Das Portrait der Toten

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4/21 ― Der schwarze Pier

Robert verließ den Beichtstuhl und wartete vor der Kirche auf den Pfarrer. Der erschien auch bald in einem feierlich dunklen Anzug und erklärte:

„Sonntags speise ich immer im Postillion, damit meine Haushälterin den Feiertag genießen kann. Doch bevor wir essen gehen, werden wir im Schloss mal nach dem Rechten sehen.“

„Meinen Sie das dunkle Gebäude im Park?“, fragte Robert.

„Ach, du hast es also schon gesehen“, konstatierte der Pfarrer.

„Nur schemenhaft von weitem, durch das Torgitter.“

Robert bemerkte, dass ihn der Pfarrer seit seiner Beichte duzte und vermutete amüsiert, dass er nun eingemeindet sei.

„Das Schloss gehört deiner Großmutter. Leider ist es eine Ruine.“

„Es macht einen unheimlichen Eindruck“, bemerkte Robert.

„Ja und viele Leute hier glauben, dass es dort spukt“, bestätigte der Pfarrer.

„Sie glauben das nicht?“, fragte Robert.

„Natürlich nicht, ich bin ein katholischer Priester!“, erwiderte der Geistliche leicht pikiert.

„Gerade deshalb“, lachte Robert. „Unsere Kirche kennt doch viele übernatürliche Ereignisse und Wesen, wie Wunder und Engel und Teufel.“

„Das ist doch etwas ganz anderes! Das alles gehört zur christlichen Mythologie und ist zum Teil auch nur symbolisch gemeint.“

„Ach so, das sind alles nur fromme Märchen“, stichelte Robert weiter.

„Für den Gläubigen ist das Realität, du ungläubiger Robert!“, erwiderte der Pfarrer.

„Dann sind die Spukgespenster für ihre abergläubischen Bauern wohl ebenfalls Realität.“

„Ja, leider“, bestätigte der Pfarrer seufzend.

„Was gibt es denn in einer Ruine "nach dem Rechten" zu sehen?“, wunderte sich Robert.

„Das wirst du schon sehen, wenn wir dort sind“, war die geheimnisvolle Antwort des Priesters.

Inzwischen waren sie bei dem verwilderten Schlosspark angekommen. Mit einem großen Schlüssel öffnete der Pfarrer das eiserne Gittertor. Robert zögerte. Er hatte wieder dieses mulmige Gefühl.

„Worauf wartest du, mein Sohn? Glaubst auch du lieber an heidnische Gespenster als an den heiligen Geist?“, spöttelte der Pfarrer.

Verlegen grinsend schlüpfte Robert durchs Tor, das sich hinter ihm quietschend und scheppernd schloss. Über dem breiten, leicht ansteigenden Parkweg hatten sich die Baumkronen vereinigt, so dass ein dunkler Tunnel entstanden war, an dessen Ende die schwarze Schlossruine aufragte. Robert hob einen abgebrochenen Ast vom Weg auf.

„Gegen Gespenster helfen keine Knüppel“, lachte der Pfarrer.

Bevor sich Robert rechtfertigen konnte, wurde er vom Knacken eines Astes, dem ein lautes Grunzen aus einem Gebüsch folgte, erschreckt.

„Ganz ruhig stehenbleiben“, flüsterte der Pfarrer. „Das ist ein Wildschwein. Wir wollen es nicht reizen.“ Nach einer Weile setzten sie ihren Weg fort.

„Ist vielleicht doch ganz gut, wenn man hier einen Knüppel zur Hand hat“, meinte Robert.

„Der würde dir gegen ein wütendes Wildschwein kaum helfen“, entgegnete der Pfarrer.

„Aber doch besser als gar nichts, nicht wahr?“, erwiderte Robert.

„Ich habe gebetet. Das hat uns gerettet“, behauptete der Pfarrer lächelnd.

Endlich hatten sie das "Tunnelende" erreicht und überschritten eine steinerne Brücke, die wie ein Katzenbuckel den versumpften Schlossgraben überspannte. Durch ein türloses Torhaus gelangten sie in den Schlosshof. Dem Torhaus gegenüber befand sich das freistehende Hauptgebäude. Es wurde von kleineren Bauwerken für Küche und Werkstatt flankiert. Neben dem Torhaus befanden sich Stallungen für die Pferde und die Remise.

Die Gebäude waren ausgebrannt und ihre dicken, rußgeschwärzten Wände trugen keine Dächer mehr.

Sie überquerten den Schlosshof, in dessen Mitte sich ein Ziehbrunnen befand, stiegen die mit Unkraut überwachsene Freitreppe des Hauptgebäudes empor und betraten durch das wie ein gähnendes Maul geöffnete Portal die erstaunlich gut erhaltene, repräsentative Empfangshalle. Wie in dem Gutshaus war auch hier das Familienwappen im Fußboden eingelegt, aber größer und kunstvoller, mit mehrfarbigen, polierten Steinen. Dem Eingang gegenüber führte eine breite Steintreppe zum oberen Stockwerk. Darüber wölbte sich eine löchrige hohe Decke. An der rechten Seite der Halle befand sich ein schöner, großer Kamin aus farbigem Marmor, in dem ein alter Kessel über einem Feuer hing.

Der Pfarrer bewegte sich auf den Kamin zu. Plötzlich erscholl vom oberen Stockwerk ein so schauriges Geheul, das einem das Blut gefrieren wollte. Auf dem oberen Treppenabsatz stand ein Wesen in schmutzigen Jeans und einer dunklen Jacke mit einem Beil in den Händen. Die Jackenkapuze war über den Kopf gezogen und überschattete das Gesicht. Obwohl von kleinwüchsiger Statur, machte das Wesen einen bedrohlichen Eindruck. Robert hob seinen Holzknüppel, zum Schlag bereit. Wieder erscholl dieser schrille, tierische Schrei. Der Pfarrer hob beschwichtigend die Hand und rief Robert zu:

„Das ist der schwarze Pier. Bitte leg den Knüppel weg. Ich glaube, er hat Angst vor dir.“

Dann forderte er die unheimliche Kreatur mit einer einladenden Geste auf, in die Halle zu kommen. Zögernd stieg der schwarze Pier mit seinem Beil die Treppe herab, misstrauisch Robert beäugend. Der Pfarrer reichte ihm die Hand, was ihn zu beruhigen schien. Die beiden gingen zum Kamin. Vom Kaminsims nahm Pier einen in Zeitungspapier eingewickelten Gegenstand und überreichte ihn dem Pfarrer.

„Das hab' ich mir doch gedacht“, sagte der Pfarrer mit offensichtlicher Erleichterung und drückte dem schwarzen Pier einen Geldschein in die Hand. Der bedankte sich artig mit einer Verbeugung. Der Pfarrer machte schmunzelnd eine segnende Handbewegung und wandte sich zum Gehen. Doch Pier hielt ihn wild gestikulierend am Ärmel fest.

„Ja, was willst du denn noch?“, wunderte sich der Pfarrer.

Pier deutete auf Robert und machte eine Bewegung, als würde er ein Auto steuern. Der Pfarrer nickte bestätigend und sagte: „Ja, ja, Robert hat ein Auto.“

Daraufhin deutete Pier abwechselnd zu Robert und zum Kamin.

„Ach, er will uns wohl zum Essen einladen“, meinte der Pfarrer zu Robert gewandt. „Das ist zwar nett von ihm, aber wir sollten doch lieber ablehnen. Ich habe nämlich in den Topf geschaut. Was da drin herumschwimmt, sieht nicht sehr appetitlich aus!“

Kopfschüttelnd drückte der Pfarrer dem schwarzen Pier noch einmal freundschaftlich die Hand und verließ mit Robert die Schlossruine. Schweigend gingen sie durch die dunkle Allee.

Als sie den Park verlassen hatten, fragte Robert neugierig: „Was haben Sie denn da gekauft?“

„Och, das ist ein Abendmahlskelch“, antwortete der Pfarrer etwas unwillig.

„Ach, ist der schwarze Pier ihr Lieferant für Abendmahlskelche?“

„Nööö, das nich'“, war die wortkarge Antwort.

„Woher hatte er denn den Kelch?“

„Aus unserer Sakristei.“

„Wie bitte ‒ der Kerl klaut Ihnen den Abendmahlskelch und Sie kaufen ihn teuer zurück?!“, wunderte sich Robert.

„Ich hab' ihm die 50 Franc nicht für den Kelch gegeben ‒ der ist viel mehr wert ‒ sondern als Almosen.“

„Wollen Sie den Kerl nicht anzeigen?“

Der Pfarrer schaute Robert missbilligend an:

„Nur, weil er sich ein altes Trinkgefäß ausgeliehen hat, soll ich den armen, taubstummen Teufel der Polizei ausliefern?“

„Ausgeliehen nennen Sie das?“, lachte Robert. „Wenn wir heute nicht zufällig ins Schloss gegangen wären, hätten Sie ihren wertvollen Kelch wahrscheinlich nie wieder gesehen!“

„Wir sind nicht zufällig ins Schloss gegangen. Ich hatte vermutet, dass Pier wieder dort ist. Er pflegt nämlich jeden Sommer ein paar Tage im Schloss zu hausen. ‒ Ich hatte auch geahnt, dass er sich den Kelch geholt hatte. Allerdings hat er das jetzt zum ersten Mal getan und ich hoffe, das es ihm nicht zur Gewohnheit wird. ‒ Dennoch glaube ich, dass Pier den Kelch nur ausleihen wollte, sonst wäre er schon längst mit ihm über alle Berge“, erklärte der Pfarrer.

„Und wenn Ihnen der Kerl mit seinem Beil ...“

Der Pfarrer unterbrach Robert: „Ich kenne den Pier schon lange. Er ist nicht gewalttätig!“

Inzwischen waren sie wieder an der Dorfkirche angelangt. Der Pfarrer brachte den Kelch in die Sakristei. Dann gingen die beiden zum Postillion.

5/21 ― Unter Verdacht

An einem Tisch im Postillion saß Edith mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Robert machte sie mit dem Pfarrer bekannt.

„Der Herr Pfarrer ist heute unser Gast“, sagte er und hoffte, das sich Edith nun ihre gefürchtete Nörgelei verkneifen würde. Nach einer kräftigen Bouillon servierte Yvonne einen knusprigen Schweinebraten in köstlicher Sauce. Dazu gab es Kartoffeln mit Rotkohl, frischen Salat und einen guten Loirewein.

„Der Pfarrer will mich meiner Großmutter, der Baronin de Brandt, vorstellen. Sie bewohnt das einsame Landgut, vor dem wir gestern Abend gehalten haben. Möchtest du mitkommen?“ fragte Robert seine Frau.

„Deine Großmutter ist eine Baronin? Das hast du mir ja gar nicht erzählt! Dann bist du ja ein Baron und ich Baronin! Oh Robert, das ist ja wunderbar!“

„Das ist ein Irrtum“, bremste Robert sein Weib. „Erstens lebt meine Großmutter noch und ich wünsche ihr ein langes Leben. Zweitens muss sie mich nicht als Erben anerkennen und drittens sind Adelstitel in Frankreich seit 1958 nur ein Namensteil juristisch ohne Bedeutung.“

„Hm“, machte Edith. „Wieso will dich der Pfarrer deiner Großmutter vorstellen? Du hast doch gestern Abend schon mit ihr gesprochen!“

„Gestern, gestern habe ich nur mit ihrem Butler gesprochen“, stotterte Robert und wollte das Gespräch beenden.

„Hast du ihm gesagt, wer du bist?“

„Nein, ich habe ihn nur nach dem Weg gefragt.“

„Du Esel!“, schnaubte Edith. „Du hättest ihm sagen sollen, wer du bist, dann hätten wir sicher bei deiner Großmutter übernachten können und nicht in diesem schäbigen Gasthaus!“

 

Robert war peinlich berührt: „Ich glaube, es ist besser, wenn ich nachher mit dem Pfarrer allein meine Großmutter besuche und dich ihr später einmal vorstelle.“

„Das kannst du machen, wie du willst, ich werde mich schon nicht langweilen!“, sagte Edith schnippisch und lächelte den kräftigen Wirt an, der drei Gläser Pastis auf den Tisch stellte.

Im selben Moment stolperte der Bürgermeister in die Wirtsstube.

„Da sitzt du in aller Ruhe beim Pastis und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein, während deine Schäfchen dem Fegefeuer zum Opfer fallen!“, rief er dem Pfarrer zu.

Der sah ihn entgeistert an: „Wer fällt dem Fegefeuer zum Opfer?“

„Die Baronin und ihr Butler! Sie sind beide im Gutshaus verbrannt!“

„Um Himmels willen, wann und wie ist das passiert?“

„Es muss letzte Nacht geschehen sein“, sagte der Bürgermeister. „Wie es passiert ist, weiß man noch nicht.“

„Ich muss sofort zum Gutshaus!“, rief der Pfarrer. „Die armen Opfer müssen gesegnet und würdig bestattet werden.“

„Nein, setz dich nur wieder hin“, winkte der Bürgermeister ab. „Die Polizei lässt niemanden auf das Anwesen, solange die Brandursache noch nicht ermittelt ist.“

„Welch ein Unglück auch für diesen jungen Mann“, sagte der Pfarrer. „Heute hätte er endlich seine Großmutter kennenlernen sollen.“

„Sie sind der Enkel der Baronin?“, fragte der Bürgermeister erstaunt. Robert nickte und stellte sich vor. „Er ist gestern Abend hier angekommen, um den Geburtsort seines Vaters zu besichtigen“, erklärte der Pfarrer.

„Ich bin sogar in dem Gutshaus meiner Großmutter gewesen, weil ich nach dem Weg fragen wollte.“

„Was heißt "wollte"? Du hast doch gefragt, oder etwa nicht?!“, mischte sich Edith ein.

„Ja doch, den Butler, das hab' ich dir doch schon gesagt“, bestätigte Robert nervös.

„Sie waren gestern bei der Baronin?“, drängte sich ein salopp gekleideter Mann, der kurz nach dem Bürgermeister den Schankraum betreten hatte, in das Gespräch und stellte sich als Kommissar Simenon vor.

„Man schickt uns einen Kommissar? ‒ Glaubt die Polizei an ein Verbrechen?“, fragte der Bürgermeister.

„Unsere Ermittlungen haben erst begonnen. Deshalb auch gleich meine Frage an Sie, Herr de Brandt: wann waren Sie gestern Abend in dem Gutshaus ihrer Großmutter?“

„Um 22.00 Uhr!“, krähte Edith, bevor Robert antworten konnte.

„Wurden Sie erwartet?“

„Nein, es war purer Zufall, dass wir bei ihr vorbeigekommen sind. Ich wusste zuerst auch gar nicht, dass es das Haus meiner Großmutter war.“

„Wann und wie haben Sie es erfahren?“

„Als ich in der Eingangshalle unser Familienwappen sah, habe ich es geahnt.“

„Wer hat sie ins Haus gelassen?“

„Niemand, die Tür war offen.“

Simenon runzelte die Stirn: „Und da sind sie einfach hineinspaziert?“

Robert nickte verlegen.

„Wie ich vorhin dem Gespräch entnommen habe, kannten Sie ihre Großmutter gar nicht“, wunderte sich der Kommissar.

„Ich bin ihr nie begegnet und hatte auch sonst keinerlei Kontakt zu ihr. Sie wollte weder von meiner Mutter noch von mir etwas wissen und ließ unsere Briefe unbeantwortet“, erklärte Robert.

„Sie waren also in der Empfangshalle. Was geschah dann?“, bohrte der Kommissar weiter.

Robert zögerte mit der Antwort.

„Dann kam doch der Butler und du hast ihn nach dem Weg gefragt“, assistierte Edith ungebeten.

Robert nickte. „Waren Sie auch im Haus?“, fragte der Kommissar Edith.

„Nein, ich habe im Auto gewartet. Es hat ja so stark geregnet, geblitzt und gedonnert.“

„Woher wissen Sie dann, dass ihr Gemahl mit dem Butler in der Empfangshalle gesprochen hat?“

„Von meinem Gatten natürlich“, antwortete Edith.

Simenon wandte sich wieder an Robert: „Haben Sie sich dem Butler zu erkennen gegeben?“

„Nein, ich wollte ja nur nach dem Weg fragen. Ich habe erst heute beschlossen, mich meiner Großmutter vorzustellen.“

„Wie lange haben Sie denn mit dem Butler gesprochen?“

„Vielleicht zwei Minuten!“

„Wie sah der Butler aus?“, fragte Simenon.

Robert zögerte: „Ich weiß nicht mehr. Es war nicht sehr hell. In der Halle brannte nur eine alte Petroleumlampe.“

„Na, etwas müssen Sie doch wissen, wenn Sie gestern Abend mit dem Mann gesprochen haben“, insistierte der Kommissar. „War er groß oder klein, dick oder dünn? Trug er einen Bart? War sein Gesicht rund oder hager, faltig oder glatt, hell oder dunkel? Wie war er gekleidet?“

„Er, er trug einen Anzug“, stotterte Robert.

„Das tun Butler meistens“, schmunzelte Simenon. „Welche Farbe, welches Muster hatte sein Anzug?“

Robert war am Ende. „Ich habe mit niemandem gesprochen“, gestand er kleinlaut. „Ich habe in der Empfangshalle gewartet und gerufen, doch es kam niemand. Es war so unheimlich. Und dann sah ich dieses grausige Portrait an der Wand und bin rausgerannt.“

„Waschlappen!“, entfuhr es Edith. „Ein erwachsener Mann ‒ und fürchtet sich vor einem Bild!“

Der Wirt hinter der Theke lachte schallend und Robert wäre am liebsten im Boden versunken.

„Was war denn so grausig an dem Portrait?“, fragte der Kommissar. Robert beschrieb es ihm.

„Ich glaubte, es sei ein präparierter Frauenkopf, bis mir der Herr Pfarrer sagte, dass es nur ein Portrait sei.“

Der Pfarrer nickte bestätigend.

„Haben Sie in dem Haus Stimmen oder irgendein Geräusch gehört?“, wollte der Kommissar wissen.

„Nein, es war totenstill, obwohl aus einem Zimmer ein schwacher Lichtschein in den dunklen Gang hinter der Vorhalle fiel und die ganze obere Etage hell erleuchtet war.“

„Herr de Brandt, ich muss Sie bitten, sich weiterhin zu unserer Verfügung zu halten: das heißt, Sie dürfen diesen Ort einstweilen nicht verlassen.“

„Sie glauben doch nicht etwa, dass ich nach Frankreich gekommen bin, um meine Großmutter zu verbrennen!“, rief Robert empört und sah den Kommissar fassungslos an.

„Sie hätten ein Motiv: vielleicht haben sie ihre Großmutter gehasst und wollten sie beerben“, entgegnete der Kommissar kühl. „Ich fahre jetzt zum Brandort. Vielleicht haben meine Kollegen von der Spurensicherung schon etwas gefunden. Heute Abend werde ich wieder hier sein.“

Der Kommissar trank sein Bier aus und verließ das Gasthaus in Begleitung des Bürgermeisters.

„Das ist ja eine schöne Bescherung!“, zischte Edith ihren Mann an. „Jetzt muss ich wohl in diesem Nest meinen ganzen Urlaub verbringen, weil du unter Mordverdacht stehst! Dauernd versaust du mir den Urlaub!“ Wütend schnappte sie ihre Handtasche und ging auf ihr Zimmer.

Robert saß da, wie ein begossener Pudel. Er wollte sich bei dem Pfarrer für das Benehmen seiner Frau entschuldigen, doch der winkte lächelnd ab: „Frauen haben ein anderes Temperament als wir. ‒ Trinken wir lieber noch einen Pastis auf diesen Schreck.“

Der Wirt brachte sogleich zwei gefüllte Gläser.

„Glauben Sie mir, Herr Pfarrer, ich bin kein Mörder!“, beteuerte Robert.

„Ich glaube dir“, erwiderte der beruhigend. „Solch eine abscheuliche Tat traue ich dir gar nicht zu. Aber du warst ausgerechnet gestern Abend am Brandort und deine kleine Lügengeschichte hat auf den Kommissar keinen guten Eindruck gemacht.“

„Die Geschichte habe ich doch nur wegen Edith erfunden. Die hätte mir doch nicht geglaubt, dass niemand da war, weil doch im ganzen Haus das Licht brannte.“

„Tja“, sagte der Pfarrer nachdenklich, „das ist schon sehr seltsam. Ist dir vielleicht sonst noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Ja, doch ‒ als ich auf den Eingang zuging, glaubte ich im Lichte eines Blitzes auf dem Hof eine kleine Gestalt gesehen zu haben.“

„Das könnte der schwarze Pier gewesen sein“, meinte der Pfarrer „denn Paul, der Butler, hat ihm immer etwas Geld gegeben.“

„Warum tat der Butler das?“, wunderte sich Robert.

„Man munkelt“, sagte der Pfarrer, „dass Pier sein Sohn sei. Paul war früher als Fremdenlegionär auf der Insel Mayotte stationiert. Nach seinem Austritt aus der Legion wurde er Butler bei der Baronin. Den schwarzen Pier hat er damals wohl mitgebracht.“

„Warum wohnt Pier in der Schlossruine und nicht bei seinem Vater?“

„Pier ist ein Herumtreiber. Er hält es nirgendwo lange aus und wollte offenbar nicht bei seinem Vater wohnen.“

„Wer und wo ist seine Mutter?“, fragte Robert weiter.

„Über seine Mutter weiß ich nichts. Vermutlich war sie eine Eingeborene auf Mayotte. ‒ Jedenfalls hatte Pier keinen Grund, das Haus, in dem sein Vater lebte, niederzubrennen.“

„Es sei denn, der Butler hat ihm diesmal kein Geld gegeben“, wandte Robert ein.

„Das ist doch kein Grund, Feuer zu legen!“, erwiderte der Pfarrer entrüstet.

„Nicht für einen normalen Menschen“, stimmte Robert zu.

„Der schwarze Pier ist völlig harmlos. Der tut niemandem etwas zuleide!“, bekräftigte der Pfarrer seine Meinung. „Aber vielleicht hat er etwas gesehen. ‒ Jedenfalls müssen wir heute Abend den Kommissar über deine Beobachtung informieren.“

Der Pfarrer verabschiedete sich und Robert blieb mit dem Wirt allein. Der putzte die Zapfhähne am Ausschank. Er war schwarzhaarig, groß und breitschultrig, hatte dichte Augenbrauen, einen schwarzen Vollbart und den braunen Teint eines Naturburschen. Robert hingegen war dunkelblond, schmal und hatte nur eine durchschnittliche Körpergröße und eine blasse Hautfarbe. Neben dem Wirt wirkte er fast zierlich.

„Der Kerl hat bei den Frauen bestimmt gute Chancen“, dachte Robert. Wie höhnisch hatte dieser Hüne vorhin über ihn gelacht. Der Wirt war Robert unsympathisch. Hier wollte er nicht bleiben. Er beschloss, zum Landhaus seiner Großmutter zu gehen.

6/21 ― Das Spukschloss

Edith beendete ihren Mittagsschlaf um halb drei, trank einen Kaffee und spazierte danach missmutig durchs Dorf. Hier gefiel ihr gar nichts. Es gab keine Modegeschäfte und die Straßen waren fast menschenleer. Das halbe Dorf war zum Landsitz der Baronin gepilgert, denn die Nachricht von dem Unglück hatte sich in dem kleinen Ort in Windeseile herumgesprochen. Edith beschloss, auch dorthin zu gehen. An der Dorfkirche begegnete ihr der Wirt des Postillion.

„Wohin wollen Sie denn?“, fragte er Edith.

„Zum abgebrannten Landsitz der Baronin. Wollen Sie nicht mitkommen?“

„Ach nein“, sagte der Wirt. „Was gibt es an einer rauchenden Ruine schon zu sehen?“

„Wohin führt denn diese schöne Allee, aus der Sie gerade kommen?“

„Zum alten Schloss, einer hässlichen schwarzen Ruine in einem verwilderten Park.“

„Waren sie gerade dort?“ fragte Edith neugierig.

„Nein, ich habe nur einen Verdauungsspaziergang durch die Felder gemacht.“

„Ich würde gern das Schloss sehen. Würden Sie es mir zeigen?“, fragte Edith charmant lächelnd.

„Das wird nicht möglich sein, weil das Parktor immer verschlossen ist. Außerdem soll es dort spuken“, sagte der Wirt.

Edith lachte: „Ach, wie interessant. Jetzt möchte ich erst recht dorthin ‒ wenigstens bis zum Parktor. Sie können ja mitkommen und mich beschützen.“

„Einverstanden, ich beschütze Sie.“

„Dann sollten Sie "Edith" zu mir sagen.“

„Bruce“, sagte der Wirt und reichte Edith seine Pranke.

„Oh, Bruce, du bist ein richtiger Mann, groß und stark, bei dir fürchte ich mich vor gar nichts!“, säuselte Edith und Bruce grinste.

Nach wenigen Minuten waren sie am Parktor. Edith drückte auf die Türklinke. Das Tor öffnete sich.

„Es ist offen!“, rief sie übermütig und bat Bruce mit einer einladenden Geste einzutreten.

Aber der zögerte: „Und wenn jemand das Tor hinter uns abschließt?“

„Dann klettern wir eben über die Parkmauer“, wischte Edith die Bedenken des Gastwirts hinweg.

Auf der dunklen Allee schmiegte sich Edith an ihren neuen Freund.

„An der Ruine gibt es eigentlich nichts zu sehen und der Garten hinter dem Schloss ist total verwildert“, sagte Bruce.

„Ich möchte trotzdem dort hin“, beharrte Edith.

„Dann sollten wir um das Schloss herum gehen“, schlug Bruce vor.

„Warum ‒ weil es dort spukt? Hat der starke Bruce etwa Angst?“, fragte Edith keck.

„Ach was“, entgegnete der, „ich möchte bloß nicht, dass dir in dem morschen Gemäuer ein Stein auf dein hübsches Köpfchen fällt.“

„So morsch sieht das Gemäuer gar nicht aus“, meinte Edith, als sie das Schloss erreichten. „Also ich gehe jetzt da durch. Du kannst ja außenrum gehen, dann treffen wir uns hinter dem Schloss im Garten wieder.“

Forsch marschierte Edith über die Katzenbuckelbrücke des Schlossgrabens.

„Warte, warte, ich komme mit!“, rief Bruce und eilte ihr nach. „Ich kann dich doch nicht allein durch ein Spukschloss gehen lassen!“

Edith lächelte ihn an und gab ihm einen Kuss. Sie befanden sich jetzt im Schlosshof.

 

„Das muss hier einmal herrlich gewesen sein!“, rief Edith begeistert. „Das müsste man restaurieren ‒ und dann hier leben, mit einem Mann wie dir!“

„Du bist schon verheiratet“, erinnerte sie Bruce.

„Tja, manchmal macht man eben Fehler“, seufzte Edith.

Nach dem Abitur hatte sie, wie ihre damalige Schulfreundin, ein Romanistikstudium begonnen. Ihre Freundin hatte nach dem zehnten Semester einen promovierten Juristen geheiratet. Edith hatte noch zwei Semester länger ohne besonderen Eifer vor sich hin studiert und dann, wohl auch in Torschlusspanik, den Finanzbeamten Robert geheiratet.

Sie näherten sich der Freitreppe vor der Empfangshalle. Bruce nahm Edith auf seine starken Arme und trug sie die Treppe hinauf in den Saal. Edith hielt seinen Hals umschlungen und quietschte vor Vergnügen. In dem Kamin, in dem der schwarze Pier seine Suppe gekocht hatte, glommen noch ein paar Holzscheite. Bruce trug Edith, die in die entgegengesetzte Richtung schaute, schnell durch die Halle in den Garten. Der alte Barockgarten war verwildert und die streng geometrische Anordnung seiner Beete kaum noch erkennbar. Ein großer Teich glitzerte im Sonnenlicht. Schattenspendende Bäume umgaben ihn und an seinem Ufer wuchsen Seerosen.

„Wunderschön! Lass uns zum See gehen“, schlug Edith vor.

„Willst du etwa in dem schmutzigen Wasser schwimmen?“, fragte Bruce besorgt.

„Ich kann gar nicht schwimmen!“, rief Edith, die schon ein Stückchen vorausgelaufen war. „Ich möchte im Schatten der Bäume am See ausruhen, weil es dort so schön ist!“

Dagegen hatte Bruce nichts einzuwenden. Sie lagerten sich unter einer Trauerweide.

„Bist du glücklich mit deiner Yvonne?“, fragte Edith unvermittelt.

„Ach, was heißt glücklich? Wir haben jung geheiratet und leben eben schon lange zusammen.“

Edith rückte nah an Bruce heran. „Und es gab nie andere Frauen für dich ‒ so zwischendurch?“

„Nein, natürlich nicht, niemals!“, grinste Bruce.

Edith lachte: „Das klingt nicht überzeugend! ‒ Und Yvonne, ist sie dir treu?“

„Ja, ganz sicher“, antwortete Bruce prompt und fragte seinerseits: „Und du, bist du deinem Mann treu?“

„Er glaubt es zumindest!“

„Und dein Mann, ist er dir treu?“

„Oh ja, der ist mir verfallen und frisst mir aus der Hand.“

Sie lachten beide, küssten sich leidenschaftlich und entledigten sie sich ihrer Kleidung.

„Oh, du bist verwundet!“, Edith deutete auf ein blutiges Tuch am rechten Unterarm ihres Geliebten.

„Nicht schlimm, nur ein kleiner Kratzer. Hab' mich an einem Zaunnagel geritzt.“

„Das ist sogar sehr schlimm!“, widersprach Edith mit besorgtem Doktorblick. „Das kann eine Blutvergiftung geben! Du musst damit zum Arzt!“

„Mach dir keine Sorgen!“, lachte Bruce. „Ich bin gegen Tetanus geimpft.“

Er nahm Edith in seine Arme und erstickte alle weiteren Einwendungen mit einem langen Kuss, der Edith in den sprichwörtlichen siebten Himmel beförderte, wo der Verstand aussetzt und alle weiteren Handlungen nur von Gefühlen gesteuert werden. ‒ Ein anschließendes Bad im See, bei dem Bruce darauf achtete, dass sich Edith ganz nah am Ufer hielt, sorgte dann für Abkühlung.

„Ach, wären wir uns doch schon früher begegnet!“, seufzte Edith.

„Zu schade, dass ich mich nicht von Robert scheiden lassen kann, weil ich dann nicht mehr Baronin wäre und kein Schloss mehr hätte!“

„Robert ist gar kein Problem. Der wird den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen, weil er seine Großmutter umgebracht hat“, meinte Bruce.

„Robert hat seine Großmutter nicht umgebracht“, widersprach Edith.

„Die Polizei glaubt, dass er den Landsitz angezündet hat“, sagte Bruce trocken.

„Aber er war nur ein paar Minuten in dem Gutshaus. Kann man in so kurzer Zeit einen so verheerenden Brand legen?“, fragte Edith zweifelnd.

„Sicher kann man das ‒ mit Petroleum aus alten Lampen, zum Beispiel. ‒ Wenn du bei der Polizei die "richtigen" Aussagen machst, bist du deinen Mann bald los.“

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