Buch lesen: «Ressentiment», Seite 2

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2. RESSENTIMENTBILDUNG, SEKUNDÄR

Die beschriebene Affekthemmung aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus, das daraus resultierende wiederholte Durchleben und Durchleiden der eigenen Niederlagen, der eigenen Unterlegenheit sowie der Demütigung durch den Überlegenen, die allmählich toxisch wirkende Akkumulation der nicht ausagierten und damit nicht befriedigten, nicht befriedeten Affekte, mithin die unweigerliche Beschädigung des eigenen Selbstverhältnisses – all das lässt sich als erste Ebene einer Morphologie des Ressentiments beschreiben. Die zweite Ebene seiner Morphologie ist gekennzeichnet von der Ausbildung psychologischer Abwehrmechanismen gegen die eigenen Folgen. Es gehört allerdings zur inneren Logik des Ressentiments, dass diese gerade nicht auf die ihm eigentlich zugrunde liegenden Ursachen, die tatsächlichen Urkonflikte im Inneren des Ressentimentalen selbst zielen, sondern auf die Konstruktion alternativer, außerhalb seiner selbst verorteter Problemursachen und Konfliktszenarien. Diese Abwehrmechanismen erfüllen damit zwar eine Funktion für den Ressentimentalen: sie stabilisieren das beschädigte Selbstverhältnis, lindern (zumindest zeitweilig) das Leiden an sich selbst und machen das Dasein und das eigene Sosein überhaupt erst wieder erträglich.22 Vor allem aber dienen sie zur Camouflage der eigentlichen im eigenen Selbst grundgelegten – und eben deswegen so hochproblematischen – Urkonflikte. Sie führen gerade deswegen aber auch zur Verstärkung und Verfestigung derselben, befeuern damit das Leiden an sich selbst und verstärken somit letztlich die ressentimentale Umklammerung der Persönlichkeit. Der Ressentimentmechanismus wird dadurch nicht bloß chronifiziert – er reproduziert zugleich unaufhörlich die Bedingungen, unter denen er sich weiter etabliert und als grundlegender Persönlichkeitszug stabilisiert. Erst durch die psychologischen Abwehrmechanismen gegen das Ressentiment gelangt das Ressentiment zu seiner vollen Entfaltung. Sie sind ein wesentlicher und notwendiger Aspekt desselben und können nicht von ihm getrennt werden.

ENTREALISIERUNG

Die Verbindung des Ohnmachtsgefühls als »ausgeprägte[s] Bewußtsein des ›Nichtkönnens‹« mit einem »starken unlustvollen Depressionsgefühl« sowie »Furcht, Angst, Eingeschüchtertheit« bildet Scheler zufolge mächtige »seelische Verdrängungsmächte« aus. Sie setzen einen mehrstufigen Verdrängungsprozess in Gang. (1) Wenn die Ressentimentaffekte zunächst auf ein konkretes Objekt – etwa eine bestimmte Person – und eine konkrete Situation – ein kränkender Akt dieser Person – gerichtet waren, gehen sie nun auf diese Person selbst über. Die ressentimentale Abneigung zielt dann plötzlich auf »alle möglichen Eigenschaften, Handlungen, Lebensäußerungen, die dieser Mensch hat«, ohne dass diese je in irgendeiner engeren Verbindung mit der erfahrenen Kränkung stehen, sondern nur, weil sie mit diesem Menschen assoziiert werden. (2) Die Abneigung weitet sich mit dem nächsten Verdrängungsschub von diesem konkreten Menschen auf alles aus, »was mit ihm zusammenhängt an Menschen, Beziehungen, ja Sachen und Situationen«. Das Ressentiment springt von einer bestimmten Person etwa auf ganze Personengruppen, denen diese zugeordnet wird, über. (3) Ferner löst es sich schließlich von diesem immer noch mehr oder weniger bestimmten Personenkreis »und wird zu einer negativen Einstellung auf bestimmte Erscheinungswerte – gleichgültig, wer sie hat, wo und wann sie auftreten«. Der ressentimentale Groll löst sich nun ganz von seinem konkreten Objekt und wird zu einer Unterstellung gegen alles, was in irgendeiner Form Assoziationsketten und damit Affektabfolgen in Gang setzt – gegen alles, was auch nur wie ein fernes Echo dieses einstigen Objekts anmutet. (4) Das Ressentiment wird mit der Zeit beinahe vollkommen unkonkret und objektlos, es »›irradiiert‹ in allen möglichen Strahlen« – verliert dabei allerdings nichts an seiner Potenz. Dieser Prozess schreitet unter Umständen soweit fort, dass »der betreffende Mensch selbst nicht angeben kann, ›wovor‹ er sich fürchtet und ängstigt, ›wozu‹ er ohnmächtig ist«. Aus dem sehr begrenzten Gefühl der Furcht – begrenzt in dem Sinn, dass Furcht stets konkrete Personen, Objekte, Szenarien aufweist – formt sich allmählich Angst, die sich durch eine diffuse Bedrohungslage, einem vagen, nicht genau abgrenzbaren Bedrohungsgefühl auszeichnet. Mit dem fortschreitenden Verdrängungsprozess verschwimmt das Ressentiment also einerseits, wird dadurch weniger akut und mildert sich ab. Es wird für den Ressentimentmenschen leichter zu ertragen. Zugleich aber weitet es sich auch aus, wird unübersichtlicher – es wird allumfassend, allgegenwärtig.23

(5) Schließlich wird das Ressentiment selbst verdrängt. Im Zuge dieser Entwicklung ins immer Unkonkretere und Objektlosere werden die ressentimentalen Affekte selbst zunehmend an den Rand des Bewusstseins und schließlich darüber hinaus gedrängt. Neben der Diffusion in unkonkrete Objektlosigkeit, führt die nun schon lange währende Gewöhnung an die schon so lange dominanten Affekte dazu, dass sie für den Ressentimentalen selbst immer weniger erfahrbar sind. Die Ressentimentaffekte rücken immer stärker von der Peripherie ins Zentrum des Gefühlshaushaltes – sie wandeln sich von einer eigenständigen, deutlich unterscheidbaren Facette innerhalb desselben zur Matrix des Gefühlshaushaltes, sie gerinnen zur Grundform des Fühlens, die nun wiederum all seine Facetten allmählich durchsättigt. Der Ressentimentmensch merkt irgendwann gar nicht mehr, dass er vor Ressentiment grollt, dass er ressentimentvoll ist. In den am weitesten fortgeschrittenen Stadien der Verdrängung schlägt das Ressentiment schließlich in einen »allgemeine[n] Wertnegativismus« um, »eine ganz unbegründet erscheinende und scheinbar regellos hervorbrechende, plötzliche haßerfüllte Ablehnung selbst gegen Dinge, Situationen, Natur-Objekte, deren losen Zusammenhang mit dem ursprünglichen Objekt des Hasses nur eine schwierige Analyse finden kann«.24

Dies ist ein eminent kritischer Punkt der Ressentimentbildung. Auf ihrem Drift ins immer Unkonkretere und Objektlosere werden die Ressentimentaffekte zunehmend »entrealisiert«. Wiehl meint mit diesem unrümpfigen aber sehr treffenden Wort: sie »verlieren […] den Sinn für die Realität, für die Wahrheit, und fixieren sich in negativer Einstellung auf Ersatzgegenstände«.25 Die Entrealisierung bewirkt eine erhebliche und dauerhafte Beeinträchtigung des Wahrnehmungsapparats. Aufgrund der Diffusion der Ressentimentaffekte lösen sie sich von ihrem eigentlichen Entstehungsgrund, von ihren ursächlichen Auslösern, werden fundamentlos. Sie verlieren ihren Bezug zur Realität. Die ›objektive‹ Realität verliert innerhalb des Wahrnehmungs- und Verarbeitungsaktes die Deutungshoheit über das Geschehen. An ihre Stelle als diejenige Größe, die den Geschehnissen und Erlebnissen ihre Färbung, ihre Tendenz und Ausdeutung verleiht, tritt der Erfahrungshorizont des Ressentimentmenschen – und dieser ist maßgeblich durch das Ressentiment überformt: durch die Erfahrung der eigenen Unterlegenheit und Wertlosigkeit, die Erfahrung des Anderen als Überlegenen und Kränkenden, durch den Verdacht, dass ›der Andere‹, jeder Andere eine Bedrohung ist und potenzielle Quelle seines Leidens, durch die seelische Vergiftung, die ihn bitter macht und hoffnungslos.26 »Das Ressentiment statuiert [somit] einen Kreislauf sich selber bestätigender Erwartungen«.27 Olschanski etwa charakterisiert den Ressentimentmenschen als »desituiert« – er reagiere »nicht auf die Eindrücke […], die er unmittelbar empfängt«, sondern auf längst erlittene Wunden und Kränkungen, die im aktuellen Geschehen lediglich neu aufbrechen, dieses zugleich überschatten und eine neue – alte – Deutung aufprägen.28 Schoeck spricht gar von einer »systematische[n] Destruktion […] der einzelnen konkreten Lebenserfahrung«, so dass der Ressentimentale »überhaupt nur mehr das, was seiner Gefühlslage entspricht« sieht und erlebt. Das Ressentiment habe eine »die Struktur und Prozesse des Wahrnehmungsaktes beeinflussende Natur«. – »Der ganze Wahrnehmungsapparat« sei darauf eingestellt, »aus der Wirklichkeit nur das herauszuschneiden«, was das Ressentiment bestätigt und bestärkt.29 Die sich so herausgebildete Struktur prägt den Erlebnishorizont des Ressentimentmenschen in einem weit größeren Umfang, als es seine tatsächlichen Interaktionen mit dem Anderen tun. Der kausale Nexus zwischen dem tatsächlichen Handeln des Anderen und der Empfindung, die dieses im Ressentimentmenschen auslöst, löst sich auf. Er beginnt in dem Geschehen, das ihm widerfährt, das zu sehen, was er braucht, um die psychologischen Abwehrmechanismen – die ihn (scheinbar) vor der Selbstentfremdung retten – plausibilisieren zu können: braucht er äußere Gründe und widrige Umstände für die eigene prekäre Lage und die Machtlosigkeit, daran etwas ändern zu können; braucht er Schuldige, die ihn erst in diese Lage gebracht haben; braucht er Feindbilder, von denen er bekämpft wird – und entscheidender: die er bekämpft, gegen die man sich abgrenzen kann, gegenüber denen man das eigene geschundene, fragwürdig gewordene Selbst profilieren kann; braucht er den Anderen, den man verachten und entwürdigen kann, auf den man herabblicken kann, um sich selbst an diesem Anblick aufzurichten? Hier nun beginnt der Ressentimentale, selbstbildstabilisierende Mechanismen im systematischen Stil hervorzubringen, um die unerträglich werdende Spannung zwischen seinen Affekten und der Unfähigkeit, sie gegen diejenigen Objekte angemessen auszuagieren, die sie ursprünglich in ihm ausgelöst haben, abzubauen, indem er sie auf und gegen Ersatzobjekte richtet. Die Diffusion der Ressentimentaffekte – ihre Entkoppelung von den sie ursprünglich auslösenden Objekten – ist dafür Grundlage und Ermöglichungsbedingung.

Sie gibt allerdings zugleich Raum für die Möglichkeit, dass sie sich nicht bloß relativ willkürlich gegen Ersatzobjekte zu richten beginnen, sondern auch gegen ihr Subjekt selbst. Dann kommt es zur Internalisierung der ressentimentalen Affekte: da ihnen die Entladung nach außen versagt bleibt, bleiben sie nicht nur in ihrem Träger, stauen sich in ihm auf, und prägen sein Fühlen und Empfinden – sie richten sich schließlich auch noch gegen ihn selbst. So verschärfen sie sogar die prekäre Situation des Ressentimentalen, erhöhen noch einmal den Druck auf sein problematisches Selbstbild und sein Selbstverhältnis: »es tritt der Zustand des ›Selbsthasses‹, der ›Selbstqual‹, des ›Rachedurstes gegen sich selbst‹ auf«.30 Insofern kann man die Internalisierung der Ressentimentaffekte als katalytisches Moment deuten, das die selbstbildstabilisierenden Maßnahmen nur umso dringlicher macht – das den Ressentimentalen schließlich über den Rand des Abgrunds treibt.

SELBSTBILDSTABILISIERENDE MASSNAHMEN

Den selbstbildstabilisierenden Maßnahmen, die auf der Diffusion der Ressentimentaffekte aufbauen und sich aus ihr heraus entfalten, eignet als zentrales Element die Instrumentalisierung ›des Anderen‹ – genauer: der Antagonismus zum Anderen. Es kommt zu einer mehrschichtigen Feindbildkonstruktion. »Der Mensch des Ressentiment […] bedarf des gehaßten Feindes«, er bedarf »jener Umwelt von Bösen«.31 Die Hervorbringung dieser Feindschaft, wird nun zur zentralen Funktion des Ressentiments für seinen Träger. Hierauf läuft seine innere Logik hinaus: auf die Entlastung des eigenen Selbstbildes auf Kosten des Anderen – der durch den vom ressentimental vorgeprägten Erlebnishorizont her verzerrten Wahrnehmungsapparat zum Feind umgesehen und umgedeutet wird.

Dann kommt es etwa zur Schuldfrage – und zur Schuldverlagerung. Aus der Schmach der eigenen Unterlegenheit, dem Minderwertigkeitsgefühl und der immer wieder als überwältigend empfundenen Ohnmacht entwächst eine Suchbewegung nach den ›wahren‹ Schuldigen für die eigene Misere. Der Ressentimentmensch benötigt sie, um sich seine prekäre Lage, sein Versagen zu erklären und sich gleichsam vor sich selbst zu rechtfertigen. So projiziert er die Schuld auf andere: nicht die eigenen Unzulänglichkeiten haben ihn in diese Lage gebracht – es waren die Anderen, die ihn niederhalten und unterdrücken; es waren die Anderen, die ihn verraten haben, ihn in seinem Wohlwollen hintergangen haben; immer die Anderen, die sich gegen ihn verschworen haben. Die Externalisierung der Schuld an der eigenen Lage ändert noch nichts an seiner Lage – doch der Ressentimentmensch erfährt zumindest dadurch, dass er nicht auch noch die Schuld an ihr trägt, eine Entlastung seines Selbstbildes. Er kann sich davon frei sprechen. Doch darüber hinaus erwächst ihm auf diese Art ein Schuldiger, dem er wenigstens wieder grollen kann, den er – anders als sich selbst – hassen und verachten, anklagen und verurteilen, gegen den er auf Rache sinnen kann. »[J]eder Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Thäter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen schuldigen Thäter, – kurz, irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte thätlich oder in effigie auf irgend einen Vorwand hin entladen kann«.32 Die damit in Gang kommende Abfuhr all seiner Ressentimentaffekte allein verschafft ihm in seiner Situation bereits Erleichterung.

In engem Zusammenhang mit der Schuldverlagerung steht ein psychologischer Mechanismus, den Scheler als »Kausaltäuschung« beschreibt. Danach neigt der Ressentimentale dazu, eine kausale Verknüpfung des eigenen Ergehens mit den Taten anderer herzustellen – stellt dabei aber häufig Zusammenhänge her, wo gar keine sind. Es kann ihm nicht einfach so schlecht ergehen, etwa durch Zufall, Schicksal, am wenigsten durch eigenes Unvermögen: jemand anderes muss dahinter stecken, muss es aktiv und absichtlich herbeigeführt haben. Dem eigenen Missgeschick wird das intentionale Handeln eines Anderen untergeschoben.33

Der Ressentimentmensch neigt aber nicht bloß zur Projektion der eigenen Schuld und der eigenen Verantwortlichkeit an seiner misslichen Lage auf andere. Er neigt auch zu der Projektion derjenigen eigenen als minderwertig empfundenen Eigenschaften und Wesenszüge, unter denen sein Selbstverhältnis so sehr leidet. So gelingt es ihm, die inneren Selbstzweifel, die maßlose Enttäuschung über sich selbst, die daraus resultierende Scham, den Selbsthass abzuspalten und zu manifestieren. Es gelingt ihm, die innere Stimme, die ihm unablässig zuflüstert: ›Du bist Dreck!‹, zum Schweigen zu bringen – und indem er sie auf ein äußeres Objekt überträgt, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, diese Stimme und alles Widerwärtige, das sie repräsentiert, rückhaltlos zu bekämpfen. Der Andere wird so willkürlich zum Vehikel der eigenen verhassten Anteile und damit zur Zielscheibe der ressentimentalen Aggressionen. Doch diese Entlastung ist nie vollständig und nie von Dauer. Denn die innere Stimme, das eigene unbarmherzige Urteil über sich selbst, wird ja in dem beschriebenen Akt nicht wirklich ausgelöscht. Sie regt sich bald wieder und gewinnt wieder an Lautstärke. Die Konsequenz ist ein Kreislauf aus eskalierendem Selbsthass, dem Entlastungsversuch durch projektive Manifestation und sich erneut aufbauendem Selbsthass.34

Wohl am ehesten der im allgemeinen Sprachgebrauch geläufigen Bedeutung von Ressentiment entspricht die Selbststeigerung durch Herabsetzung des Anderen. Scheler beschreibt diesen Mechanismus als »Werttäuschung«, als die »illusionäre Herunterdrückung der wertvollen Eigenschaften des Vergleichsobjekts« beziehungsweise als eine »spezifische ›Blindheit‹ für sie«.35 Der Druck, der auf dem Selbst angesichts seiner ewigen Unterlegenheit lastet, vermindert sich, sobald der Andere seiner Überlegenheit beraubt ist. Je mehr das Vergleichsobjekt in seinem Wert herabgesetzt wird, desto mehr löst sich die Spannung zwischen der angestrebten Selbstbehauptung und der eigenen Unfähigkeit dazu. Auf diese Weise gelingt es, das eigene »Lebens- und Machtgefühl« wieder zu steigern – »wenn auch auf illusionärer Grundlage«.36 Dabei bilden die ressentimentalen Entwertungsmechanismen vielfältige Strategien aus. Bei der direkten Herabwürdigung wird schlichtweg der Wert des Anderen geleugnet, der Wert seiner Person, seiner Eigenschaften und Fähigkeiten, seiner Leistungen und Errungenschaften. Scheler verweist auf die Metapher vom Fuchs und den zu sauren Trauben. Der Fuchs, der sehnsüchtig nach den schon überreifen Trauben blickt, sie aber trotz mehrerer Versuche nicht erreichen kann, weil sie zu hoch hängen, wendet sich schließlich von ihnen ab mit dem Hinweis, dass sie ihm ja noch zu unreif und darum zu sauer wären.37 Bei der indirekten Herabwürdigung werden dem Anderen nicht rundheraus sein Wert, seine Vorzüge und Erfolge abgesprochen – stattdessen »wird etwas, ein A, bejaht, geschätzt, gelobt, nicht um seiner inneren Qualität willen, sondern in der – aber ohne sprachlichen Ausdruck bleibenden – Intention, ein anderes, B, zu verneinen, zu entwerten, zu tadeln. Das A wird gegen das B ›ausgespielt‹«.38 Um im Bild zu bleiben: der Fuchs würde etwa unter dem Hinweis, dass die tiefer hängenden Brombeeren doch viel besser schmecken und eigentlich niemand Trauben wirklich mag, betont lässig davon trotten. Alternativ beschreibt Scheler die Herabwürdigung des Anderen nicht durch die Leugnung seines Werts, sondern durch Modifikation des Wertungssystems selbst. Nicht der Wert der Person des Anderen und seiner Qualitäten wird dann geleugnet, sondern der Wertmaßstab, nach dem dieser bisher bemessen wurde, wird auf den Kopf gestellt, das bisher Gute als doch eigentlich schlecht umgedeutet. Während der Fuchs eben noch die Reife der Trauben leugnete, was ja nach wie vor den Wohlgeschmack süßer Trauben zur Grundlage hat, gesteht er jetzt zu, wie reif und süß die Trauben sind – besteht aber zugleich darauf, dass süße Trauben nicht schmackhaft und nur dann wirklich gut seien, solange sie sauer sind! Die Modifikation des Wertungssystems, an dem sich der Eigen- und Fremdwert ermisst, bezeichnet Scheler in Anlehnung an Nietzsche sogar als »Hauptleistung des Ressentiment«. An diesem Punkt setze die »Fälschung der Werttafeln« ein und das Ressentiment beginne, selbst schöpferisch zu werden und neue Werte und Ideale durch die Umwertung des bestehenden Wertekanons hervorzubringen.39 Hier deutet sich denn auch die epochale Wirkungsgeschichte an, die Nietzsche dem Ressentiment in der Genealogie der Moral herbei schreibt, wie weiter unten noch zu betrachten sein wird.

Der Ressentimentale greift zur Deutungshoheit über das, was gut und das, was schlecht beziehungsweise böse ist. Er besetzt die Positionen, die eben noch als wertvoll galten – denen er aber aufgrund der eigenen Unzulänglichkeiten nicht gerecht zu werden vermag – nun negativ, als unwert, als verwerflich. Aber eben nicht, weil diese intrinsisch schlecht oder verachtenswert wären – sondern allein aus der eigenen Ohnmacht, diese erfüllen zu können, heraus. Konsequenterweise wird das Gegenteil von dem, woran er aus seiner Ohnmacht heraus scheitert – also das, was er selbst verkörpert – nun positiv besetzt. So wird der Ressentimentale selbst derjenige, der das, was als gut, als wertvoll und erstrebenswert gilt, repräsentiert. Doch auch diese ›neuen‹ Werte und Ideale haben wiederum keinen Selbstzweck. Vielmehr dienen sie dem Ressentimentalen zur Erklärung der Überlegenheit des Anderen (der zu unredlichen, schmutzigen Mitteln greift und allein deswegen überlegen ist) und der eigenen Unterlegenheit (weil man selbst redlich ist und sich die schmutzigen Mittel verkneift); und zugleich zur Umkehrung des Kräfteverhältnisses zu den eigenen Gunsten: sie garantiert die eigene Überlegenheit auf dem moralischen Feld. Das Ressentiment ist die »Flucht der Schwäche in die moralisierende Verachtung der Stärke«.40 Gerechtigkeit wird in der Hand des Ressentimentalen zur Waffe – zunächst gegen den Überlegenen und schließlich gegen jeden, der nicht die gleiche Verbitterung zum Ausdruck bringt, die er selbst in sich fühlt: »Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns […]! Unter ihnen giebt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort ›Gerechtigkeit‹ wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzten Mundes, immer bereit, Alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muths seine Strasse zieht«.41 Im Ressentiment verselbständigt sich eine Eigendynamik, die grundsätzlich und zu allererst das Negative sieht: »Es ist in ihm etwas, das schelten möchte, herabziehen, verkleinern«,42 lässt sich mit Scheler sagen und mit Deleuze ergänzen, dass »[d]ie Zurechnung von Fehlern, die Verteilung von Verantwortlichkeiten, die fortwährende Anklage« zu seinen zentralen Motiven zählt.43 Das eigentliche Movens dahinter ist und bleibt aber das neidvolle Herabziehen des Höheren und die Rache gegen sein Höherstehen – verborgen hinter einer Maske der Unschuld, die nicht nur den Anderen täuschen soll, sondern genauso sich selbst. Der Ressentimentale ist aber nicht bloß Ankläger, er wird auch Paranoiker: durch den stets verdächtigenden, stets nach Gründen für eine Verurteilung suchenden Blick, wird er zu jemandem, der immer in Habachtstellung ist, der immer Überfall und Hinterhalt, überall Gefahr und Verschwörung vermutet, und jedem als potenziellen Feind und Gefährder begegnet.

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