Das Portrait der Toten

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Das Portrait der Toten
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Ronald Fuchs

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Das Portrait

der Toten

Roman

Impressum

Buchtitel: Das Portrait der Toten

Autor: Ronald Fuchs

Copyright: ©2017 Ronald Fuchs

Verlag/Druck: epubli GmbH, Berlin,

www.epubli.de

ISBN 978-3-7450-3118-8 (Softcover) ISBN: 978-3-7450-3117-1 (Hardcover) Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet: https://portal.dnb.de/

Der Roman

Das Portrait der Toten

ist meiner lieben Mutter

Rose-Lene Fuchs,

geb. Brandt

(*12.12.1921 in Wilhelmshaven, †20.06.2012 in Köln)

gewidmet.

Inhaltsverzeichnis des Romans

Das Portrait der Toten

Im Ort des Verbrechens

01. ― Das Haupt

02. ― Zum Postillion

03. ― Die Erleuchtung

04. ― Der schwarze Pier

05. ― Unter Verdacht

06. ― Das Spukschloss

07. ― Die Spur

08. ― Der Kelch

09. ― Das Pokerspiel

10. ― Die Streitaxt

Die Aufzeichnungen der

Baronin Rose-Lene de Brandt

11. ― Chapitre I ― Der Brief

12. ― Chapitre II ― Die Ereignisse in Louisiana

13. ― Chapitre III ― Rivalen

14. ― Chapitre IV ― Hinkefuß

15. ― Chapitre V ― Das Sommernachtsfest

16. ― Chapitre VI ― Die Soiree

17. ― Chapitre VII ― Der Überfall

18. ― Chapitre VIII ― Die Säuberung

19. ― Chapitre IX ― Der Kommissar

20. ― Chapitre X ― Das Portrait

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21. ― Der Schatz

Das Portrait der Toten

Im Ort des Verbrechens

1/21 ― Das Haupt

„Ich hab's doch gewusst! Du hast dich schon wieder verfahren ‒ und das bei diesem Unwetter! Immer verfährst du dich! Dabei bist du doch schon einmal hier gewesen ‒ und trotzdem verfährst du dich!“

„Ich war noch nie hier, Liebling.“

„Du hast mir doch selbst erzählt, dass du schon einmal an der Loire gewesen bist!“

„Ja, vor sieben Jahren, kurz vor unserer Hochzeit ‒ aber nicht hier, sondern in der Gegend von Nantes.

„Natürlich ‒ und auf unserer Hochzeitsreise bist du dann mit mir nur an die Nordsee nach Büsum zu deinem Onkel gefahren.“

„Wir hatten doch damals nicht viel Geld und das Haus von meinem Onkel stand leer, weil er mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus lag.“

„Tja, das war eine billige Hochzeitsreise für dich gewesen: kostenloses Hausen ‒ denn Wohnen konnte man das ja wohl nicht nennen, in dem Saustall! Und sagtest du gerade "Haus" zu der Kate deines Onkels?“

„Na, so schlimm war es ja nun auch wieder nicht.“

„Es war sogar noch schlimmer! ‒ Erst musste ich den Dreckstall deines Onkels aufräumen und putzen ...“

„Nur ein paar Kleidungsstücke in den Schrank hängen und etwas Geschirr spülen.“

„Und die herumliegenden Zeitungen und die vollen Aschenbecher und die halbvollen Groggläser?“

„Da war nur ein Glas und eine Zeitung und ein voller Aschenbecher.“

„Nein, da waren zwei Gläser und zwei Aschenbecher und überall Staub und der Mülleimer war auch voll, und ich musste das alles wegmachen ‒ auf meiner Hochzeitsreise!“

„Ich habe dir doch geholfen.“

„Das wäre wohl auch noch schöner gewesen, wenn du dich einfach aufs Sofa gelegt und mich hättest schuften lassen ‒ nach der anstrengenden Reise in unserem kleinen Auto!“

„Ich bin doch gefahren, du warst nur Beifahrerin.“

„Ja, meinst du vielleicht, dass mich die Fahrt nicht angestrengt hat? Willst du mir jetzt vorwerfen, dass ich nicht Autofahren kann? Ich habe nun mal keinen Führerschein!“

„Ich werfe dir gar nichts vor ‒ aber müde war ich auch und habe dir trotzdem geholfen.“

„Das war ja auch keine große Arbeit. ‒ Außerdem mussten wir dauernd deinen Onkel im Krankenhaus besuchen.“

„Du bist nur zweimal mitgekommen ‒ bei unserer Ankunft, weil wir den Hausschlüssel abholen mussten und vor unserer Abreise, um ihn wieder zurückzugeben. Das hat jeweils nur zehn Minuten gedauert, also zusammen ganze zwanzig Minuten von zwei Flitterwochen.“

„Das waren keine Flitterwochen, das waren Zitterwochen da oben an deiner Nordsee!“

„Wir hatten auch ein paar schöne Tage.“

„Auch an den "schönen" Tagen war es eisig kalt an deiner Nordsee, und dauernd wehte der Wind und machte hohe Wellen.“

„Warum störten dich die Wellen? Du gehst doch sowieso nicht ins Wasser, weil du nicht schwimmen kannst, und in die Sonne legst du dich auch nicht, weil du Angst vor einem Sonnenbrand hast.“

„Was kann ich dafür, dass meine Haut so empfindlich ist?! ‒ Jedenfalls fährst du mit mir immer nur dahin, wo das Wetter schlecht ist!“

„Entschuldige mal, Edith, für das Wetter kann ich nun wirklich nichts!“

Es wurde dunkel und Robert schaltete die Scheinwerfer ein.

„Pass auf wo du hinfährst! Beinahe wären wir im Graben gelandet! Willst du mich umbringen?“ kreischte seine Frau Edith auf dem Beifahrersitz.

„Ich passe schon auf, Liebling. Es ist ja nichts passiert.“

„Nur, weil ich dich rechtzeitig gewarnt habe!“

„Ja, Liebling, natürlich.“

„Sag nicht immer "Liebling"! Konzentriere dich lieber auf diese schmale Straße und fahr langsamer! ‒ Dieser Regen wird auch immer stärker. Genau so, wie an deiner Nordsee ‒ immer nur Regen!“

Der Wagen machte ein verdächtiges Geräusch.

„Was war das? Hast du das gehört?“

„Ja, Lieb...., reg dich nicht auf.“

„Ich soll mich nicht aufregen? Der Wagen geht kaputt in dieser Einöde, bei strömendem Regen und ich soll mich nicht aufregen?!“

„Wir sind nicht in der Wüste. Hier gibt es Ortschaften mit freundlichen Leuten, die uns helfen werden.“

„Wo denn? Ich sehe keine! Und das sag' ich dir gleich: ich steige bei diesem Wetter nicht aus!“

Der Wagen fing an zu ruckeln.

„Hahaa, jetzt bockt dein Autochen auch noch wie ein Rodeopferd. Fahren wir noch oder reiten wir schon? Bleib bloß nicht stehen bevor wir ein Hotel gefunden haben ‒ dann ist mir alles egal. ‒ Wenn ich das vorher gewusst hätte, wär' ich gar nicht erst mitgefahren. ‒ Das Geruckel ist ja unerträglich!“

„Ich schalte mal einen Gang zurück, vielleicht wird es dann besser.“ Robert schaltete.

„Tatsächlich, ein Wunder, dein Autochen bockt nicht mehr ‒ dafür ist es jetzt langsam wie eine Schnecke.“

„Wir sind im Urlaub, wir haben Zeit.“

„Aber ich habe Hunger und bin müde und will ins Bett, und wenn du weiter so herumzuckelst, werden alle Restaurants und Hotels geschlossen sein und wir werden hungrig im Auto übernachten müssen! ‒ Aber das sage ich dir: wenn du mir das zumutest, fahre ich morgen mit der Bahn erster Klasse zurück nach Hause!“

Während Robert noch das Für und Wider dieser Option erwog, tauchte vor ihnen im Scheinwerferlicht die Einfahrt zu einem burgartigen Landsitz auf. Das schmiedeeiserne Hoftor stand offen und die Fenster in der ersten Etage waren hell erleuchtet.

„Fahr sofort da rein und frag nach dem Weg!“, befahl Edith.

„Warum? Wir müssen einfach nur der Straße folgen, dann kommen wir automatisch in die nächste Ortschaft.“

„Du gehst da jetzt rein und fragst, wo das nächste Hotel ist! Das kann man wohl mindestens von dir verlangen, nach dieser Fahrerei!“

Robert fügte sich, fuhr auf den Hof und hielt vor dem Portal des Gutshauses. Blitze zuckten, der Donner grollte, der Regen trommelte aufs Autodach. Robert zögerte.

„Na los, steig aus! Worauf wartest du?“, drängte ihn Edith ungeduldig.

„Landhäuser werden oft von großen Hunden bewacht“, gab Robert zu bedenken.

„Siehst du hier irgendwo einen Hund?“, fauchte Edith.

„Bei diesem Wetter geht doch kein Hund vor die Tür! ‒ Also los, steig aus!“

Robert verließ den Wagen und eilte zum Hauseingang. An der Decke des Vordaches schaukelte quietschend eine Laterne im Wind und verbreitete ein fahles Licht. Huschte da nicht eben jemand über den Hof? Die schwere hölzerne Eingangstür war nur angelehnt. Er zog an der Türglocke und hörte ihr schrilles, durchdringendes "Bimbim, Bimbim." Er wartete. Nichts rührte sich. Er läutete noch einmal. Wieder nichts. ‒ Vorsichtig öffnete er die Tür einen spaltbreit und blickte in eine geräumige Eingangshalle, die nur von einer alten bronzenen Petroleumlampe beleuchtet wurde. Der Fußboden war mit hellgrauen Fliesen belegt. In der Mitte waren farbige Mosaiksteine zu einem Wappen zusammengefügt. Robert scheute sich, ungebeten einzutreten. Gerade wollte er wieder zum Wagen zurück gehen, als er Edith durch das geöffnete Seitenfenster keifen hörte: „Nun geh schon hinein, die Tür ist doch offen! Wie lange soll ich denn noch warten?“

Zögernd betrat Robert die Eingangshalle. Hinter ihm fiel die Tür zu. Robert erschrak. Schnell drehte er sich um und zog an der Türklinke. Gott sei Dank, die Tür öffnete sich wieder, der Rückweg war noch frei. Robert fühlte sich als Eindringling unbehaglich, wagte aber nicht, sofort umzukehren. Er wollte ein Weilchen hier an der Tür stehen bleiben. Dann würde Edith glauben, er habe mit dem Hausherrn gesprochen.

Die Halle war unmöbliert. Auf der linken und rechten Seite vom Eingang befanden sich vergitterte Fenster, durch die der gespenstische Schein der schaukelnden Außenlaterne fiel.

„Hallo, ist jemand zu Hause?“, fragte Robert zaghaft in die Stille. Visavis der Haustür, auf der anderen Seite der Halle, führte ein unbeleuchteter Korridor ins Innere des Gebäudes. Ein schwacher Lichtschein fiel aus einem Zimmer in diesen Gang. Magisch angezogen bewegte sich Robert in Richtung des dunklen Korridors. Er erreichte die Mitte der Halle und stand nun auf dem im Boden eingelegten Hauswappen unter der Petroleumlampe. Es zeigte einen Ritterhelm und einen Schild, auf dem eine Rose prangte. Robert trat einen Schritt vor, weil er nicht auf dem Wappen stehen wollte. Nun war die Deckenlampe hinter ihm und blendete ihn nicht mehr, sodass er jetzt sehen konnte, dass da etwas schwarz gerahmt über dem Flureingang hing. Er trat noch einen Schritt näher. Was für ein Bildnis! Es schien ihn anzublicken. Robert ging noch näher heran ‒ dann erkannte er zu seinem Schrecken, was dort vor einem dunklen Hintergrund mit stechenden Augen auf ihn herab blickte: der von wirren roten Haaren, von denen drei Strähnen wie Blutspuren auf dem bleichen Antlitz lagen, umgebene Kopf einer Frau. Robert machte auf dem Absatz kehrt und rannte aus dem Haus ‒ fast so leichenblass wie das Gesicht in dem schwarzen Schellackrahmen.

 

2/21 ― Zum Postillion

„Weißt du jetzt den Weg?“, fragte Edith als Robert in den Wagen stieg und fügte gleich hinzu: „Verfahr' dich bloß nicht wieder!“

Noch schaudernd tuckerte Robert durch das Hoftor.

„Ist das auch der richtige Weg?“, zweifelte Edith schon nach ein paar Minuten.

„Ja, Liebling, ich glaube schon.“

„Was soll das heißen ‒ ich glaube? Weißt du es, oder glaubst du nur, es zu wissen?“

Noch bevor Edith richtig in Fahrt kommen konnte, tauchten aus der Dunkelheit Häuser und ein Ortsschild mit dem Namen Q. auf.

„Siehst du, da ist ein Dorf“, sagte Robert aufatmend.

„Ja, ein Kuhdorf ‒ wahrscheinlich ohne Hotel“, grantelte Edith.

Mit stotterndem Motor erreichten sie den Dorfplatz und blieben vor dem Gasthof Zum Postillion stehen. Robert stieg aus und spurtete durch den strömenden Regen zum Eingang.

„Frag nach einem Zimmer!“, rief ihm Edith überflüssigerweise nach.

Triefend nass betrat er den Schankraum und erntete mitleidige, aber auch neugierige Blicke von der Wirtin, einer drallen Brünette, und den vier alten Kartenspielern an dem großen Eichentisch. Robert grüßte und fragte nach einem Zimmer. Die Wirtin bot ihm ein mit Blümchentapete verziertes Fremdenzimmer im ersten Stock an. Robert holte Edith und die Koffer. Während des Abendessens murrte und mäkelte Edith ständig. Das Gasthaus war ihr nicht fein genug und die Treppe zu steil. Nach dem Essen war sie jedoch müde und ging schlafen.

Robert blieb in der Wirtsstube, bestellte sich einen Loirewein und fragte die Wirtin nach dem Gutshaus.

„Dort wohnt die Baronin. Ihrer Familie hat früher das ganze Dorf mit dem Land drumherum gehört. Warum fragen Sie, Monsieur?“

„Weil ich vorhin in dem Haus gewesen bin, um nach dem Weg zu fragen. Aber es hat sich niemand gezeigt, obwohl im Obergeschoss Licht brannte.“

„Dann war auch jemand zu Hause“, sagte die Wirtin. „Aber, Monsieur, wie sind Sie denn in das Haus hineingekommen, wenn ihnen niemand geöffnet hat?“

„Die Tür war offen.“

„Ach ‒ und da sind Sie einfach hineinspaziert?“ Die Wirtin schaute missbilligend.

„Nur bis in die Eingangshalle“, antwortete Robert verlegen. „Dort habe ich gerufen und kurze Zeit gewartet. Als niemand kam, bin ich wieder gegangen.“

„Nun“, meinte die Wirtin, „wenn das Licht brannte und die Eingangstür offen war, muss die Baronin zu Hause gewesen sein. Vielleicht haben sie nicht lange genug gewartet.“

„Kennen Sie die Baronin persönlich?“, fragte Robert.

„Nein, ich habe sie noch nie gesehen, aber mein Mann kennt sie. Wir haben dieses Wirtshaus von ihr gepachtet.“

„Ich habe vorhin dort in der Vorhalle etwas ganz Schreckliches gesehen: das gerahmte Haupt einer Toten!“, berichtete Robert aufgeregt.

„Nein, nein, junger Mann“, mischte sich ein wohlbeleibter älterer Herr aus der Kartenspielerrunde ein, „das habe ich auch geglaubt, als ich es zum ersten Mal sah. ‒ Aber tatsächlich ist es nur ein Ölbild. Es ist wirklich grausig anzusehen und erschreckt jeden, wie der Kopf der Medusa. Es ist ein wahres Meisterwerk. Ich würde gern mehr über dieses seltsame Portrait wissen und habe die Baronin auch schon danach gefragt ‒ aber leider vergebens.“

„Sie kennen die Baronin persönlich?“ Robert war wie elektrisiert.

„Ich kenne hier jeden. Ich bin nämlich der Dorfpfarrer“, lachte der Alte und reichte Robert die Hand.

Robert stellte sich dem Pfarrer und dessen Freunden vor.

„Sind Sie ein Verwandter unserer Baronin Rose-Lene de Brandt?“, fragte der Pfarrer überrascht.

„Ja, ich bin ihr Enkel. Mein Vater, der kurz vor meiner Geburt verstorben ist, war ihr Sohn. Auch meine Großmutter kenne ich nicht persönlich. Meine Mutter und ich hatten überhaupt keinen Kontakt zu ihr. Sie war gegen die Heirat meiner Eltern, weil sie die Deutschen nicht mochte. ‒ Eigentlich bin ich nur hier, weil ich mich verfahren habe, aber jetzt freue ich mich darauf, morgen den Geburtsort meines Vaters besichtigen zu können.“

„Na, dann sollten Sie aber auch ihre Großmutter besuchen“, meinte der Pfarrer.

„Ich weiß nicht, ob ich ihr überhaupt willkommen bin“, sagte Robert zögernd.

„Nun, das werden wir ja sehen. ‒ Kommen Sie morgen früh erst einmal zu mir in die Kirche. Nach der Messe nehme ich ihnen die Beichte ab. Anschließend werden wir hier im Gasthaus zu Mittag speisen und dann, nach ein paar kleinen Pastis, gehen wir zu ihrer Großmutter.“

Robert war etwas verblüfft über des Pfarrers Ansinnen, ihm die Beichte abnehmen zu wollen, beschloss aber leicht amüsiert, dem Wunsch seiner Geistlichkeit nachzukommen, weil ihm der kauzige alte Kerl sympathisch war.

3/21 ― Die Erleuchtung

„Hast du dich nach einer Werkstatt erkundigt?“, fragte Edith ihren Mann beim Erwachen am nächsten Morgen.

„Liebling, heute ist Sonntag, heute wird nicht gearbeitet“, gähnte ihr Mann.

„Aber morgen ‒ und heute kannst du dein Schrottauto schon vor die Werkstatt fahren ‒ wenn das überhaupt noch möglich ist! Du weißt doch, wo die Werkstatt ist, nicht wahr? Du hast dich doch erkundigt ‒ oder etwa nicht?“

Robert schluckte: „Nein, Liebling.“

„Ich hab's doch gewusst! Du hast es vergessen! Willst du denn ewig in diesem blöden Kuhdorf bleiben? Was hast du denn gestern Abend solange da unten in der Kneipe gemacht?“

„Ich hatte ein interessantes Gespräch mit dem Dorfpfarrer. Er hat mich zur Messe eingeladen.“

„So, zur Messe, dann wirst du jetzt wohl auch noch fromm? ‒ Es ist nicht zu fassen: der Mann hat ein kaputtes Auto und unterhält sich mit dem Pfarrer! ‒ Mit dem AUTOMECHANIKER musst du reden, oder glaubst du, der Pfarrer kann dein krankes Auto gesundbeten?“

Edith war wieder voll in Fahrt.

Robert kleidete sich rasch an und flüchtete in die Gaststube. Nach einem hastigen Frühstück schlenderte er durch den ruhigen Ort mit seinen alten Bauernhäusern. Eine mit Feldsteinen gepflasterte Allee führte durch Felder und Wiesen geradewegs zu einem schmiedeeisernen Gittertor in einer langen, hohen Mauer. Hinter dem Tor war in einem verwilderten Park schemenhaft ein dunkles Gemäuer erkennbar. Robert ging ins Dorf zurück, wobei er sich immer wieder nach dem Gittertor und dem Park umdrehte, mit dem unangenehmen Gefühl, beobachtet zu werden.

Die Straße endete an der Dorfkirche, einem einfachen, schmucklosen Feldsteinbau mit einem Glockentürmchen über dem Eingang. Nur durch einige kleine, verstaubte Fenster hoch über dem Altar im Osten, an den Seitenwänden und über dem Eingang im Westen fiel Licht in das schlichte Kirchenschiff mit seinen alten, abgewetzten Holzbänken. Unter einem großen Eichenkreuz an der Wand hinter dem Altar hing ein Tabernakel.

Ein pausbackiger Bauernjunge legte eine schwere Bibel auf den Altar und zündete die Kerzen des dreiarmiger Bronzeleuchters an.

Robert setzte sich in die erste Bankreihe. So konnte er im Licht der Kerzen das Bild auf dem geöffneten Tabernakel besser sehen. Es zeigte die Auferstehung Christi. Ein schöner, schwarzhaariger Heiland schwebte aufrecht stehend, dem Betrachter zugewandt, aus einem Sarkophag, dessen Deckplatte zerbrochen am Boden lag. Eine Aureole umgabt sein Haupt und eine Taube, Symbol des Heiligen Geistes, geleitete ihn zum Himmel. Unten rechts am Fußende des Sarkophags lagen zwei hübsche römische Soldaten schlafend im Staube. Erstaunlicherweise war einer der beiden Römer blond. Auf der linken Bildseite, am Kopfende des Sarkophags, kniete eine betende weibliche Gestalt in einem himmelblauen Gewand ‒ Maria. Unter dem herabgestürzten Sarkophagdeckel lag mit gebrochenem Rückgrat ein Krokodil, als Symbol des Bösen, und starrte boshaft aus gelbgrünen Augen den Betrachter an.

Über all dem, hoch oben in einer kleinen Wolke, wachte ein gütig blickender Gottvater. Er wurde umringt von fünf in hellblaue Kleidchen mit weißen Kragen und Säumen gekleidete Putti, von denen das eine rot, das nächste weiß, das dritte schwarz, das vierte gelb und das fünfte braun war.

Der Messdiener läutete die Kirchenglocke und das Gotteshaus füllte sich langsam ‒ hauptsächlich mit alten Männern, Frauen und Kindern. Als letzte erschien der dürre Apotheker mit seiner ebenso hageren Gattin. Sie schritten eingehakt, huldvoll nach links und rechts grüßend durch das Kirchenschiff und setzten sich in die vorderste Bankreihe neben Robert.

Endlich erschien auch der Pfarrer in seiner Soutane, schlug die Bibel auf und verkündete das Thema der heutigen Predigt: "Licht und Erkenntnis." Er begann den Gottesdienst mit einem alten Kirchenlied. Gebete, Fürbitten und Gesänge folgten einer etwas eigenwilligen Liturgie.

Da Robert weder die Gebete noch die Lieder kannte, wandte sich seine Aufmerksamkeit wieder dem Tabernakel zu. Irgend etwas irritierte ihn daran ‒ war es die Reliquie, angeblich ein Zeigefingerglied des Heiligen Florian, die in dem Sarkophag, aus dem Jesus aufstieg, hinter einer kleinen Glasscheibe aufbewahrt wurde oder war es das Hostienkästlein, das vor der knienden Maria in das Bild eingelassen war?

Während Robert noch darüber grübelte, hörte er die Worte des Pfarrers: „...unser Herr Jesus Christus ist also der Überwinder des Todes und der Finsternis. Er führt uns in die lichte Freiheit des christlichen Glaubens und spendet uns Trost, wenn wir die göttliche Wahrheit erkennen. Amen.“

Plötzlich wusste Robert, was so seltsam war an dem Tabernakelbild: es war die Vielzahl der Lichtquellen. Das Licht ging nicht nur von dem Herrgott, dem heiligen Geist und dem Heiligenschein des Erlösers aus, sondern auch von den beiden aufgemalten Fackeln auf den Innenseiten der linken und rechten Tabernakeltür. Diese Fackeln wurden von zwei blonden Frauen, die sich wie Mutter und Tochter ähnelten, gehalten und sandten ihr Licht gewissermaßen von außen auf die zentrale Szenerie der Auferstehung.

„Wenn das Licht ein Symbol für Erkenntnis und Freiheit ist“, überlegte Robert, „wollte der Künstler dann vielleicht andeuten, dass diese auch noch aus anderen Quellen als denen des Glaubens entspringen können?“

Die Gläubigen beteten das Vaterunser und sangen zum Abschluss noch ein Lied. Dann verließen sie das Kirchenschiff.

Währenddessen stand der Pfarrer betend vor dem Altar. Schließlich begab er sich, Robert aufmunternd zunickend, in den Beichtstuhl. Robert folgte ihm artig. Die Situation erschien ihm unwirklich. Er hatte schon seit seiner Kommunion nicht mehr gebeichtet, und auch in die Kirche ging er seitdem nur noch zu Weihnachten ‒ aus Tradition. Jetzt überlegte er, was er wohl beichten könne.

Er ging jeden Morgen ins Büro und abends wieder nach Hause, ohne Umweg über irgendwelche Kneipen oder gar Bordelle. Höchstens kaufte er auf dem Rückweg noch ein paar Lebensmittel im Supermarkt und flirtete ein wenig mit der jungen Kassiererin. Abends musste er meist Edith beim Fernsehen Gesellschaft leisten, wenn sie sich nicht über ihn geärgert hatte und wie ein Rohrspatz schimpfte. Am Wochenende mutierte Edith immer zum Putzteufel und Robert fragte sich, warum dies nicht werktags, wenn er im Büro war, geschah. Warum mussten schon samstagmorgens, wenn er mal richtig ausschlafen wollte, die Waschmaschine und der Staubsauger losheulen, Küche und Badezimmer unter Wasser gesetzt, die Fenster und jedes Möbelstück staub- und keimfrei geputzt werden? Robert musste dann die Betten beziehen, Mülleimer entleeren, Teppiche ein- und wieder ausrollen, Stühle, Tische, schwere Sessel und sogar das Sofa verrücken und nach der Putz- und Saugorgie das Essen zubereiten. Wenn dann am Samstagnachmittag die Hausarbeit erledigt, die Wäsche zum Trocknen aufgehängt, Töpfe und Geschirr gespült, abgetrocknet und weggeräumt waren, wollte Edith bei gutem Wetter in Mode-, Schuh-, Kosmetik-, Einrichtungs- oder gar Juweliergeschäfte gehen. Bei schlechtem Wetter saß sie vor dem Fernseher oder tratschte stundenlang am Telefon mit ihrer Mutter oder alten Schulfreundinnen über andere Leute, Mode oder die jüngsten Offenbarungen der Regenbogenpresse. Robert durfte sich dann in sein Arbeitszimmer zurückziehen, aber alleine ausgehen, das durfte er nicht. Einmal hatte er es gewagt. Edith hatte ihm damals eine Szene gemacht, als habe sie ihn mit zwei hübschen Frauen gleichzeitig ertappt.

 

Die Sonntage verliefen immer auf die gleiche Weise: nach dem Frühstück 200 km mit dem Auto zu Ediths Mutter fahren, Mittagessen, Kaffee trinken und wieder nach Hause.

Der Pfarrer im Beichtstuhl räusperte sich ungeduldig, und plötzlich hörte ihn Robert lospoltern:

„Nun mal los, mein Junge, raus mit der Sprache, was hast du zu beichten? Ich will hier nicht sitzen bis zum Jüngsten Tag!“

Beinahe hätte Robert aufgelacht.

„Ich flirte mit der Kassiererin im Supermarkt“, flüsterte er.

„So, so“, brummte der Pfarrer nicht sehr beeindruckt und fragte: „Ist das alles?“

„Ja, Hochwürden.“

„So brav seid ihr Städter?“, zweifelte der Geistliche. „Da haben ja meine Landeier mehr zu beichten!“

Nach einer kurzen Pause hörte ihn Robert brummen: „Nun ja, ein Flirt ist auch schon ein Anfang, und den Anfängen muss man wehren ‒ "principiis obsta", wie der Lateiner sagt. ‒ Mein Sohn, bete drei Vaterunser und widerstehe der Versuchung!“, verordnete der Beichtvater und schloss mit den Worten: „Ego te absolvo a peccatis tuis in nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti. Amen.“ Robert war erlöst.

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