Das Portrait der Toten

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7/21 ― Die Spur

Die Polizei hatte das schmiedeeiserne Hoftor geschlossen und die Schaulustigen drängten sich an den Gitterstäben. Als der Kommissar Robert sah, ließ er ihn schmunzelnd mit den Worten ein:

„Ja, ja, den Täter zieht es immer wieder an den Tatort zurück.“

„Sogar dann, wenn die Polizei noch dort ist“, fügte Robert sarkastisch hinzu.

„Das hat es auch schon gegeben. ‒ Warum sind Sie hergekommen?“

„Ich möchte sehen, was das Feuer von meinem Erbe übriggelassen hat.“

„Wenn Sie der Mörder sind, werden Sie gar nichts erben“, sagte Simenon.

„Ich bin kein Verbrecher und hoffe, dass Sie den Fall rasch aufklären“, erwiderte Robert.

„Ich tue mein Bestes. ‒ Wir haben übrigens das Portrait gefunden. Es war von der Wand gefallen, ist aber kaum beschädigt.“

„Heruntergefallen ‒ durch die Einwirkung des Feuers ‒ und trotzdem nicht verbrannt?“, wunderte sich Robert.

„Nein, nicht durch die Einwirkung des Feuers. ‒ Die Spuren an dem Gemälde lassen auf eine andere Ursache schließen,“ deutete Kommissar Simenon an.

„Sie sprechen in Rätseln. Warum ist denn das Portrait von der Wand gefallen?“

„Wenn Sie der Täter sind“, sagte der Kommissar, „kennen Sie die Ursache, wenn nicht, brauchen Sie sie nicht wissen.“

Sie betraten die verrußte Eingangshalle.

„Das Feuer ist im Parterre im Büro der Baronin ausgebrochen“, dozierte der Kommissar. „Von dort hat es sich durch die Zimmerdecke bis in den Dachstuhl gefressen. Dank des heftigen Regens gestern nacht wurde nicht das ganze Gebäude vernichtet.“

Das Büro bot einen traurigen Anblick. Von den Möbeln, Vorhängen und Teppichen gab es nur noch verkohlte Überreste, die Fensterscheiben waren zersprungen und die Zimmerdecke eingestürzt. Durch den darüberliegenden Salon in der ersten Etage konnte man und den blauen Himmel sehen. Nur ein alter eiserner Geldschrank stand mit geöffneter Tür rußüberzogen an seinem Platz im Büro.

„In dem Panzerschrank haben wir nur angesengte Geschäfts-, Versicherungs- und Bankdokumente, aber keine Wertsachen oder Bargeld gefunden. Wir hoffen, dass uns die Unterlagen einen Hinweis auf den Täter geben werden. Nach Abschluss des Falles wird alles dem rechtmäßigen Erben ausgehändigt“, sagte Simenon. „Die Körper der Baronin, des Butlers und des Hundes, die wir im Büro gefunden haben, sind schon im Gerichtsmedizinischen Institut. Wenn die forensische Untersuchung beendet ist, können Sie ihre Großmutter und den Butler bestatten lassen. Die Spurensicherung ist bereits abgeschlossen. Wir werden nur noch das Gebäude sichern, dann sind wir hier fertig.“

Robert verabschiedete sich und ging langsam durch Felder, Wald und Wiesen zurück ins Dorf. Zur Abendbrotzeit kam er im Postillion an. Der Pfarrer saß schon mit seinen Freunden, dem Apotheker, dem Bürgermeister, dem Veterinär und dem Dorfschullehrer an dem großen Eichentisch in der Ecke. Auf dem Tisch lagen zwar Spielkarten, aber die fünf Männer unterhielten sich nur aufgeregt. Als sie Robert sahen, verstummte ihr Gespräch. Der Pfarrer winkte Robert herbei.

„Na, hat die Polizei schon etwas gefunden?“, fragte er und fügte, als er Roberts verdutzte Miene sah, hinzu: „Es hat sich schon herumgesprochen, dass du vorhin am Tatort warst.“

„Sie haben irgendeine Spur an dem Portrait entdeckt“, teilte Robert der neugierigen Gesellschaft mit.

„Ach, es ist also nicht verbrannt“, staunte der Pfarrer und wandte sich erklärend an seine Freunde. „Das Gemälde hat mich schon immer interessiert. Es soll von demselben Maler sein, der auch unser eigenartiges Altarbild mit dem schwarzhaarigen Sohn Gottes, dem blonden römischen Legionär, dem Krokodil, den mit blauen Kleidchen bekleideten Putti und den beiden Fackelträgerinnen erschaffen hat. Das Altarbild wurde laut unserem Inventarbuch am 16. Juni 1793 in unserer Kirche aufgehängt. Leider wurde sonst nichts weiter vermerkt.

Das grausige Portrait müsste also auch vor etwa 180 Jahren entstanden sein. Ich vermute, es war ebenfalls für unsere Kirche bestimmt und stellt die Heilige Margareta dar, der wir am 16. November gedenken und der unsere Bauern in dem Sprichwort: Hat Margaret keinen Sonnenschein, kommt das Heu nicht trocken rein, einen Einfluss auf die Ernte zuschreiben. Sie ist die Schutzpatronin von Schottland und war die Frau von Malcolm III., dem Blutigen, der seinen Vater, Duncan I., der im Jahre 1040 von dem berühmt-berüchtigten Macbeth getötet worden war, grausam gerächt hat. Margareta beseitigte die heidnischen Bräuche der Kelten in Schottland, förderte die römisch-katholische Kirche, unterstützte die Armen und Kranken und gründete Schulen und die Benediktinerabtei Dunfermline. Sie starb am 16. November 1093 in Edinburgh und wurde 1251 von Papst Innozenz IV. heiliggesprochen.“

„Bravo, Herr Oberlehrer!“, applaudierte der Dorfschullehrer. „Aber können Euer Allwissend auch erklären, wieso unser unbekannter Altarbildmaler ausgerechnet den Kopf einer schottischen Heiligen malen sollte?“

„Es könnte sein, dass er Margaretas Haupt in der Jesuitenkirche von Douai gesehen hat.“

„Wie kommt denn Margaretas Kopf nach Douai?“, wunderte sich der Apotheker.

„Nun, das kann ich euch Wissbegierigen verraten“, verkündete der Pfarrer schmunzelnd, nahm aber erst einmal einen tüchtigen Schluck aus seinem Bierglas, um dann endlich zu referieren:

„Während der Reformationszeit wurden Margaretas Gebeine nach Madrid in den Escorial überführt. Ihr Haupt aber begleitete Maria Stuart nach Schottland. Nachdem Maria Stuart aber am 18. Februar 1587 auf Schloss Fotheringhay selbst enthauptet worden war, wurde Margaretas Kopf nach Douai in die spanischen Niederlande gebracht.“

„Ja, ja, unsere Heiligen sind weit gereist ‒ teilweise“, bemerkte der Bürgermeister zynisch. „Doch wer war der Maler des unheimlichen Portraits, und warum ist das Kunstwerk im Besitz der Baronin und nicht in unserer Kirche?“

„Vielleicht, weil der Maler ein Urahn der Baronin war“, vermutete der Pfarrer.

Bruce Maison und Edith betraten zusammen mit dem Kommissar, den sie vor dem Postillion angetroffen hatten, die Wirtsstube.

„Da bist du ja endlich!“, begrüßte Yvonne ihren Mann. „Du kannst sofort das neue Bierfass anzapfen, sonst sitzen unsere Gäste gleich auf dem Trockenen!“

Kommissar Simenon hatte sich zu den anderen an den großen Tisch gesetzt.

„Sind Sie weitergekommen, Herr Kommissar?“, wollte der Pfarrer wissen.

„Oh ja, wir kommen immer weiter. Manchmal dauert es etwas länger, aber letzten Endes fassen wir den Täter.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr!“, sagte der Pfarrer.

„Und doch soll es das perfekte Verbrechen geben!“, warf der Wirt ein.

„Nicht vor Gott, mein Sohn!“, widersprach der Pfarrer. „Der Herr im Himmel sieht alles! ‒ Trinken wir darauf, dass Sie mit Gottes Hilfe den Fall schnell aufklären, Herr Kommissar. ‒ Vielleicht können wir sogar etwas dazu beitragen.“

Simenon war hellwach: „Ich bin ganz Ohr. Schießen sie los, Herr Pfarrer!“

„Das Schießen möchte ich lieber Ihnen überlassen“, wehrte der Pfarrer ab. „Vorhin, kurz nachdem Sie uns verlassen hatten, hat mir Robert erzählt, dass er gestern Abend eine Gestalt auf dem Hof der Baronin gesehen hat.“

„Warum haben Sie mir das denn nicht schon vorhin am Tatort gesagt?“, fragte der Kommissar Robert.

„Weil ich die Gestalt nur ganz kurz im grellen Schein eines Blitzes gesehen habe und sie kaum beschreiben kann. Ich kann nur sagen, dass die Gestalt klein war.“

„Aha, also der kleine Unbekannte“, spottete Kommissar Simenon.

„Das könnte der schwarze Pier gewesen sein, ein Landstreicher, der zur Zeit in der Schlossruine haust“, meinte der Pfarrer.

„Woher wissen Sie das, Herr Pfarrer?“

„Robert und ich haben ihn heute vormittag dort aufgesucht.“

„Was wollten Sie von ihm?“

„Der Pier hat mir ein Gefäß, das er sich ausgeliehen hatte, zurückgegeben.“

„Warum mussten Sie es sich holen? Warum hat er es Ihnen nicht zurück gebracht?“

„Weil er sehr scheu und schüchtern ist.“

„Was war das für ein Gefäß?“

„Ein Trinkgefäß. ‒ Aber das ist doch völlig unwichtig. Er hat es mir ja zurückgegeben.“

„Warum? ‒ Ist er abgereist?“

„Nein, das glaube ich nicht. Der bleibt immer ein bis zwei Wochen hier.“

„Warum gibt er denn jetzt schon das Trinkgefäss zurück?“

„Er braucht es eben nicht mehr.“

Dem Pfarrer waren die Fragen peinlich, denn er wollte nicht, dass das ganze Dorf von dem Diebstahl des Abendmahlskelches erfuhr.

Die Verlegenheit des Pfarrers machte den Kommissar stutzig. „Was wissen Sie über den schwarzen Pier?“

Der Pfarrer erzählte ihm, was er schon zuvor Robert mitgeteilt hatte.

„Wenn ich das früher erfahren hätte, hätte ich den schwarzen Pier schon heute Nachmittag aufgesucht. Ich muss sofort mit ihm sprechen“, Simenon erhob sich. „Bitte führen sie mich zu ihm, Herr Pfarrer!“

„Dafür ist es jetzt zu spät. In der Dunkelheit finden wir den Pier nicht, und wenn er Angst bekommt, verschwindet er einfach. Wir müssen bis Morgen warten. ‒ Aber wenn Sie ihn befragen wollen, müssen Sie sich schon etwas einfallen lassen!“

„Wieso, wie meinen Sie das?“, fragte Simenon verwundert.

„Pier ist taubstumm, kann weder lesen noch schreiben und versteht auch kaum die Gebärdensprache.“

„Na, hoffentlich kann er wenigstens gut zeichnen“, meinte der Kommissar prompt und wandte sich unvermittelt an den Wirt, der frisches Bier auf den Tisch stellte.

„Wo sind Sie denn heute gewesen, Herr Maison?“

„Ich, äh, ‒ ich war bis zum Mittagessen hier und danach habe ich einen Verdauungsspaziergang gemacht.“

Edith schwebte die Treppe herab. Sie hatte sich geschminkt und ein hautenges Kostüm angezogen.

Kommissar Simenon fragte auch sie, wie sie den Nachmittag verbracht habe.

„Ich war mit Herrn Maison in der Schlossruine.“

 

„Haben Sie dort den schwarzen Pier gesehen?“, fragte der Kommissar.

„Heißt so das Schlossgespenst, an das hier alle glauben, wie mir Bruce, äh, Herr Maison, erzählt hat?“

„Haben Sie ihn gesehen?“

„Nein, natürlich nicht. Da war überhaupt niemand. Glaubt die Polizei jetzt auch schon an Gespenster?“

„Wie sind Sie denn in den Park gekommen?“

„Durch das Tor. Es war unverschlossen.“

„Robert, haben wir das Parktor offen gelassen?“, fragte der Pfarrer.

„Ja, wahrscheinlich. Sie hatten doch für den Torschlüssel keine Hand frei, weil Sie den Kelch festhalten mussten.“

„Was für ein Kelch ‒ der Abendmahlskelch?“, fragte der Kommissar und sah den Pfarrer verblüfft an. „Sie haben den Abendmahlskelch an einen Vagabunden verliehen!?“

„Das erkläre ich Ihnen ein andermal“, erwiderte der Pfarrer und zog sich hinter seinen Bierkrug zurück.

„Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie im Schloss waren?“, wollte Simenon vom Wirt wissen.

„Sie haben mich nicht danach gefragt.“

„Was haben Sie dort gemacht?“

„Ich habe Frau de Brandt die Ruine und den Garten gezeigt.“

„Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?“

„Ja ‒ es war kein Gespenst zu sehen!“, antwortete Bruce lachend.

Der Kommissar trank sein Glas aus, zahlte und verabschiedete sich. Yvonne servierte das Abendessen, eine mit Petersilie garnierte große Wurst-Schinken-Käse-Platte, Kräuterbutter und Baguette. Robert hatte nach seinem langen Querfeldeinmarsch großen Appetit und auch Edith bediente sich ausgiebig.

„So, so, du lässt dir also von fremden Männern einsame Schlossruinen zeigen“, stellte Robert fest und wunderte sich selbst, dass ihn dies nur amüsierte.

„Herr Maison ist kein fremder Mann, sondern unser Wirt. ‒ Bist du eifersüchtig?“

„Überhaupt nicht, du kannst ihn auch ruhig weiterhin "Bruce" nennen“, grinste Robert.

„Das tu' ich auch!“, sagte Edith schnippisch, biss ein großes Stück von ihrem mit Schinken belegtem Baguette ab, warf den Rest auf den Teller, erklärte, Roberts Eifersucht habe ihr den Appetit verdorben und ging hinauf in ihr Zimmer, wo sie sich mit knurrendem Magen ins Bett legte. Robert blieb noch eine Weile in der Gaststube bei dem Pfarrer und dessen Freunden

Nachdem alle gegangen waren, schloss Bruce das Wirtshaus ab, fegte den Gastraum aus, löschte das Licht und ging zu Bett. Vor seinem geistigen Auge ließ er diesen Tag Revue passieren.

Am Morgen hatte er seinen Stallhasen gefüttert, beim Frühstück den Sportteil in der Sonntagszeitung gelesen und sich anschließend ein Fußballspiel im Fernsehen angeschaut, während Yvonne die Gäste versorgte, Geschirr spülte und einen köstlichen Schweinebraten zubereitete. Diesen Sonntagsbraten hatte er den Gästen und dem Pfarrer serviert, nachdem er sich selber ausgiebig bedient hatte. Er war in der Wirtsstube geblieben, hatte ein wenig an der Theke herumgeputzt, die Gäste mit Getränken versorgt und ihrem Gespräch gelauscht. Dabei hatte er erfahren, dass der schwarze Pier gestern Abend wohl auf dem Gutshof der Baronin war. Nachdem alle Gäste gegangen waren, hatte auch Bruce sich auf den Weg gemacht. Seiner Frau Yvonne hatte er gesagt, er wolle einen Verdauungsspaziergang machen, weil ihm ihr Sonntagsbraten so schwer im Magen läge. Auf Schleichwegen war er zum Schlosspark gegangen und über die Mauer geklettert.

In der Schlosshalle fand er den schwarzen Pier, der gerade dabei war, seine sieben Sachen zusammenzupacken. Bruce zog sein Stilett und näherte sich dem am Boden sitzenden Taubstummen von hinten. Doch Pier sah den Schatten von Bruce vor sich an der Kaminwand, sprang mit einem tierischen Schreckensschrei auf und wollte die Treppe zur oberen Etage hinaufrennen. Bruce schnitt ihm den Weg ab. Pier schlug einen Haken wie ein Hase. „Er will in den Garten!“, erkannte Bruce, verstellte ihm den Weg und stieß zu. Er traf Pier in die Schulter, der schrie auf und rannte zurück, um nun durch den Eingang ins Freie zu entkommen. Bruce jagte hinterher. „Er darf mir um Himmels willen nicht entwischen!“, dachte er. Pier rutschte aus und fiel hin. „Gott sei Dank, jetzt hab' ich dich!“, lachte Bruce erleichtert und stürzte sich auf ihn. Doch Pier hatte plötzlich auch ein Messer in der Hand und stach Bruce in den Unterarm. „Na warte, du kleine Ratte!“, zischte Bruce, wich zurück und hob blitzschnell einen am Boden liegenden Knüppel auf. Pier war wieder auf den Beinen. Das Stilett in der einen, den Knüppel in der anderen Hand trieb Bruce den kleinen Landstreicher in eine Ecke und drosch dort solange auf den armen Kerl ein, bis der sich nicht mehr rührte. Bruce warf den Knüppel in den Kamin, wo noch ein Feuer brannte und trug sein Opfer und dessen schon zu einem Bündel geschnürte Habseligkeiten zum See. Dort beschwerte er den reglosen Körper mit Steinen und schleuderte ihn mit aller Kraft wie ein Hammerwerfer ins trübe Wasser und das Gepäck hinterher.

Nachdem er die Stichwunde an seinem Unterarm mit einem Taschentuch verbunden und die Kampfspuren in der Schlosshalle beseitigt hatte, war er ins Dorf zurückgegangen und hatte Edith getroffen.

Bruce wälzte sich unruhig auf seinem Bett. Hatte er wirklich nichts vergessen? Waren alle Spuren beseitigt? War der schwarze Pier wirklich tot, als er ihn ins Wasser geschleudert hatte? ‒ Egal, wenn Pier nicht schon tot war, dann ist er eben im See ertrunken. Auch die Sachen des Vagabunden waren im See versunken. Es war alles weg ‒ keine Spuren. Doch ‒ am Seeufer und im Garten waren seine Fußabdrücke! Bruce fuhr in Panik im Bett hoch. „Ich muss die Fußabdrücke beseitigen!“ ‒ „Nein, Unsinn, bleib ruhig!“, ermahnte er sich selbst. „Ich war doch mit Edith noch einmal an derselben Stelle. Das erklärt doch meine Fußabdrücke!“ Schweißnass aber erleichtert sank er wieder zurück auf sein Kissen. Wie nützlich ihm doch diese Edith war! Es ist also alles in Ordnung. Nichts deutet auf ein Verbrechen. Ein Vagabund ist spurlos verschwunden ‒ na und? Das ist nichts Besonderes. Bruce kicherte. Oh ja, auch die Tatwaffen hatte er beseitigt. Der Knüppel war im Kamin verbrannt und das Stilett lag unauffindbar in dem schlickigen Grund des dunklen Sees. Bruce gähnte und schlief ein.

8/21 ― Der Kelch

Am nächsten Morgen ging Kommissar Simenon in Begleitung des Pfarrers zur Schlossruine. Der Pfarrer wunderte sich sehr darüber, dass der schwarze Pier nicht mehr da war. In der Empfangshalle ließ sich Simenon genau berichten, wie die gestrige Begegnung verlaufen war.

„Robert de Brandt stand also hier in der Halle mit einem Knüppel und der schwarze Pier dort oben auf der Treppe mit einem Beil in der Hand“, resümierte der Kommissar. „Was geschah dann?“

„Ich bat Robert, den Knüppel wegzulegen“, sagte der Pfarrer.

„Wohin hat er ihn gelegt?“

„Er hat ihn dort fallen lassen.“ Der Pfarrer zeigte auf die Stelle.

Simenon sah sich um: „Wo ist der Knüppel jetzt?“

„Pier wird ihn wohl als Brennholz verwendet haben“, meinte der Pfarrer und deutete auf den Kamin.

Nachdem er sich in der Halle gründlich umgeschaut hatte, ging Simenon in den Schlossgarten. Dort sah er die Fußspuren, die Bruce und Edith in der weichen Erde hinterlassen hatten.

„Haben Sie schon einen Tatverdächtigen?“, fragte der Pfarrer den Kommissar auf dem Rückweg.

„Mindestens schon zwei, wenn ich Sie nicht mitrechne!“

„Mich mitrechnen ‒ das ist doch wohl nicht ihr Ernst!“

Der Pfarrer war entrüstet stehengeblieben.

„Wieso nicht?“, fragte Simenon grinsend.

„Na hören Sie mal, das fragen Sie noch? ‒ Ich bin der Pfarrer, ein Mann der Kirche, ein gläubiger Diener Gottes, unseres Herrn, der auch Ihr Schöpfer ist!“

Simenon amüsierte sich über den erregten Gottesmann und provozierte munter weiter: „Auch unter Geistlichen soll es hin und wieder schwarze Schafe geben.“

„Das ist leider wahr ‒ aber ich bin ein weißes! Zu der Baronin hatte ich immer ein gutes Verhältnis. Sie kam zwar nie in unsere Kirche, aber sie hat des öfteren größere Geldbeträge für die Armen unserer Gemeinde, zur Renovierung der Schule und für die Dorffeuerwehr gespendet. Die ist übrigens ganz zerknirscht, weil sie nicht helfen konnte.“

„Ja, ja, die Feuerwehr kommt leider meistens zu spät“, bedauerte der Kommissar.

„Wie die Polizei!“, sagte der Pfarrer spitz.

Simenon schmunzelte: „Schließen wir Frieden?“

„Nur, wenn Sie mich nicht mehr verdächtigen!“

„Einverstanden. ‒ Was glauben Sie, wo der schwarze Pier jetzt sein könnte?“

„Ich weiß es nicht, er ist ein Vagabund.“

„Er hat ihnen doch gestern den Abendmahlskelch zurückgegeben. Da könnten seine Fingerabdrücke drauf sein.“

„Ja sicher ‒ aber glauben Sie mir, Herr Kommissar, der schwarze Pier ist vollkommen harmlos.“

„Hat er Sie gestern im Schloss nicht mit einem Beil in der Hand empfangen?“

„Nur, weil er vor Robert de Brandt Angst hatte!“

„Also Pier hatte Angst vor Robert und Robert hatte Angst vor Pier und beide waren bewaffnet“, überlegte Simenon. „Die Frage ist: warum hatten die beiden Angst voreinander? Nur, weil jeweils der andere eine Waffe in der Hand hielt? Oder hatte der eine den anderen bei dem Verbrechen beobachtet? Oder verdächtigten sie sich nur gegenseitig?“

„Warum sollte Pier Feuer legen? Der Butler war sein Vater. Er hat ihm immer Geld gegeben“, sagte der Pfarrer.

„Vielleicht hat Pier diesmal kein Geld von seinem Vater bekommen oder es war ihm zu wenig und es kam zum Streit und Pier hat erst seinen Vater und anschließend die Baronin mit seinem Beil erschlagen und dann das Feuer gelegt, um die Tat zu vertuschen.“

„Die beiden wurden erschlagen? Ich dachte sie sind verbrannt!“, wunderte sich der Pfarrer.

„Erst erschlagen und dann verbrannt“, klärte ihn Simenon auf.

„Pier hat das nicht getan, sonst hätte er sich doch sofort aus dem Staube gemacht, anstatt sich häuslich im Schloss niederzulassen“, sagte der Pfarrer mit fester Überzeugung.

„Als Sie sich von Pier verabschieden wollten, hat er gestikuliert. Was wollte er Ihnen wohl mitteilen?“

„Ich dachte, er wollte uns zum Essen einladen. Er hat immer abwechselnd auf Robert und dann auf den Kamin gezeigt, wo sein Essen in einem Topf über dem Feuer kochte.“

„Vielleicht meinte er gar nicht das Essen, sondern das Feuer. Vielleicht wollte der schwarze Pier Ihnen sagen, dass er Robert an dem Brandort gesehen hat.“

„Das würde auch Roberts Aussage von der kleinen Gestalt bestätigen“, stimmte der Pfarrer eifrig zu.

„Wenn Robert die Baronin und den Butler ermordet hat, wäre der schwarze Pier ein gefährlicher Zeuge für ihn“, überlegte der Kommissar.

„Warum sollte Robert seine Großmutter umbringen?“, fragte der Pfarrer aufgebracht.

„Die Aussicht auf eine reiche Erbschaft oder Hass wäre ein Motiv. Auch eine durch irgendetwas ausgelöste Affekthandlung wäre denkbar.“

„Ihre Theorien sind absurd! Weder Robert noch Pier sind Mörder!“, entschied der Pfarrer.

Sie waren bei der Dorfkirche angekommen. Noch ziemlich aufgebracht von ihrem Gespräch händigte der Pfarrer dem Kommissar den noch in Zeitungspapier eingewickelten Abendmahlskelch zur Untersuchung aus.

Am Montag brachte Robert seinen Wagen zum Schrottplatz, nachdem man in einer Autowerkstatt festgestellt hatte, dass sich eine Reparatur nicht mehr lohnte.

Unterdessen vergnügte sich Edith mit Bruce auf ihrem Zimmer, während Yvonne mit einer Nachbarin beim Kaffeeplausch unten in der Wirtsstube saß.

Als Robert am Abend zurückkam, empfing ihn Kommissar Simenon im Postillion mit Handschellen. Die Polizei hatte nämlich nicht nur Piers Leiche aus dem Schlossteich, sondern auch den goldenen Siegelring der Baronin aus Roberts Jacke, die im Kleiderschrank hing, gefischt.

„Das ist ein Irrtum! Sie machen einen Fehler! Ich habe meine Großmutter nicht umgebracht!“, protestierte Robert, doch Simenon schob ihn an dem hämisch grinsenden Wirt vorbei ins Polizeiauto.

Um die Mittagszeit des nächsten Tages läutete der Kommissar beim Pfarrer. Die Haushälterin, eine rundliche, resolute Person öffnete die Tür.

„Unser Herr Pfarrer isst gerade zu Mittag“, sagte sie abweisend und erwartete offensichtlich eine Entschuldigung für die Störung.

„Das trifft sich gut“, antwortete Simenon stattdessen, „ich habe auch Hunger. Was gibt es denn?“

Sprachlos über so viel Unverfrorenheit ließ sie den Kommissar passieren.

„Sie haben den Falschen verhaftet!“, rief ihm der Pfarrer verärgert entgegen, als Simenon das Speisezimmer betrat.

„Ich weiß, ich weiß!“, beschwichtigte ihn der Kommissar. „Deshalb komme ich ja zu ihnen. Ich brauche Ihre Hilfe.“

„Ja, wenn das so ist, sind Sie herzlich willkommen!“, meinte der Pfarrer und deutete auf eine schöne, große Porzellanterrine auf dem Tisch: „Marie-Claire, meine Haushälterin hat einen köstlichen Eintopf mit frischem Gemüse und Kräutern gekocht. Den müssen Sie probieren!“

 

Der Pfarrer bediente den Kommissar eigenhändig und nahm dann den Gesprächsfaden wieder auf:

„Wenn Sie nicht glauben, dass Robert der Mörder ist, warum haben Sie ihn dann verhaftet?“

„Zu seinem eigenen Schutz und um den Täter in Sicherheit zu wiegen.“

„Ist Robert in Gefahr?“, fragte der Pfarrer besorgt.

„Der Mörder hat auf sehr plumpe Art und Weise versucht, meinen Verdacht auf Robert zu lenken, indem er den Siegelring der Baronin in Roberts Jackentasche gesteckt hat. Wir müssen damit rechnen, dass der Mörder auch Robert umbringt und diese Tat als Selbstmord aus Verzweiflung und Reue tarnt“, erklärte Simenon.

„Und wen haben sie nun als Mörder in Verdacht?“, wollte der Pfarrer wissen.

„Das sollen Sie mir sagen!“ Mit diesen Worten legte Simenon eine alte Zeitung auf den Tisch. „Dies ist die Zeitung, in die der Abendmahlskelch eingewickelt war. Und nun sehen Sie sich mal an, was ihr schwarzer Pier da draufgemalt hat!“

Der Pfarrer faltete die Zeitung auseinander. Die ganze zerknitterte Seite war mit einer Kohlezeichnung bedeckt. Auf der linken Bildhälfte war deutlich ein brennendes Haus zu sehen, vor dem ein Auto stand und auf der rechten sah man einen riesigen Radfahrer wegfahren, der einen Vollbart trug und ein Beil in der Hand hielt.

„Mein Gott, das ist ja Bruce Maison!“

„Das habe ich auch gedacht. Aber Vorsicht, dies ist nur eine Zeichnung und kein Photo! Die Ähnlichkeit kann purer Zufall sein“, mahnte der Kommissar. „Wie ich erfahren habe, hat Bruce Maison den Postillion von der Baronin gepachtet.“

„Das stimmt“, bestätigte der Pfarrer. „Schon sein Urgroßvater war Pächter des Wirtshauses. Aber zur Zeit der Revolution von 1789 war der Gasthof Eigentum seiner Familie!“

„Dann haben seine Vorfahren den Postillion wohl an die de Brandts verkauft“, vermutete Simenon.

„Nicht verkauft ‒ sie wurden von Napoleon quasi enteignet!“

„Von Napoleon enteignet? Wieso und warum?“, fragte der Kommissar verblüfft.

„Als Entschädigung, hat mir die Baronin einmal gesagt. ‒ Mehr weiß ich leider nicht“, sagte der Pfarrer bedauernd.

„Dann war das Verhältnis der beiden Familien wohl sehr angespannt“, vermutete der Kommissar.

„Früher vielleicht, aber ich habe davon nichts bemerkt. Nach so langer Zeit legt sich der Hass im allgemeinen.“

„Im allgemeinen“, wiederholte Simenon nachdenklich.

„Aus den Geschäftsunterlagen, die wir in dem eisernen Tresor gefunden haben, geht hervor, dass Bruce Maison Pachtschulden hat. Das wäre zwar ein Motiv, aber kein Beweis.“

„Haben Sie denn sonst keine Indizien gefunden?“

„Das Feuer und der Gewitterregen haben leider alle Fingerabdrücke und Fußspuren vernichtet. Nur das grausige Portrait weist eine interessante Spur auf ‒ den blutigen Abdruck eines Beils.“

„Dann müssen Sie nur noch das zugehörige Beil und seinen Besitzer finden und der Fall ist gelöst!“

„Vorausgesetzt, der Besitzer ist auch der Mörder“, dämpfte Simenon den Optimismus des Pfarrers, fragte aber sogleich: „Besitzt Bruce Maison ein Beil?“

„Ja, natürlich, jeder hier im Dorf hat eins ‒ ich auch“, bestätigte der Pfarrer. „Aber Bruce hat ein ganz besonderes Beil, ein altes Erbstück. Es ist eine uralte Streitaxt und hing früher in der Gaststube hinter dem Tresen an der Wand.“

„Wo könnte er sie jetzt aufbewahren?“, fragte Simenon.

Der Pfarrer zuckte die Schultern: „Fragen Sie ihn doch einfach.“

„Gerade das will ich nicht. Bruce würde misstrauisch werden und die Axt so gut verstecken, dass wir sie niemals finden.“

„Durchsuchen Sie doch seine Wohnung.“

„Dazu brauche ich einen Durchsuchungsbefehl, den ich aber wegen der zu schwachen Beweislage nicht bekommen werde. Ich muss Bruce dazu bringen, die Waffe selber zu holen.“

„Und wie wollen Sie das machen?“

„Morgen schicke ich einen Scherenschleifer ins Dorf. Ich hoffe, Bruce will seine Axt schleifen lassen.“

„Keine schlechte Idee,“ lobte der Pfarrer, „aber leider zu spät! ‒ Vor etwa drei Monaten war nämlich schon einer hier und hat alle Scheren, Messer, Beile und Äxte im Dorf geschliffen. Auch die Streitaxt von Bruce. Seitdem hängt sie nicht mehr im Schankraum.“

„Schade, dann muss mein zweiter Plan gelingen!“

„Was haben Sie vor?“

„Das verrate ich Ihnen lieber nicht. Beten Sie mal für einen guten Ausgang, dann sehen wir uns vielleicht morgen wieder.“ Damit verabschiedete sich Kommissar Simenon.

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