Märchen aus China

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4. Wer ist der Sünder?

Es waren einmal zehn Bauern, die gingen miteinander über Feld. Sie wurden von einem schweren Gewitter überrascht und flüchteten sich in einen halb zerfallenen Tempel. Der Donner aber kam immer näher, und es war ein Getöse, dass die Luft ringsum erzitterte. Kreisend fuhr ein Blitz fortwährend um den Tempel her. Die Bauern fürchteten sich sehr und dachten, es müsse wohl ein Sünder unter ihnen sein, den der Donner schlagen wolle. Um herauszubringen, wer es sei, machten sie aus ihre Strohhüte vor die Tür zu hängen; wessen Hut weg geweht werde, der solle sich dem Schicksal stellen.

Kaum waren die Hüte draußen, so ward auch einer weg geweht, und mitleidlos stießen die anderen den Unglücklichen vor die Tür. Als er aber den Tempel verlassen hatte, da hörte der Blitz zu kreisen auf und schlug krachend ein. Der eine, den sie verstoßen hatten, war der einzige Gerechte gewesen, um dessentwillen der Blitz das Haus verschonte. So mussten die neun ihre Hartherzigkeit mit dem Leben bezahlen.

5. Das Zauberfass

Es war einmal ein Mann, der grub auf seinem Acker ein großes, irdenes Faß aus. Er nahm es mit nach Hause und sagte zu seiner Frau, sie solle es rein machen. Wie nun die Frau mit der Bürste in das Faß fuhr, da war auf einmal das ganze Faß voll Bürsten. Soviel man auch herausnahm, es kamen immer neue nach. Der Mann verkaufte nun die Bürsten, und die Familie hatte ganz gut zu leben.

Einmal fiel aus Versehen ein Geldstück in das Faß. Sofort verschwanden die Bürsten, und das Faß füllte sich mit Geld. Nun wurde die Familie reich; denn sie konnten Geld aus dem Faß holen, soviel sie wollten.

Der Mann hatte einen alten Großvater im Haus, der war schwach und zittrig. Da er sonst nichts mehr tun konnte, stellte er ihn an, Geldstücke aus dem Faß zu schaufeln, und wenn der alte Großvater müde war und nicht mehr konnte, ward er böse und schrie ihn zornig an, er sei nur faul und wolle nicht. Eines Tages aber verließen den Alten die Kräfte. Er fiel in das Faß und starb. Schon war das Geld verschwunden, und das ganze Faß füllte sich mit toten Großvätern. Die musste der Mann nun alle herausziehen und begraben lassen, und dafür brauchte er das ganze Geld, das er bekommen hatte, wieder auf. Und als er fertig war, zerbrach das Faß, und er war wieder arm wie zuvor.

6. Das Glückskind und das Unglückskind

Es war einmal ein stolzer Fürst, der hatte eine Tochter. Die Tochter aber war ein Unglückskind. Als die Zeit herangekommen war, da sie heiraten sollte, da ließ sie alle Freier sich vor ihres Vaters Schloss versammeln. Sie wollte einen Ball von roter Seide unter sie werfen, und wer ihn fing, der sollte ihr Gatte werden. Da waren nun viele Fürsten und Grafen vor dem Schloss versammelt. Mitten unter ihnen stand aber auch ein Bettler. Und die Prinzessin sah, dass ihm Drachen zu den Ohren hinein krochen und zur Nase wieder herauskamen; denn er war ein Glückskind. Da warf sie den Ball dem Bettler zu, und er fing ihn auf.

Erzürnt fragte ihr Vater: »Warum hast du den Ball dem Bettler in die Hände geworfen?«

»Er ist ein Glückskind«, sagte die Prinzessin, »ich will ihn heiraten, vielleicht bekomme ich dann Teil an seinem Glück.«

Der Vater aber wollte das nicht leiden, und als sie standhaft blieb, da trieb er sie im Zorn aus dem Schlosse.

So musste die Prinzessin mit dem Bettler ziehen. Sie wohnte mit ihm in seiner kleinen Hütte und musste Kräuter und Wurzeln suchen und selber kochen, damit sie nur etwas zu essen hatten, und oftmals hungerten sie auch beide.

Eines Tages sprach der Mann zu ihr: »Ich will ausziehen und mein Glück versuchen. Wenn ich’s gefunden habe, will ich wiederkommen und dich holen.« Die Prinzessin sagte ja, und er ging weg. Achtzehn Jahre blieb er weg. Und die Prinzessin lebte in Not und Kümmernis; denn ihr Vater blieb hart und unerbittlich. Wenn ihre Mutter nicht im Stillen ihr Geld und Nahrung zugesteckt, so wäre sie wohl gar Hungers gestorben in der langen Zeit.

Der Bettler aber fand sein Glück und wurde schließlich Kaiser. Er kam zurück und trat vor seine Frau. Die aber kannte ihn nicht mehr. Sie wußte nur, dass er der mächtige Kaiser war.

Er fragte sie, wie es ihr gehe.

»Warum fragt Ihr mich, wie es mir geht?« erwiderte sie. »Ich bin doch viel zu gering für Euch.«

»Und wer ist denn dein Mann?«

»Mein Mann war Bettler. Er ging hinweg, sein Glück zu suchen. Nun sind es schon achtzehn Jahre, und er ist immer noch nicht zurück.«

»Was tust du denn in dieser langen Zeit?«

»Ich warte auf ihn, bis er wiederkommt.«

»Willst du nicht einen anderen zum Manne nehmen, da er so lange ausbleibt?«

»Nein, ich bleibe seine Frau bis in den Tod.«

Als der Kaiser die Treue seiner Frau sah, da gab er sich ihr zu erkennen, ließ sie in prächtige Gewänder kleiden und nahm sie mit sich in sein Kaiserschloß. Da lebten sie nun herrlich und in Freuden.

Nach einigen Tagen sprach der Kaiser zu seiner Frau: »Wir leben jeden Tag so festlich, als wenn Neujahr wäre.«

»Sollen wir nicht festlich leben«, sprach die Frau, »da wir doch Kaiser und Kaiserin sind?« —

Die Frau war aber doch ein Unglückskind. Als sie achtzehn Tage Kaiserin gewesen war, da ward sie krank und starb. Der Mann aber lebte noch lange Jahre.

7. Der neunköpfige Vogel

Vor langen Zeiten lebten einmal ein König und eine Königin, die hatten eine Tochter. Eines Tages ging die Tochter im Garten spazieren. Da erhob sich plötzlich ein sehr großer Sturm, der sie mit sich führte. Der Sturm kam aber vom neunköpfigen Vogel. Der raubte die Prinzessin und brachte sie in seine Höhle. Der König wußte nicht, wohin seine Tochter verschwunden war. So ließ er im ganzen Lande ausrufen: »Wer die Prinzessin wiederbringt, der soll sie zur Frau haben.«

Ein Jüngling hatte den Vogel gesehen, wie er die Königstochter in seine Höhle trug. Die Höhle war aber mitten an einer steilen Felswand. Man konnte von unten nicht hinauf und von oben nicht hinunter. Wie er nun um den Felsen herumging, da kam ein anderer, der fragte, was er da tue. Er erzählte ihm, dass der neunköpfige Vogel die Königstochter geraubt und in die Berghöhle hinaufgebracht habe. Der andere wußte Rat. Er rief seine Freunde herbei, und sie ließen den Jüngling in einem Korb zur Höhle hinunter. Wie er zur Höhle hineinging, da sah er die Königstochter dasitzen und dem neunköpfigen Vogel seine Wunde waschen; denn der Himmelhund hatte ihm den zehnten Kopf abgebissen, und die Wunde blutete immer noch. Die Prinzessin aber winkte dem Manne zu, er solle sich verstecken. Das tat er auch. Der Vogel fühlte sich so wohl, wie die Königstochter ihm die Wunde wusch und ihn verband, dass alle seine neun Köpfe einer nach dem anderen einschliefen. Da trat der Mann aus dem Versteck hervor und hieb ihm mit einem Schwert alle seine Köpfe ab. Dann führte er die Königstochter hinaus und wollte sie in dem Korb hinauf ziehen lassen. Die Königstochter aber sprach: »Es wäre besser, wenn du erst hinaufstiegst und ich nachher.«

»Nein«, sprach der Jüngling. »Ich will hier unten warten, bis du in Sicherheit bist.«

Die Königstochter wollte anfangs nicht; doch ließ sie endlich sich überreden und stieg in den Korb. Vorher aber nahm sie einen Haarpfeil, brach ihn in zwei Teile, gab ihm den einen und steckte die andere Hälfte zu sich. Auch teilte sie mit ihm ihr seidenes Tuch und sagte ihm, er solle beides wohl verwahren. Als aber jener andere Mann die Königstochter heraufgezogen hatte, da nahm er sie mit sich und ließ den Jüngling in der Höhle, wie er auch rief und bat.

Der Jüngling ging nun in der Höhle umher. Da sah er viele Jungfrauen, die hatte alle der neunköpfige Vogel geraubt, und sie waren hier Hungers gestorben. An der Wand hing ein Fisch, der war mit vier Nägeln angenagelt. Als er den Fisch berührte, verwandelte sich der in einen schönen Jüngling. Er dankte ihm für seine Rettung. Sie schlössen Brüderschaft fürs Leben. Allmählich bekam er grimmigen Hunger. Er trat vor die Höhle, um Nahrung zu suchen, aber da waren überall nur Steine. Da sah er plötzlich einen großen Drachen, der an einem Steine leckte. Das tat der Jüngling auch, und alsbald hatte er keinen Hunger mehr. Nun fragte er den Drachen, wie er von dieser Höhle fortkommen könne. Der Drache neigte seinen Kopf zum Schwanz und deutete ihm an, dass er sich darauf setzen solle. Er stieg nun auf den Schwanz des Drachen, und im Umsehen war er unten auf der Erde, und der Drache war verschwunden. Er ging nun weiter, da fand er eine Schildkrötenschale voll von schönen Perlen. Es waren aber Zauberperlen. Wenn man sie ins Feuer warf, so hörte das Feuer auf zu brennen; wenn man sie ins Wasser warf, tat sich das Wasser auf, und man konnte hindurchgehen. Er nahm die Perlen aus der Schildkrötenschale heraus und steckte sie zu sich. Nicht lange danach kam er an den Strand des Meeres. Er warf eine Perle hinein; da teilte sich das Meer, und er erblickte den Meerdrachen. Der rief: »Wer stört mich hier in meinem Reich?« Der Jüngling sprach: »Ich habe Perlen gefunden in einer Schildkrötenschale und habe sie ins Meer geworfen, da hat das Wasser sich mir aufgetan.«

»Wenn es so ist«, sagte der Drache, »so komm zu mir ins Meer, da wollen wir miteinander leben.« Da erkannte er, dass es derselbe Drache war, den er in jener Höhle gesehen. Auch der Jüngling war da, mit dem er Brüderschaft geschlossen. Es war des Drachen Sohn.

»Du hast meinen Sohn gerettet und mit ihm Brüderschaft geschlossen, so bin ich dein Vater«, sagte der alte Drache. Und er bewirtete ihn mit Wein und Speisen.

 

Eines Tages sprach sein Freund zu ihm: »Mein Vater wird dich sicher belohnen wollen. Nimm aber kein Geld, auch keine Edelsteine, sondern nur die kleine Kürbisflasche dort; mit der kann man herzaubern, was man will.«

Richtig fragte ihn der alte Drache, was er zum Lohne haben wolle, und er sprach zu ihm: »Ich will kein Geld und auch keine Edelsteine, ich will nur die kleine Kürbisflasche.«

Erst wollte der Drache sie nicht hergeben. Endlich gab er sie ihm doch. Dann ging er von dem Drachenschlosse weg.

Als er wieder aufs trockene Land kam, da wurde er hungrig. Alsbald stand ein Tisch mit vielem, schönem Essen da. Und er aß und trank. Er war eine Zeitlang weitergegangen, da wurde er müde. Schon stand ein Esel da, auf den setzte er sich. Er war eine Zeitlang geritten, da wurde der Esel ihm zu holprig; schon kam ein Wagen, da stieg er hinein. Der Wagen aber schüttelte zu sehr, und er dachte: »Wenn ich nur eine Sänfte hätte! Das ginge besser!« Schon kam eine Sänfte, und er setzte sich hinein. Die Träger trugen ihn bis zu der Stadt, wo der König, die Königin und ihre Tochter waren.

Als jener Mann die Königstochter zurückgebracht hatte, da sollte Hochzeit werden. Die Königstochter aber wollte nicht und sprach: »Das ist doch nicht der Rechte. Mein Retter wird kommen, er hat die Hälfte meines Haarpfeils und die Hälfte meines seidenen Tuches zum Zeichen.« Als der Jüngling aber so lange nicht kam und der andere den König drängte, da wurde der ungeduldig und sagte: »Morgen soll die Hochzeit sein!« Die Königstochter ging betrübt durch die Straßen der Stadt und suchte und suchte, ob sie ihren Retter nicht finde. An jenem Tage gerade kam die Sänfte an. Die Königstochter sah das halbe Tuch in der Hand des Jünglings. Voll Freuden nahm sie ihn mit zu ihrem Vater. Er musste den halben Haarpfeil zeigen, der passte genau zur anderen Hälfte. Da glaubte der König, dass es der Rechte sei. Der falsche Bräutigam wurde bestraft, und man feierte Hochzeit, und sie lebten vergnügt und glücklich bis an ihr Ende.

8. Die Höhle der Tiere

Es war einmal eine Familie, die hatte sieben Töchter. Eines Tages ging der Vater aus, Holz zu suchen; da fand er sieben Wildenteneier. Er brachte sie nach Hause und dachte nicht daran, sie seinen Kindern zu geben. Er wollte sie selber mit seiner Frau essen. Abends wachte die älteste Tochter auf und fragte, was die Mutter da koche. Die Mutter sagte: »Ich koche Wildenteneier. Ich gebe dir eins; aber du musst es nicht deinen Geschwistern verraten.« Und sie gab ihr eins. Da wachte die zweite Tochter auf und fragte die Mutter, was sie da koche. Sie sagte: »Wildenteneier. Wenn du es deinen Schwestern nicht verrätst, so will ich dir eins geben.« Und so ging es fort. Schließlich hatten die Töchter die Eier aufgegessen, und es waren keine mehr da.

Am Morgen war der Vater sehr böse auf die Kinder und sagte: »Wer geht mit zur Großmutter?« Er wollte aber die Kinder in die Berge führen und da von den Wölfen auffressen lassen. Die ältesten Töchter merkten es und sagten: »Wir gehen nicht mit.« Aber die zwei jüngsten sagten: »Wir gehen mit.« Sie fuhren mit dem Vater fort. Als sie lange gefahren waren, sagten sie: »Wann sind wir denn bei der Großmutter?« Der Vater sagte: »Gleich.« Und als sie ins Gebirge gekommen waren, sagte der Vater: »Wartet hier! Ich will voraus ins Dorf und es der Großmutter sagen, dass ihr kommt.« Da fuhr er mit dem Eselswagen weg. Und sie warteten und warteten, und der Vater kam nicht. Endlich dachten sie, dass der Vater sie nicht mehr holen würde und sie allein im Gebirge verlassen hätte. Und sie gingen immer tiefer ins Gebirge hinein und suchten ein Obdach für die Nacht. Da sahen sie einen großen Stein. Den suchten sie sich aus als Kopfkissen und rollten ihn an die Stelle, wo sie sich zum Schlafen hinlegen wollten. Da sahen sie, dass der Stein die Tür einer Höhle war. In der Höhle war ein Lichtschein, und sie gingen hinein. Das Licht kam von vielen Edelsteinen und Kleinodien aller Art. Die Höhle gehörte einem Wolf und einem Fuchs. Die hatten viele Töpfe mit Edelsteinen und Perlen, die bei Nacht leuchteten. Da sagten sie: »Das ist aber eine schöne Höhle; wir wollen uns gleich in die Betten legen.« Denn es standen zwei goldene Betten mit goldgestickten Decken da. Und sie legten sich hin und schliefen ein. Nachts kamen der Wolf und der Fuchs nach Hause. Und der Wolf sprach: »Ich rieche Menschen fleisch.« Der Fuchs sagte: »Ach was, Menschen! Hier können doch keine Menschen hereinkommen in unsere Höhle. Die ist doch so gut verschlossen.« Da sagte der Wolf: »Gut, dann wollen wir uns in unsere Betten legen und schlafen.« Der Fuchs sagte: »Wir wollen uns in die Kessel auf dem Herd legen. Da ist es noch ein bisschen warm vom Feuer.« Der eine Kessel war aus Gold, der andere aus Silber. Da legten sie sich hinein.

Als die Mädchen früh aufstanden, da sahen sie den Fuchs und den Wolf liegen und bekamen große Angst. Und sie deckten die Kessel zu und taten viele große Steine drauf, so dass der Wolf und der Fuchs nicht mehr heraus konnten. Dann machten sie Feuer. Der Wolf und der Fuchs sagten: »0, wie schön warm wird es am Morgen! Wie kommt das bloß?« Endlich wurde es ihnen zu heiß. Sie merkten, dass die zwei Mädchen Feuer gemacht hatten, und sie riefen: »Lasst uns heraus! Wir wollen euch viele Edelsteine und viel Gold geben und wollen euch nichts tun.« Die Mädchen aber hörten nicht auf sie und machten das Feuer nur immer größer. Da starben der Wolf und der Fuchs in den Kesseln.

So lebten die Mädchen viele Tage glücklich in der Höhle. Den Vater aber ergriff wieder Sehnsucht nach seinen Töchtern, und er ging ins Gebirge, sie zu suchen. Er setzte sich gerade auf den Stein vor der Höhle, um auszuruhen, und klopfte die Asche aus seiner Pfeife. Da riefen die Mädchen von innen: ,,Wer klopft an unsere Tür?« Da sagte der Vater: »Ist das nicht die Stimme meiner Töchter?« Die Töchter riefen: »Ist das nicht die Stimme unseres Vaters?« Da machten sie den Stein auf und sahen, dass es ihr Vater war, und der Vater freute sich, dass er sie wieder sah. Und er wunderte sich, wie sie in diese Höhle voll Perlen und Edelsteinen gekommen seien. Und sie erzählten ihm alles. Da holte der Vater Leute herbei, die sollten ihm die Edelsteine nach Hause tragen helfen. Und als sie zu Hause ankamen, verwunderte sich die Frau, wo sie denn alle diese Schätze her hätten. Da erzählten der Vater und die Töchter alles, und sie wurden eine sehr reiche Familie und lebten glücklich bis an ihr Ende.

9. Der Panther

Es war einmal eine Witwe, die hatte zwei Töchter und einen kleinen Sohn. Eines Tages sagte die Mutter zu den Töchtern: »Verwahrt mir das Haus gut! Ich will zur Großmutter gehen mit eurem kleinen Bruder.«

Die Töchter versprachen es. Dann ging die Mutter weg. Unterwegs begegnete ihr ein Panther und fragte, wohin sie gehe.

Sie sprach: »Ich will mit meinem Kind zu meiner Mutter gehen.«

»Willst du nicht ein bisschen ausruhen?« fragte der Panther.

»Nein«, sprach sie, »es ist schon spät, und der Weg ist weit zu meiner Mutter.«

Aber der Panther ließ nicht ab, ihr zuzureden, und schließlich gab sie nach und setzte sich am Rand des Weges nieder. »Ich will dir deine Haare ein bisschen kämmen«, sprach der Panther.

So ließ sich die Frau vom Panther die Haare kämmen. Wie er ihr aber mit seinen Krallen durch die Haare fuhr, da riss er ihr ein Stück Haut ab und fraß es.

»Halt!« schrie die Frau. »Das tut weh, wie du mich kämmst!«

Aber der Panther riss ihr ein noch viel größeres Stück Haut ab. Nun wollte die Frau um Hilfe rufen. Da packte sie der Panther und fraß sie auf. Dann wandte er sich zu ihrem Söhnchen und biss es auch tot. Er zog die Kleider der Frau an und tat die Knochen des Kindes, die er noch nicht gefressen hatte, in ihren Korb.

So ging er nach dem Haus der Frau, wo die beiden Töchter waren, und rief zur Tür hinein: »Macht auf, ihr Töchter! Eure Mutter ist gekommen.«

Sie aber sahen zu einer Spalte heraus und sprachen: »Unsere Mutter hat keine so großen Augen.«

Da sagte der Panther: »Ich war bei der Großmutter und habe gesehen, wie ihre Hühner Eier legen; das hat mich gefreut, und deshalb habe ich so große Augen bekommen.«

»Unsere Mutter hat keine solchen Flecken im Gesicht.«

»Die Großmutter hatte kein Bett, und da musste ich auf Erbsen schlafen; die haben sich mir ins Gesicht gedrückt.

»Unsere Mutter hat nicht so große Füße.«

»Dummes Gesindel! das kommt vom langen Laufen. Macht jetzt rasch auf!«

Da sagten die Töchter zueinander: »Es muss wohl unsere Mutter sein« und machten auf. Als aber der Panther hereinkam, da sahen sie, dass es doch nicht ihre rechte Mutter war.

Abends, als die Töchter schon im Bett waren, da nagte der Panther noch an den Knochen des kleinen Jungen, die er mitgebracht.

Da fragten die Töchter: »Mutter, was isst du da?«

»Ich esse Rüben«, war die Antwort.

Da sagten die Töchter: »Mutter, gib uns auch von deinen Rüben! Wir haben solchen Hunger.«

»Nein«, war die Antwort, »ich gebe euch keine. Seid ruhig und schlaft!«

Die Töchter aber baten so lange, bis die falsche Mutter ihnen einen kleinen Finger gab. Da sahen die Mädchen, dass es der Finger von ihrem Brüderchen war, und sie sagten zueinander: »Wir wollen eilig fliehen, sonst frisst sie uns auch noch.«

Damit liefen sie zur Tür hinaus, kletterten auf einen Baum im Hof und riefen der falschen Mutter zu: »Komm heraus! Wir können sehen, wie der Nachbarsohn Hochzeit macht.« Es war aber mitten in der Nacht.

Da kam die Mutter heraus, und wie sie sah, dass sie auf dem Baum saßen, da rief sie ärgerlich: »Ich kann ja doch nicht klettern.«

Da sagten sie: »Setz’ dich in einen Korb und wirf uns das Seil zu, so wollen wir dich heraufziehen!«

Die Mutter tat, wie sie gesagt. Als aber der Korb in halber Höhe war, da schwangen sie ihn hin und her und stießen ihn gegen den Baum. Da musste sich die falsche Mutter wieder in einen Panther verwandeln, damit sie nicht herunterfiel. Der Panther sprang aus dem Korbe und lief weg.

Allmählich wurde es Tag. Die Töchter stiegen herab, setzten sich vor ihre Tür und weinten um ihre Mutter. Da kam ein Nadelverkäufer vorüber, der fragte, warum sie weinten.

»Ein Panther hat unsere Mutter und unseren Bruder gefressen«, sagten die Mädchen. »Jetzt ist er weg, aber er kommt sicher wieder und frisst uns auch.«

Da gab der Nadelverkäufer ihnen ein paar Nadeln und sagte: »Steckt sie in das Kissen auf dem Stuhl mit der Spitze nach oben.« Die Mädchen bedankten sich und weinten weiter.

Dann kam ein Skorpionfänger vorüber; der fragte sie, warum sie weinten.

»Ein Panther hat unsere Mutter und unseren Bruder gefressen«, sagten die Mädchen. »Jetzt ist er weg, aber er kommt sicher wieder und frisst uns auch.«

Da gab er ihnen einen Skorpion und sagte: »Setzt den hinter den Herd in der Küche!« Die Mädchen bedankten sich und weinten weiter.

Da kam ein Eierverkäufer vorüber, der fragte, warum sie weinten.

»Ein Panther hat unsere Mutter und unseren Bruder gefressen«, sagten die Mädchen. »Jetzt ist er fort, aber er kommt sicher wieder und frisst uns auch.«

Da gab er ihnen ein Ei und sprach: »Legt das in die Asche unter den Herd.« Die Mädchen bedankten sich und weinten weiter.

Da kam ein Schildkrötenhändler vorüber, und sie erzählten ihre Geschichte. Da gab er ihnen eine Schildkröte und sagte: »Setzt sie in das Wasserfaß im Hof.« Da kam ein Mann vorüber, der hölzerne Keulen verkaufte. Er fragte sie, warum sie weinten. Und sie erzählten ihm die ganze Geschichte. Da gab er ihnen zwei hölzerne Keulen und sagte: »Die hängt auf über dem Tor an der Straße!« Die Mädchen bedankten sich und taten, wie die Männer gesagt.

Als es Abend wurde, kam der Panther nach Hause. Er setzte sich auf den Stuhl im Zimmer. Da stachen ihn die Nadeln im Kissen. Dann lief er in die Küche, wollte Feuer machen und sehen, was ihn so gestochen; da schlug ihm der Skorpion seinen Stachel in die Hand. Und als das Feuer schließlich brannte, da platzte das Ei und sprang ihm ins Auge, und er ward auf einem Auge blind. Da lief er in den Hof und tauchte seine Hand ins Wasserfaß, um sie zu kühlen. Da biss ihm die Schildkröte die Hand ab. Vor Schmerz rannte er zum Tor hinaus auf die Straße, da fielen ihm die hölzernen Knüppel auf den Kopf und schlugen ihn tot.