Märchen aus China

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Märchen aus China
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Cover

Über den Autor
Über den Autor

»Botschafter zweier Welten« hat man Richard Wilhelm genannt. Er lebte von 1873 bis 1930, ging früh schon als Missionar nach China, wirkte lange Jahre in Tsingtau als Pfarrer und Pädagoge, hatte zuletzt eine Professur an der Pekinger Universität inne. 1924 gründete er in Frankfurt das berühmt gewordene »China-Institut« – er tat das als Botschafter des geistigen China, das er in exemplarischen Übersetzungen u.a. Laotses, Konfuzius’ und des I Ging erstmals bekanntgemacht hat.

Zum Buch
Zum Buch

Hundert Märchen aus dem Reich der Mitte, die uns mehr über chinesisches Denken und Fühlen verraten als die gelehrtesten Abhandlungen. Diese wohl berühmteste Sammlung chinesischer Volkserzählungen hat Richard Wilhelm in Tsingtau in langer geduldiger Übersetzungsarbeit niedergeschrieben. Es ist ein ganzer Kosmos der Märchenpoesie: Kindermärchen und Göttersagen, Geschichten von Heiligen und Zauberern, von Natur- und Tiergeistern, auch Gespenstergeschichten, historische Sagen und schließlich literarisch verfeinerte Märchen wie das von dem Affen Sun Wu Kung, das die mythologischen Motive durchspielt und von lächelndem Humor erfüllt ist. Bald bezaubern uns Mondfee und Himmelskönigin, bald lernen wir Konfuzius, Laotse und die acht Unsterblichen kennen. Wir erfahren phantastische Dinge über die Geister des gelben Flusses, die Sekte vom weißen Lotos, den Mönch am Yangtsekiang.

»Ein nicht unerwünschter Nebenerfolg der Lektüre dürfte sein, dass sich auf diese Weise ein Einblick in Sitten und Gebräuche, Glauben und Denkungsart des chinesischen Volkes eröffnet«, so Richard Wilhelm. Und Hermann Hesse hat ihm beigepflichtet: »Je aktueller das Bedürfnis nach einem Verständnis des Ostens wird, desto wichtiger wird es, die Völker Ostasiens aus ihrem eigenen Denken und Wesen heraus kennenzulernen. Diese Geschichten erzählt sich das Volk, sie gehören nicht jener geheimnisvollen hinter zehn Mauern verzauberten Literatur an, die niemand lesen kann, sondern sind lebendig und gehen noch heute von Hand zu Hand.«

Haupttitel

Impressum


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2011 Der Text wurde behutsam revidiert nach der Ausgabe Chinesische Volksmärchen, Jena 1914 Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH, unter Verwendung des Originalmotivs der Ausgabe von 1914 Redaktion: Christine Klinger, Usingen eBook-Bearbeitung: Medienservice Feiß, Burgwitz Gesetzt in der Palatino Ind Uni – untersteht der GPL v2 ISBN: 978-3-8438-0008-2 www.marixverlag.de

Inhalt

Über den Autor

Zum Buch

Vorwort

Märchen aus China

1. Weiberworte trennen Fleisch und Bein

2. Die drei Reimer

3. Wie einer aus Gier nach dem Kleinen das Große verliert

4. Wer ist der Sünder?

5. Das Zauberfass

6. Das Glückskind und das Unglückskind

7. Der neunköpfige Vogel

8. Die Höhle der Tiere

9. Der Panther

10. Das große Wasser

11. Der Fuchs und der Tiger

12. Des Tigers Lockspitzel

13. Der Fuchs und der Rabe

14. Warum Hund und Katze einander feind sind

15. Die Menschwerdung der fünf Alten

16. Der Kuhhirt und die Spinnerin

17. Yang Oerlang

18. Notscha

19. Die Mondfee

20. Der Morgen- und der Abendstern

21. Das Mädchen mit dem Pferdekopf

22. Die Himmelskönigin

23. Nu Wa

24. Der Feuergott

25. Die drei waltenden Götter

26. Konfuzius

27. Der Kriegsgott

28. Die Heiligenscheine

29. Laotse

30. Der alte Mann

31. Die acht Unsterblichen

32. Die acht Unsterblichen II

33. Die beiden Scholaren

34. Der Priester vom Lauschan

35. Der geizige Bauer

36. Strafe des Unglaubens

37. Morgenhimmel

38. Der König Mu von Dschou

39. Weibertreu (Dschuang Dsï und seine Frau)

40. Der König von Huai Nan

41. Der alte Dschang

42. Der gütige Zauberer

43. Wie einer den Höllenfürsten beschimpfte

44. Wie Muliän seine Mutter aus der Hölle holte

45. Die Blumenelfen

46. Der Bergelf

47. Der Geist vom Wuliän-Berg

48. Der Rossberg-Geist

49. Der Ameisenkönig

50. Der kleine Jagdhund

51. Der Drache nach dem Winterschlaf

52. Die Geister des gelben Flusses

53. Die Drachenprinzessin

54. Hilfe in der Not

55. Die verstoßene Prinzessin

56. Das Fuchsloch

57. Fuchsfeuer

58. Der Fuchs und der Donner

59. Der freundliche und der schlimme Fuchs

 

60. Der große Vater Hu

61. Die sprechenden Silberfüchse

62. Der Scherge

63. Die gefährliche Belohnung

64. Die Rache

65. Der Geisterseher

66. Die Geister der Erhängten

67. Gespenstergeschichten

68. Das tote Mädchen

69. Der unartige Knabe

70. Bestrafte Habgier

71. Die Nacht auf dem Schlachtfeld

72. Die Grabschänder

73. Go Schu Han

74. Die verwandelte Frau

75. Das Oger-Reich

76. Das geraubte Mädchen

77. Der fliegende Oger

78. Giftmischen

79. Schwarze Künste

80. Das treue Mädchen

81. Die bemalte Haut

82. Die Sekte vom weißen Lotos

83. Die drei Übel

84. Wie über zwei Pfirsichen drei Helden zu Tode kamen

85. Wie das Heiraten des Flussgotts aufhörte

86. Dschang Liang

87. Der alte Drachenbart

88. Wie der Molo die Rosenrot stahl

89. Die goldene Büchse

90. Yang Gui Fe

91. Der Arzt

92. Der Mönch am Yangtsekiang

93. Der herzlose Gatte

94. Die schöne Giauna

95. Ying Ning oder die lachende Schönheit

96. Die Froschprinzessin

97. Abendrot

98. Edelweiss

99. Das Heimweh

100. Der Affe Sun Wu Kung

Anmerkungen

Kindermärchen

Göttersagen

Von Heiligen und Zauberern

Natur- und Tiergeister

Gespenstergeschichten

Historische Sagen

Kunstmärchen

Benutzte literarische Quellen

Kontakt zum Verlag

Vorwort

In dem vorliegenden Band der Märchensammlung soll eine Auswahl aus der Märchenwelt Chinas gegeben werden. Die Wahl ist so getroffen, dass möglichst alle Ausprägungsweisen irgendwie vertreten sind. Das Märchen bildet in China kein streng gesondertes Gebiet. Von den Ammengeschichten und Fabeln bis zu Göttermythen, Sagen und Novellen sind die Grenzen durchaus schwankend. Das Wunderbare gehört für China noch zum natürlichen Weltlauf, so dass hier sich keine scharfe Grenze ziehen läßt.

Im allgemeinen wird man sagen können, dass in China besonders das einzelne Bild, die einzelne Situation vorherrscht. Folgerichtige Verbindung der Motive zu einer geschlossenen Handlung ist auch hier dem Kunstmärchen vorbehalten, von dem es wahre Perlen in großer Zahl gibt. Irgendwelche Vollständigkeit konnte nicht erstrebt werden, da sonst der zur Verfügung stehende Raum weit überschritten worden wäre.

Für die Zusammenstellung des Stoffes waren folgende Grundsätze maßgebend:

1. Fast durchweg ist auf mündliche Überlieferung zurückgegriffen, auch da, wo das betreffende Stück in der Literatur schon vorhanden ist. Der Zweck dabei war, festzustellen, wie die Geschichte tatsächlich heute im Volke lebt. Nur bei den Kunstmärchen ist engerer Anschluß an das Original genommen.

2. Neben spezifisch chinesischen Märchen sind auch solche aufgenommen, die fremde Einflüsse zeigen, soweit die Verarbeitung dieser Einflüsse in chinesischem Geiste sich vollzogen hat. So ist Stoff zu Vergleichen gegeben, und es ist oft besonders reizvoll, wie der Stoff in dem chinesischen Mittel sich spiegelt.

3. Außer den eigentlichen Märchen sind Sagenstoffe und Göttermythen mit aufgenommen, soweit sie märchenhaft spielend behandelt sind. Dass durch unsere Sammlung sich auf diese Weise ein Einblick in Sitten und Gebräuche, Glauben und Denkungsart des chinesischen Volkes eröffnet, dürfte ein nicht unerwünschter Nebenerfolg der Lektüre sein.

4. Derbheiten und gewagte Situationen sind, wo es die Vorlage gebot, nicht vermieden, aber auch nicht absichtlich gesucht, um den Tatbestand möglichst unverfälscht wiederzugeben. Die Sammlung gibt Stoff zu Erzählungen für Kinder, ohne dass sie als solche ein Kinderbuch wäre.

5. Die Anordnung der einzelnen Stücke beginnt mit Ammen- und Kindermärchen, die dem Volksmund abgelauscht sind, 1—10. Daran schließen sich einige der in China nicht besonders zahlreichen Tierfabeln, 11—14. Sagen und Märchen von Göttern, Zauberern und Heiligen folgen von 15—44. Dann kommen Geschichten von Natur- und Tiergeistern 45—61, Gespenstergeschichten und Märchen von Teufeln und Geistern von 62—82, historische Sagen von 83—92, Kunstmärchen von 93—99, endlich ein größeres Stück, das die verschiedenen Motive in sich vereinigt, Nr. 100.

Tsingtau, April 1913 D. Richard Wilhelm

Märchen aus China
1. Weiberworte trennen Fleisch und Bein

Es waren einmal zwei Brüder, die wohnten in demselben Hause. Der Große hörte auf die Worte seines Weibes und kam darob mit seinem Bruder auseinander. Der Sommer hatte angefangen, und es war Zeit, die hohe Hirse zu säen. Der Kleine hatte kein Korn und bat den Großen, ihm zu leihen. Der Große befahl seinem Weib, es ihm zu geben. Die nahm das Korn, tat es in einen großen Topf und kochte es gar. Dann gab sie es dem Kleinen. Der Kleine wußte nichts davon, ging hin und säte es auf seinem Felde. Da aber das Korn gekocht war, kamen die Halme nicht hervor. Nur ein einziger Same war noch nicht gar gewesen; so wuchs ein einziger Halm in die Höhe. Der Kleine war arbeitsam und fleißig von Natur, darum begoß und behackte er ihn den ganzen Tag. Da wuchs der Halm mächtig wie ein Baum, und eine Ähre brach hervor wie ein Baldachin, so groß, dass sie einen halben Morgen Landes beschattete. Im Herbste ward sie reif. Da nahm der Kleine eine Axt und hieb damit die Ähre ab. Kaum war die Ähre auf den Boden gefallen, da kam plötzlich ein großer Vogel Rokh rauschend heran, nahm die Ähre in den Schnabel und flog davon. Der Kleine lief ihm nach bis an den Strand des Meeres. Der Vogel wandte sich nach ihm und redete auf Menschenweise also: »Ihr müsst mir nichts zuleide tun. Was ist die eine Ähre Euch denn wert? Östlich vom Meer, da ist die Gold- und Silberinsel. Ich will Euch hinübertragen. Da könnt Ihr nehmen, soviel Ihr wollt, und sehr reich werden.«

Der Kleine war es zufrieden und stieg dem Vogel auf den Rücken. Der hieß ihn die Augen schließen. So hörte er nur die Luft an seinen Ohren sausen, als führe er durch einen starken Wind, und unter sich hörte er das Rauschen und Toben von Flut und Wellen. Im Nu ließ sich der Vogel auf einer Insel nieder. »Nun sind wir da«, sagte er.

Da machte der Kleine die Augen auf und blickte um sich; da sah er allenthalben Glanz und Glimmer, lauter gelbe und weiße Sachen. Er nahm von den kleinen Stücken etwa ein Dutzend und barg sie in seinem Busen.

»Ist es genug?« fragte der Vogel Rokh.

»Ja, ich habe genug«, antwortete er.

»Gut so«, sagte der Vogel, »Genügsamkeit schützt vor Schaden.«

Dann nahm er ihn wieder auf den Rücken und trug ihn übers Meer zurück.

Als der Kleine nach Hause kam, da kaufte er sich mit der Zeit ein gut Stück Land und ward recht wohlhabend.

Sein Bruder aber ward neidisch auf ihn und fuhr ihn an: »Wo hast du denn das Geld gestohlen?«

Der Kleine sagte ihm alles der Wahrheit gemäß. Da ging der Große heim und hielt mit seinem Weibe Rat.

»Nichts leichter als das«, sagte das Weib. »Ich koche einfach wieder Getreide und behalte ein Korn zurück, dass es nicht gar wird. Das säst du aus, und wir wollen sehen, was geschieht.«

Gesagt, getan. Und richtig kam ein einzelner Halm hervor, und richtig trug der Halm eine einzelne Ähre, und als es Zeit zur Ernte war, kam wieder der Vogel Rokh und trug sie in seinem Schnabel davon. Der Große freute sich und lief ihm nach, und der Vogel Rokh sprach wieder dieselben Worte wie das vorige Mal und trug den Großen nach der Insel. Dort sah der Große Gold und Silber ringsum angehäuft. Die größten Stücke waren wie Berge, die kleinen waren wie Ziegelsteine und die ganz kleinen wie Sandkörner. Es blendete ihn ganz in den Augen. Er bedauerte nur, dass er kein Mittel wußte, Berge zu versetzen. So bückte er sich denn und hob an Stücken auf, was er konnte.

Der Vogel Rokh sprach: »Nun ist es genug! Es geht dir über die Kraft.«

»Gedulde dich noch eine kleine Weile«, sagte der Große. »Sei nicht so eilig! Ich muss noch ein paar Stücke haben.«

Darüber verging die Zeit.

Der Vogel Rokh trieb ihn abermals zur Eile an: »Die Sonne wird gleich kommen«, sagte er, »und die ist so heiß, dass sie die Menschen verbrennt.«

»Wart’ noch ein bisschen«, sagte der Große.

Im Augenblick aber kam ein rotes Rad mit Macht hervor. Der Vogel Rokh flog in das Meer, breitete seine beiden Flügel aus und schlug damit in das Wasser, um der Hitze zu entrinnen. Der Große aber ward von der Sonne aufgezehrt.

2. Die drei Reimer

In einem Hause waren drei Töchter. Die älteste heiratete einen Doktor, die zweite heiratete einen Magister, die dritte aber, die besonders klug war und geschickt im Reden, heiratete einen Bauern. Nun traf es sich, dass ihre Eltern Geburtstag feierten. Da kamen die drei Töchter mit ihren Männern, um ihnen Glück und langes Leben zu wünschen. Die Schwiegereltern bereiteten für ihre drei Schwiegersöhne ein Mahl und tischten ihnen Geburtstagswein auf. Der Älteste aber, welcher wußte, dass der dritte Schwiegersohn die Schule nicht besucht, wollte ihn in Verlegenheit bringen.

 

»Das ist doch gar zu langweilig«, sagte er, »wenn wir nur so trinken; wir wollen ein Trinkspiel machen. Auf die Worte: am Himmel — auf Erden — am Tische — im Zimmer — soll jeder ein Gedicht machen, das sich reimt und Sinn hat. Wer’s nicht kann, der muss zur Strafe drei Gläser leeren.«

Alle Anwesenden waren’s zufrieden. Nur der dritte Schwiegersohn kam in Verlegenheit und wollte durchaus gehen. Aber die Gäste ließen ihn nicht fort und nötigten ihn zum Sitzen.

Da begann der älteste Schwager: »Ich will mit dem Reimen anfangen. Ich sage:

 Am Himmel stolz der Phönix fliegt,

 Auf Erden zahm das Schäflein liegt,

 Am Tische les’ ich alte Weise,

 Im Zimmer ruf’ der Magd ich leise.«

Der zweite fuhr fort: »Und ich sage:

 Am Himmel fliegt die Turteltaube,

 Auf Erden wühlt der Ochs im Staube,

 Am Tisch studiert man, was gewesen,

 Im Zimmer führt die Magd den Besen.«

Der dritte Schwiegersohn aber stotterte und brachte nichts hervor. Als alle ihn nötigten, da brach er mit grobem Ton heraus:

 »Am Himmel fliegt — eine Bleikugel,

 Auf Erden geht — ein Tigertier,

 Am Tische liegt — eine Schere,

 Im Zimmer ruf’ ich — dem Stallknecht.«

Die beiden Schwäger klatschten in die Hände und begannen laut zu lachen.

»Die vier Zeilen reimen sich ja gar nicht«, sagten sie, »und außerdem ist kein Sinn darin. Eine Bleikugel ist doch kein Vogel, der Stallknecht tut seine Arbeit draußen, willst du ihn etwa zu dir ins Zimmer herein rufen? Unsinn, Unsinn! Trink’ aus!«

Aber noch ehe sie fertig geredet hatten, da hob die dritte Tochter den Vorhang des Frauengemachs und trat heraus. Sie war ärgerlich, konnte aber doch ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Wieso haben wir keinen Sinn in unseren Zeilen?« sagte sie. »Hört nur zu, ich will’s euch erklären: Am Himmel die Bleikugel wird euren Phönix und eure Turteltaube totschießen. Auf Erden das Tigertier wird euer Schaf und euren Ochsen fressen. Am Tisch die Schere wird all eure alten Schmöker zerschneiden. Im Zimmer der Stallknecht endlich, nun — der kann eure Magd heiraten.«

Da sagte der älteste Schwager: »Gut gescholten! Schwägerin, du weißt zu reden. Wärst du ein Mann, du hättest längst den Doktor in der Tasche. Wir wollen zur Strafe unsere drei Gläser leeren.«

3. Wie einer aus Gier nach dem Kleinen das Große verliert

Es war einmal eine alte Frau, die hatte zwei Söhne. Ihr großer Sohn war ohne Kindesliebe und verließ Mutter und Bruder. Der jüngere aber diente ihr, so dass alle Leute von seiner Kindlichkeit erzählten.

Eines Tages wurde draußen vor dem Dorf Theater gespielt. Da trug er seine Mutter auf dem Rücken hin, damit sie zusehen könne. Vor dem Dorf aber war eine Schlucht. Dort glitt er aus und fiel mitten in die Schlucht hinein. Seine Mutter ward von dem Steingeröll totgeschlagen; ihr Blut und Fleisch war rings umhergespritzt. Der Sohn streichelte den Leichnam seiner Mutter und weinte bitterlich. Er wollte sich selbst töten, als er plötzlich einen Priester vor sich stehen sah.

Der sagte zu ihm: »Sei ohne Furcht, ich kann deine Mutter wieder lebendig machen.«

Mit diesen Worten bückte er sich, las Fleisch und Knochen zusammen und fügte sie alle richtig aneinander. Dann blies er sie an, und schon war die Mutter wieder lebendig. Da hatte der Sohn eine große Freude und dankte ihm auf den Knien. Er sah jedoch an einer Felskante noch ein ungefähr zollgroßes Stückchen Fleisch seiner Mutter hängen.

»Das darf man auch nicht liegen lassen«, sagte er und barg es an seinem Busen.

Der Priester sprach: »Wahrlich, du hast die rechte Kindesliebe!«

Dann ließ er sich das Fleischstück der Mutter geben, knetete daraus ein kleines Männchen, blies es an, und mit einem Sprunge stand es da. Es war ein ganz stattlicher kleiner Knabe geworden.

»Der heißt der kleine Vorteil«, wandte er sich an den Sohn, »du magst ihn deinen Bruder nennen. Du bist arm und hast nichts, deine Mutter zu ernähren; wenn du etwas brauchst, kann es Klein-Vorteil dir verschaffen.«

Der Sohn bedankte sich nochmals. Dann nahm er seine Mutter wieder auf den Rücken und seinen neuen kleinen Bruder an die Hand und ging nach Hause. Wenn er zu Klein-Vorteil sagte: Bringe Fleisch und Wein!, war Fleisch und Wein sofort auch da, und dampfender Reis kochte auch schon im Topf. Wenn er zu Klein-Vorteil sagte: Bringe Geld und Tuch! so füllte das Geld die Beutel, und das Tuch lag in den Kisten bis zum Rand. Was immer er bat, alles wurde ihm zuteil. So wurden sie allmählich recht wohlhabend.

Sein älterer Bruder beneidete ihn aber sehr, und als im Dorfe abermals ein Schauspiel war, nahm er die Mutter mit Gewalt auf den Rücken und ging hin. Da er zur Schlucht kam, glitt er mit Willen aus und ließ die Mutter in die Tiefe fallen, nur darauf bedacht, dass sie auch wirklich ganz in Stücke ginge. Und richtig, die Mutter fiel so übel, dass Rumpf und Glieder rings umher zerstreut waren. Gemächlich stieg er selbst nunmehr hinab, nahm der Mutter Kopf in seine Hände und stellte sich, als ob er weine.

Schon war auch wieder der Priester zur Stelle und sprach: »Ich kann die Toten wieder auferwecken, weiße Gebeine mit Fleisch und Blut umgeben.«

Dann machte er es wie das letzte Mal, und die Mutter kam wieder zu sich. Der ältere Bruder aber hatte absichtlich schon vorher eine ihrer Rippen versteckt.

Die zog er nun hervor und sprach zum Priester: »Noch ist ein Knochen übrig. Was soll man damit tun?«

Der Priester nahm den Knochen, umgab ihn mit Lehm und Erde, blies ihn an wie das letzte Mal, und es entstand ein Männlein, das Klein-Vorteil ähnlich sah, nur war es größer an Gestalt.

»Der heißt die Große Pflicht«, sagte er zu ihm; »wenn du dich an ihn hältst, wird er dir stets zur Hand sein.«

Der Sohn nahm die Mutter wieder auf den Rücken, und die Große Pflicht ging hinter ihm her.

Als er zum Tore des Gehöftes kam, da sah er seinen jüngeren Bruder herbei kommen, der Klein-Vorteil auf den Armen trug.

»Wo gehst du hin?« sagte er zu ihm.

Der Bruder sprach: »Klein-Vorteil ist ein Götterwesen, das nicht dauernd unter Menschen wohnen mag. Er will wieder in den Himmel fliegen, und ich gebe ihm das Geleite.«

»Gib Klein-Vorteil doch mir! Lass ihn nicht gehen!« sagte der Ältere.

Aber ehe er ausgeredet hatte, erhob sich Klein-Vorteil in die Lüfte. Der ältere Bruder ließ nun eilig die Mutter auf den Boden fallen und streckte die Hand aus, um Klein-Vorteil zu erhaschen. Aber es gelang ihm nicht, und schon erhob sich auch die Große Pflicht, fasste Klein-Vorteil bei der Hand, und beide zusammen stiegen zu den Wolken auf und verschwanden.

Da stampfte der ältere Bruder auf den Boden und sagte seufzend: »Ach! Weil ich nach dem kleinen Vorteil gierig war, habe ich die große Pflicht versäumt.«