10) durch Johannes und die zukünftige (vgl. die Futurform βαπτίσει – vgl. Mk 1,8b; ὀπίσω μου – vgl. Mk 1,7b) Taufe „mit dem Heiligen Geist“ (ἐν πνεύματι ἁγιῳ – vgl. Mk 1,8b; vgl. die Herabkunft des Geistes in Mk 1,10) durch Jesus werden einander gegenübergestellt. Zum zweiten ist es hier in Mk 1,2–8 die Himmelsstimme, die den Täufer zum letzten „Boten“ (ἄγγελος – vgl. Mk 1,2b)20 in der Zeit – im alten Äon – und damit zum Vorläufer des κύριος – des „Herrn“ – bestimmt, während dort in Mk 1,9–11 durch die gleiche himmlische Stimme Jesus zum „Sohn Gottes“ in der Endzeit – im neuen Äon – ausgerufen wird. Die Perikopen Mk 1,2–8 und Mk 1,9–13 zeigen somit den Aufbau einer Klimax: In ihrer Aussage stehen sie im Verhältnis von Verheißung (Johannes der Täufer, Bote / Prophet, Wassertaufe) und Erfüllung (Jesus von Nazaret, Herr / Messias, Geisttaufe), von menschlich-prophetischem Handeln und göttlich-messianischem Tun (vgl. Mk 1,7b: „der stärker ist als ich“ – ὁ ἰσχυρότερός μου; vgl. Mk 1,7c: οὗ οὐκ εἰμὶ ἱκανὸς κύψας λῦσαι τὸν ἱμάντα τῶν ὑποδημάτων αὐτοῦ). Die Abschnitte Mk 1,1 – der Titel des Markusevangeliums –, Mk 1,2–8 – die „Täuferperikope“ – und Mk 1,14–15 – die „Predigtperikope“ – bilden somit den erzählerischen Rahmen für die Stelle Mk 1,9–13. Alle genannten Textstücke repräsentieren die größere Erzähleinheit Mk 1,1–1521 – den „großen Markusprolog“ –, der die ἀρχή der Geschichte Jesu in ihrem dargestellten zweifachen Bedeutungsspektrum schildert. So enthält dieser semantisch komplexe Textabschnitt die Stichwortverbindung: „Gott“, „Sohn Gottes“, „Bote“, „Verkündigung“, „Johannes der Täufer“, „Jesus von Nazaret“, „Geist Gottes“, „Evangelium Gottes“ und „Königsherrschaft Gottes“, die die offenbarungs- und schöpfungstheologischen sowie pneumatologisch-christologischen Aussagen des gesamten Markusevangeliums in nuce anklingen lässt.