Chinesische Lebensweisheit

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Chinesische Lebensweisheit
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Richard Wilhelm

CHINESISCHE

LEBENSWEISHEIT

Impressum

„Chinesische Lebensweisheit“ von Richard Wilhelm

Erstveröffentlichung: 1922

Cover, Überarbeitung: F. Schwab Verlag

Neuauflage: F. Schwab Verlag – www.fsverlag.de sagt Danke!

Copyright © 2018 by F. Schwab Verlag

Inhalt

IMPRESSUM

VOM SINN DES LEBENS

ERZIEHUNG ZUM GEMEINSCHAFTSLEBEN

KUNGFUTSE

CHINESISCHE SCHICKSALSBEHERRSCHUNG

DAS BUCH DER WANDLUNGEN

DER AUTOR: RICHARD WILHELM

DANKE

ANMERKUNGEN

VOM SINN DES LEBENS

Die Besinnung über das Leben, die über die Stammes- und Volkstradition in Religion und Sitte hinaus sich vorurteilslos mit den Tatsachen des Lebens beschäftigt, pflegt immer in Zeiten zu entstehen, da aus irgendwelchen Gründen neue Gedanken in den Gesichtskreis der Menschen eintreten, da das, was bisher als selbstverständlich hingenommen wurde, durch schwere gesellschaftliche und nationale Erschütterungen ins Wanken kommt. So entstand in Israel der Prophetismus in dem Moment, als der kleine Nationalstaat Israel hineingerissen wurde in den Wirbel der Weltmachtkämpfe um die Vorherrschaft im westlichen Asien. So entstand die griechische Philosophie in Kleinasien in dem Zeitpunkt, da von Asien her neue Mächte und neue Gedanken immer stärker an die Ufer des griechischen Geistes brandeten. Und ganz ähnliche Erschütterungen waren es, die zur Entstehung der chinesischen Lebensweisheit geführt haben. Gewiß spielen die inneren Anlagen der Menschen dabei eine Rolle. So ist es kein Wunder, daß der israelitische Prophetismus eine religiöse Erscheinung wurde, während der vorzugsweise auf Anschauung gerichtete griechische Geist mit den Anfängen der Philosophie zugleich der Wissenschaft von der Natur sich zugewandt hat und der chinesische Geist die Lebensweisheit als ein Feld zu bearbeiten begann.

Von einer eigentlichen Philosophie in China kann man reden seit Lautse und Kungfutse. Von Kungfutse können wir Geburts- und Todesjahr genau angeben. Er lebte von 551-479 vor unserer Zeitrechnung. Lautse mag etwa zwanzig Jahre älter gewesen sein. Die Verhältnisse nun, die in China dazu führten, daß diese Männer daran gingen, über das Leben nachzudenken und Ergebnisse der Lebensweisheit zu suchen, waren sehr schwerer Art. Kungfutse hat ein Werk verfaßt, das er Frühling und Herbst nannte, in dem vom Aufgang und Niedergang von Staaten die Rede war. Die Zeit, die dieses Werk umfaßt, reicht ungefähr dreihundert Jahre weit in die Vergangenheit zurück. Außerdem haben wir in der Liedersammlung des Kungfutse Material, das mindestens ebenso alt, zum Teil noch älter ist. Aus diesen Quellen und verschiedenen andern eröffnet sich uns ein Einblick in die Verhältnisse jener Zeiten, der wahrhaft erschütternd ist. Diese dreihundert Jahre sind im wesentlichen in China eine dreihundertjährige Kriegszeit gewesen. Einerseits beunruhigten von Norden her die hunnisch-mongolischen Stämme das Reich, auf der andern Seite erhoben sich im Süden die beiden Fremdstaaten Tschu und Wu – am Yangtse und südlich davon – zu immer größerer Macht. Im Zentralgebiet, dem eigentlichen China, verging in jenen drei Jahrhunderten kein Jahr ohne Kampf. Das alte China war ursprünglich aus einer sehr großen Anzahl von Lehnstaaten unter einer zentralen Königsgewalt zusammengesetzt gewesen. Aber während die Zentralgewalt immer mehr zu einem bloßen Schattendasein herabsank, vergrößerten sich immer mehr die mächtigeren Lehnsstaaten auf Kosten ihrer schwächeren Nachbarn, so daß die Zahl der selbständigen Staaten immer mehr zusammenschrumpfte und auf der andern Seite die mächtigeren Landesfürsten immer mehr die volle Souveränität an sich rissen. Statt des Königs übernahmen der Reihe nach fünf solche Landesfürsten die Hegemonie im Reich, während der König ein willenloses Spielzeug in der Hand des jeweils mächtigsten unter ihnen war. Wieviel in jenen Jahrhunderten Staaten vernichtet, Herrscherhäuser ausgerottet, Menschen getötet wurden, wieviel Blut geflossen und Eigentum zerstört worden ist, weiß niemand zu sagen. Unsägliches Leid lag auf der Bevölkerung, die natürlich immer letzten Endes die Zeche zu bezahlen hatte. Eine Umschichtung der Gesellschaftsklassen ging damit Hand in Hand. Vornehme wurden gestürzt, Niedrige kamen empor. Die festgeordneten Rangstufen des Altertums verloren ihre Bedeutung. An Stelle der alten Rangstufen trat ein neuer tiefgreifender Unterschied. Die Gegensätze von Arm und Reich machten sich immer schärfer fühlbar. Ansätze zum Kapitalismus mit regelrechter Ausnutzung der sozial schwächeren Kreise zeigen sich ganz deutlich. Die Regierung der einzelnen Staaten war mit wenigen Ausnahmen willkürlich und tyrannisch.

Selbstverständlich wurden durch solche Zustände auch innerliche Reaktionen hervorgerufen. Die alte Natur- und Ahnenreligion mit ihren festen Formen war ein Rahmen gewesen, innerhalb dessen sich in ruhigen Zeiten gar wohl das Leben eines Bauernvolkes unter patriarchalischen Einrichtungen bewegen konnte. Allein die Not der Zeit brachte neue Fragen und Aufgaben mit sich, auf die man sich in neuer Weise einstellen mußte. So finden sich denn auch im Liederbuch gar manche Ansätze einer inneren Durcharbeitung der Fragen, die so drohend und unausweichlich am Himmel standen. Natürlich sind die Stimmungen verschieden nicht nur nach den Verhältnissen, sondern auch nach der Gemütsart der verschiedenen Volksschichten, denen die Dichter angehörten. Wir finden eine Richtung, die sich einfach der Klage hingibt. Man liebt das Vaterland, man möchte das Beste, aber die Not der Zeit ist zu übermächtig. Teuerung und Hungersnot kommen nach dazu. Ach, daß doch Gott vom Himmel dreinsehen wollte! Aber wo ist er? Hört er überhaupt auf Menschenflehen, da droben der weite, mitleidlose, blaue Himmel? So kommen mit der Klage Zweifel hervor: keine Lästerungen, keine radikale Gottesleugnung, aber die Anschauung, daß eben auch der Himmel seine Schwächen und Fehler hat – ein anderes Mal hilft er ja wieder, und in der Regel zeigt er sich gut und mild –, so daß es eben überhaupt nichts Vollkommenes gibt. Eine andere Richtung ging über diese sanfte Trauer hinaus. Sie wandte sich dem prinzipiellen Pessimismus zu. Es ist alles hoffnungslos schlecht, was ist. Viel besser nie geboren als solches Elend durchmachen müssen. Hier finden wir auch die Vorbilder der stolztrotzigen Einsiedler, die entschlossen der Welt den Rücken kehren und untertauchen in den Fluten der Anonymität. Man findet sie als Bauern, als Sklaven, als Knechte, in Wäldern, am Meeresstrand. Sie sind sarkastisch. Sie wissen, es hilft alles nichts, darum geben sie sich keine vergebliche Mühe. Manche unter ihnen kannten auch wohl eine geheimnisvolle Innenwelt, in die man Eingang findet durch mystische Schau, indem man Verzicht leistet auf alles äußere Handeln und Machen. Kungfutse hat unter solchen „verborgenen Heiligen“ gar viel zu leiden gehabt, die mit unbarmherziger Kritik sein Bestreben geißelten. Lautse stand ihnen nahe.

Eine weitere Richtung war die Gesinnung frommer Ergebung ins Schicksal. Wenn es schlecht ging, so war das Fügung des Himmels, des Übermächtigen, gegen den kein Menschentrotz half. Was will der kleine, machtlose Mensch in solchem Falle machen? Nichts bleibt ihm übrig als sich zu fügen und ruhig zu sein, ob etwa der Sturmwind wieder vorüberginge und auf Regen bald wieder Sonnenschein folgen möchte.

Andere wieder wandten sich mehr einer unmittelbar praktischen Lebensweisheit zu. Sie hatten weltverachtende Grundsätze und sahen, daß man nichts machen könne, um die Welt zu verbessern. Warum also sollte man an solche fruchtlosen Gedanken seine besten Kräfte setzen? Noch hatte man ja die Genußfähigkeit. Noch hatte man den Wein, den Sorgenlöser, und noch konnte man singen und so seinem Herzen Luft machen. Wozu also den grauen Ernst? Iß und trink und sei guter Dinge. Ganz wie es im Prediger Salomonis heißt: „So gehe hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut. Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupt Salbe nicht mangeln. Brauche das Leben mit deinem Weibe, das du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat ... Alles was dir von Händen kommt, zu tun, das tue frisch; denn bei den Toten, dahin du fährst, ist weder Wort, Kunst, Vernunft noch Weisheit.“

Es gab aber endlich auch Leute, die gegenüber den finstern Zeitverhältnissen und einer verrotteten Gesellschaft nicht gewillt waren, gesenkten Hauptes sich in all das Unrecht freiwillig zu fügen, sondern ihrer Unzufriedenheit im Liede Luft machten. Und manchmal auch kam es vor, daß, wenn solche Stimmungen sich erst in der Tiefe angehäuft, gelegentlich ein Ausbruch kam, der oft ganz unerwartet einem Tyrannen und Volksbedrücker das Leben kostete.

Aus dieser Not der Zeit heraus ist nun die chinesische Lebensweisheit geboren worden. Am königlichen Hofe lebte ein Mann. Er ist bekannt unter dem Namen Lautse („alter Meister“). Man wußte wenig von ihm, er war beschäftigt an der königlichen Bibliothek. Und unter der Beschäftigung mit den vielen Bambustafeln, auf denen die Reste der Literatur des Altertums verzeichnet waren, ist ihm die große Erleuchtung gekommen. Er fand nicht seine Befriedigung im Lesen und Lernen, im Nachdenken, was andere zuvor gedacht. Er hatte aber auch keine Lust zu wirken und sich einen Namen zu machen. Wohl überschaute er mit souveränem Blick die Reiche der Welt. Er sah, woran es ihnen fehlte, und sah auch wohl die Mittel, wie zu helfen wäre. Aber er wußte auch, daß seine Ratschläge unzeitgemäß waren und daß nicht damit zu rechnen war, daß so bald ein Fürst sich finden werde, der seinen Paradoxien Gehör schenken würde. So verzeichnete er denn seine Gedanken – oft in Form von Knittelversen, wie sie im Altertum zur Unterstützung des Gedächtnisses üblich waren – auf, ganz zwanglose Aphorismen, wie sie das Erlebnis brachte. Auch hier war er nicht auf Stil und Feinheit des Ausdrucks bedacht. Höchstens, daß es ihm Spaß machte, alles möglichst scharf und prägnant auszudrücken und alle vorsichtigen Wenn und Aber beiseite zu lassen. Auf Wirkung verzichtete er. Eigentlich ist es fast eine Inkonsequenz von ihm gewesen, daß er diese Selbstgespräche überhaupt aufgezeichnet hat. Die Sage empfand das auch und berichtet von einem Anlaß für diese Aufzeichnungen. Als er nämlich die Welt verließ und durch den Hangu-Paß nach Westen auf Nimmerwiedersehen verschwand, da habe ihn der Torwächter gebeten, ihm seine Weisheitssprüche aufzuschreiben. So habe er ihm als Gastgeschenk das Büchlein dagelassen, das heute unter dem Namen Taoteking bekannt ist. Das geheimnisvolle Verschwinden des Alten ist aber nur Sage. Noch Dschuangdsї wußte von dem Ende des Lautse zu erzählen, und in dieser Geschichte wird auch ein rührender Zug erwähnt. Als er nämlich gestorben war, da hätten alle Anwesenden, alt und jung, untröstlich geweint. Daraus wird ihm ein Vorwurf gemacht. Er müsse Worte gesprochen haben, die er nicht hätte sprechen sollen, und Dinge getan haben, die er nicht hätte tun dürfen. Sonst hätte er nicht diese menschliche Anhänglichkeit und Trauer über seinen Tod bewirken können. So sehen wir hinter dem radikalen Eifer gegen die Mißstände der Zeit ein gütiges, menschlich fühlendes Herz.

 

Seine politische Lebensweisheit war radikal genug, und manches davon behält seine Gültigkeit, auch nachdem die Zeiten, für die es geschrieben, längst vorüber sind. Man vergleiche Sätze wie den: „Das Volk hungert; das kommt daher, daß seine Oberen zu viel Steuern fressen: darum hungert es. Das Volk ist schwer zu lenken; das kommt daher, daß seine Oberen immer etwas machen wollen: darum ist es schwer zu lenken. Das Volk nimmt den Tod zu leicht; das kommt daher, daß man des Lebens Fülle zu reichlich sucht: darum nimmt es den Tod zu leicht.“

„Je mehr man die Religion pflegt, desto ärmer wird das Volk. Je mehr das Volk Mittel zum Gewinn hat, desto unklarer wird der Staat. Je mehr die Menschen Künste üben, desto mehr entstehen fremdartige Dinge. Je mehr Gesetze und Verordnungen sich breit machen, desto mehr gibt es Diebe und Räuber.“

„Des Himmels Sinn ist es, zu nehmen von dem, was zu viel hat, und damit zu helfen dem, was zu wenig hat. Der Menschen Sinn ist nicht also: sie nehmen von denen, die zu wenig haben, um zu bereichern die, so zu viel haben.“

„Wo Heere weilen, wachsen Dornen.

Auf große Feldzüge folgen Hungerjahre.“

„Tut die Heiligkeit ab und verwerft die Weisheit:

Das ist dem Volk hundertfacher Gewinn.

Tut die Menschenliebe ab und verwerft die Pflicht:

Dann kehrt das Volk zurück zu Ehrfurcht und Gefühl.

Tut die Technik ab und verwerft den Gewinn:

Dann gibt es keine Diebe und Räuber mehr.“

Ein sehr guter Ratschlag für die Staatsregierung ist auch folgender:

„Ein großes Reich muß man lenken, wie man kleine Fischlein brät.“

Hierzu bemerkt ein chinesischer Kommentar sehr treffend: Wenn man kleine Fischlein brät, so nimmt man sie nicht aus, schuppt sie nicht ab und wagt sie nicht zu schütteln, damit sie nicht in Stücke gehen.

So gibt er den Regierenden den guten Rat, möglichst wenig zu regieren, dann werde sich schon alles von selber machen:

„Wenn wir nichts machen,

So wandelt sich von selbst das Volk.

Wenn wir die Stille lieben,

So wird das Volk von selber recht.

Wenn wir nichts unternehmen,

So wird das Volk von selber reich.

Wenn wir keine Begierden haben,

So wird das Volk von selber einfältig.

Wessen Regierung demütig und sanft ist,

Dessen Volk ist harmlos und einfach.

Wessen Regierung stramm und genau ist,

Dessen Volk ist hinterlistig und versagt.“

Bezeichnend ist auch die Wertschätzung der Herrscher und ihre Stufenfolge:

„Herrscht ein ganz Großer,

So weiß man unten kaum, daß er da ist.

Die nächste Stufe

Wird geliebt und gelobt.

Die nächste Stufe

Wird gefürchtet:

Die nächste Stufe

Wird verlacht.“

Aber diese Regierungsgrundsätze allein würden die Bedeutung des Lautse noch nicht erklären. Er ging tiefer und grub nach dem Sinn des Lebens. Man spricht gewöhnlich von zwei Grundideen, die in seinem Werkchen behandelt werden: Tao und Te. Die beiden Worte sind nicht leicht zu übersetzen, und es scheint zudem ein gewisser Ehrgeiz unter den Übersetzern zu bestehen, ja nicht den Spuren eines Vorgängers zu folgen, was um so nötiger ist, da die überwiegende Mehrzahl dieser Übersetzungen nicht aus dem Chinesischen stammt, sondern nur Umdichtungen englischer oder – deutscher Übersetzungen sind. Tao heißt in seiner ursprünglichen Bedeutung: Weg, Lauf. Daraus ergibt sich, auf das kosmische Geschehen übertragen, die Bedeutung der gesetzmäßigen Richtung des Geschehens. Diese Richtung des Geschehens wird aufgefaßt als eine sinnvolle. So kommt die Bedeutung der des griechischen λóγοϛ nahe. Außerdem kann das Wort verbale Bedeutung haben und bedeutet dann „führen“, „leiten“, „reden“. Im Anschluß an die Bibelübersetzungsszene in Faust habe ich daher die Übersetzung „Sinn“ vorgeschlagen, da die Bedeutung des Wortes „Sinn“ auch die Richtung enthält (man spricht z. B. von „rechtssinniger“ oder „linkssinniger“ Bewegung). Um anzudeuten, daß diese Übersetzung wie alle anderen eine Notauskunft ist, habe ich das Wort „SINN“ mit großen Buchstaben geschrieben. Die Eigenschaft, Notauskunft zu sein, teilt das deutsche Wort übrigens mit seinem chinesischen Urbild, von dem Lautse selbst sagt, daß eine adäquate Bezeichnung der von ihm erschauten Tatsache nicht möglich sei und daß er es nur „zur Not“ mit „Tao“ wiedergebe.

Das andere Wort Te spielt in Lautses Buch eine weit geringere Rolle. Die chinesische Definition lautet: „Was die Wesen bekommen müssen, um entstehen zu können, heißt ,Te‘.“ Ich habe das Wort daher mit „Leben“ übersetzt, was sich auch dadurch rechtfertigt, daß es überall in den Zusammenhang paßt. Die traditionelle Übersetzung mit dem an sich wundervollen Wort „Tugend“, das aber durch die lateinischen Stilübungen der Knabenschule gänzlich zu Tode gehetzt ist – es kann nur vom Dichter jeweils an seinem Platz zum Leben erweckt werden –, verbietet sich schon darum, weil das chinesische Wort Te moralisch gänzlich indifferent ist. Es kann ebensowohl minderwertiges, ja schlechtes Te geben, wie gutes.

In Lautses Gedanken ist das „Leben“ einfach der im Einzelwesen sich auswirkende SINN. Je weniger das Leben sich selber sucht, desto höher ist es, und desto reiner ist die Offenbarung des SINNES in ihm. „Das höchste Leben sucht nicht sein Leben, darum hat es Leben.“

Was ist nun aber der „SINN“?

Die alte chinesische Volksanschauung war von der Überzeugung ausgegangen, daß Himmel und Erde, das Unsichtbare und das Sichtbare, bewußte Wesen seien: der Vater und die Mutter alles Bestehenden. Dabei hatte der Himmel als Herr noch eine besonders bevorzugte Stellung. Der Himmel gebietet z. B. im Buch der Lieder dem König Wen etwas. Er spricht zu ihm:

„Der Himmel schaut herab auf die Menschen hier unten.“

Er ist gnädig oder zornig.

„Ehret den Zorn des Himmels!

Wagt nicht zu spotten und lachen!

Ehret die Gnade des Himmels!

Wagt nicht zu rennen und laufen!“

Er schickt Freude und Leid den Menschen zu.

„Der Himmel schickt Trauer und Wirren,

Hungersnot und dürre Zeit.“

Hier setzt nun Lautse mit seiner Kritik ein. Das Naturgeschehen ist für ihn nichts Bewußt-Absichtliches. Es vollzieht sich spontan, ohne Rücksicht auf Menschenwohl und Menschenwürde. Unfühlend ist die Natur.

„Nicht Liebe nach Menschenart kennt Himmel und Erde.

Ihnen sind alle Wesen nur Heuhunde.“

Bei Dschuangdsї haben wir eine Erklärung der seltsamen zweiten Zeile. Bei Opfern nämlich wurden Figuren aus Heu geformt und aufgestellt. Solange sie beim Opfer ihre Dienste taten, wurden sie geschmückt und geehrt, war ihre Arbeit getan, so konnten sie gehen, sie wurden weggeworfen und lagen auf der Straße umher und wurden von den Vorübergehenden zertreten. So ist für Lautse in der Natur der Einzelne nichts, alle Bedeutung gewinnt er nur durch die Rolle, die er in ihr zu spielen hat. Ist seine Zeit gekommen, so pulsiert der große Lebensstrom in ihm. Herrlich blüht er auf, verklärt von den Kräften der Welt. Ist seine Zeit vorbei, verschwindet er und wird unbeachtet vernichtet von den auflösenden Kräften des Todes.

Wenn aber so für Lautse jeder Anthropomorphismus in der Natur rettungslos dahinfällt, so ist er darum nun doch nicht hoffnungslos atheistisch. Durch Innenschau hat er etwas entdeckt, etwas Unsagbares, Unräumliches, ein Nichts. Und auf diesem Nichts beruht die ganze massive Wirklichkeit. Dieses „Nichts“ ist noch jenseits von Himmel und Erde. Es ist ewig und schlechthin wirkend. Weil es nichts Einzelnes ist, ist es unbehindert von allem Einzelnen. Über, dieses „Nichts“ sagt Lautse folgendes:

„Es gibt etwas, das ist unterschiedslos vollendet,

Es geht der Entstehung von Himmel und Erde voran.

Wie still! Wie leer!

Selbständig und unverändert,

Im Kreise wandelnd ungehindert.

Man kann es für die Mutter der Welt halten.

Ich weiß nicht seinen Namen.

Ich bezeichne es als SINN,

Notdürftig nenn ich es: das Große.“

„Wie ist der Große SINN allüberflutend!

Er kann zur Linken sein und auch zur Rechten!

Alle Wesen halten sich an ihn, um zu leben,

Und er versagt sich ihnen nicht.

Ist ein Werk fertig, so nennt er's nicht sein.

Er kleidet und nährt alle Wesen und spielt nicht ihren Herrn.

Wie aber betätigt sich nun dieser unsichtbare SINN in der sichtbaren Wirklichkeit? Wenn Lautse den SINN als „Nichts“ bezeichnet, so ist dadurch selbstverständlich nur sein Gegensatz zur Welt der Wirklichkeit zum Ausdrucke gebracht. Er bezeichnet sozusagen eine Wirklichkeit höherer Ordnung, die jenseits von der massiven Außenwelt ist, die aber nicht räumlich getrennt von ihr ist. Man kann das Verhältnis von SINN und Wirklichkeit auch nicht unter der Kategorie von Ursache und Wirkung erfassen – denn die setzt selber schon die Wirklichkeit voraus. Ein sehr hübsches Gleichnis von diesem „Nichts“ gibt Lautse in folgendem Abschnitt:

Dreißig Speichen umgeben eine Nabe:

Auf dem Nichts daran beruht des Wagens Wirkung1.

Man macht Schüsseln und Töpfe zu Gefäßen:

Auf dem Nichts darin beruht des Gefäßes Wirkung.

Man höhlt Türen und Fenster aus an Zimmern,

Auf dem Nichts darin beruht des Zimmers Wirkung.

Darum: das Etwas schafft Wirklichkeit,

Das Nichts schafft Wirkung.

Das „Nichts“, um das sich das Rad dreht, das „Nichts“, das die Gefäße zu ihrem Zweck erst tauglich macht, das „Nichts“ der Fenster, Türen und des Zimmers, das den Raum erst bewohnbar macht, ist nicht die Ursache, d. h. die kausale Ursache des umgebenden Etwas, und doch wird das Wirkliche, das Reale erst zur Wirkung gebracht durch diese Leere, diesen Abstand.

Wenn man nun aber auch nicht sagen kann, daß der SINN die Dinge verursacht, so ist er doch der teleologische Grund der Dinge. Hier kommen wir nun auf eine sehr merkwürdige Intuition des Lautse: nämlich obwohl der SINN jenseits der körperlichen Wirklichkeit und damit auch jenseits von Einheit und Vielheit ist, so ist in ihm doch eine innere Mannigfaltigkeit angelegt, die natürlich den Sinnen unzugänglich ist:

„Man schaut nach ihm und sieht es nicht,

das heißt mit Namen das Luftige.

Man horcht nach ihm und hört es nicht,

das heißt mit Namen: das Dünne.

 

Man greift nach ihm und faßt es nicht,

das heißt mit Namen: das Unkörperliche.

Diese drei lassen sich nicht auseinanderhalten,

So sind sie durcheinander und bilden eins.

Sein Oben ist nicht heller,

Sein Unten ist nicht dunkler,

Ununterbrochen zieht es sich hin,

So daß man es nicht benennen kann.

Er kehrt wieder zurück ins Nichtdingliche:

Das heißt die gestaltlose Gestalt,

Das dinglose Bild,

Das heißt das Neblig-Verschwommene.

Ihm entgegentretend sieht man nicht sein Antlitz,

ihm folgend sieht man nicht seinen Rücken.

Es handelt sich also um eine Konzeption, die auf der Grenze der Welt der Erscheinungen liegt. Sie ist jenseits der Erscheinungen, die die sinnlich-wirkliche Welt konstituieren, sie ist unsichtbar, unhörbar, untastbar. Aber die Qualitäten der sinnlichen Wahrnehmbarkeit sind keimartig doch schon in ihr angelegt, obwohl alles Räumliche: oben und unten, vorn und hinten, rechts und links in der Ununterschiedenheit aufgehoben ist. Diese Keime nun deuten auf etwas, das erstens irgendwie der Sichtbarkeit entspricht, etwas Bildartiges – man ist hier unwillkürlich versucht, an die platonischen Ideen zu denken –, zweitens irgendwie der Hörbarkeit entspricht, etwas Wortartiges – man könnte hierbei an den λóγοϛ denken –, drittens irgendwie der Ausgedehntheit entspricht, etwas Gestaltartiges. Aber dieses Dreifache ist nicht deutlich geschieden und definierbar, sondern ist eine unräumliche (kein Oben und Unten) und unzeitliche Einheit (kein Vorn und Hinten). Um zu verstehen, wie das gemeint sein kann, muß man sich daran erinnern, daß z. B. Mozart erzählt, daß manche Musikstücke ihm einheitlich und gleichzeitig vor dem inneren Sinn gestanden haben – eine künstlerische Intuition, die auch sonst ihre Parallelen hat. Daher kann man es nicht benennen, es ist gestaltlose Gestalt und dingloses Bild.

Immerhin handelt es sich nach der Auffassung des Lautse um eine innere Stufenfolge, um eine Annäherung an das Wirkliche: vom Bild durch den Namen zur Gestalt. So heißt es an einer andern Stelle:

Der SINN bewirkt die Dinge

Ganz neblig, ganz verschwommen.

So verschwommen, so neblig

Sind in ihm Bilder,

So neblig, so verschwommen

Sind in ihm Dinge!

So innerlich, so dunkel

Sind in ihm Samen!

Diese Samen sind ganz wahr,

In ihnen ist Zuverlässigkeit.

Von alters bis heute

Verschwinden nicht diese Namen,

Mit denen alle Wesen benannt werden können;

Denn woher weiß ich denn, daß alle Wesen so sind (wie sie sind)?

Eben durch sie –

Hier wird ganz deutlich der Prozeß angedeutet, der zur Verwirklichung führt. Erst heißt es:

So verschwommen, so neblig

Sind in ihm Bilder!

Dann kommt der Umschlag:

So neblig, so verschwommen

Sind in ihm Dinge!

Nachdem so – wenn auch übersinnliche – Dinge vorhanden sind, entsteht das Problem des Erkennens. Der Grund, warum man nach Lautse die Dinge erkennen kann, ist, daß jedes Ding innerlich, samenartige, essentielle Qualitäten hat, die das eigentliche, innerste Wesen des Dinges mit zuverlässiger Deutlichkeit repräsentieren. Darum heißt es:

Diese Samen sind ganz wahr,

In ihnen ist Zuverlässigkeit ...

Diese Eigenschaften der Dinge, wie z. B. die Kälte und die weiße Farbe des Schnees, sind durchaus zuverlässige Wirklichkeiten für das Erkennen. Diese Wirklichkeiten sind befaßt in den Namen, den überzeitlichen Begriffen der Dinge. Diese Begriffe dauern, während die durch sie befaßten Erscheinungen der Dinge dem zeitlichen Wechsel, dem Werden und Vergehen unterworfen sind. Der Schnee fällt, der Schnee schmilzt, aber der Begriff des Schnees bleibt. Die einzelnen wirklichen Menschen werden geboren, sie sterben, aber der Begriff Mensch verschwindet nie. Darum heißt es:

Woher weiß ich denn, daß alle Wesen so sind?

Eben durch sie, d. h. die Namen, die Begriffe. Zur Erkenntnis ist man wesentlich auf die Begriffe angewiesen.

So hat hier Lautse eines der wichtigsten Probleme der älteren chinesischen Philosophie angeschnitten, das jahrhundertelang einen Gegenstand der Untersuchung bildete: das Problem des Verhältnisses von Begriff und Wirklichkeit – das im indischen Nama-Rupa auch enthalten ist.

Die Wirklichkeit ist begrifflich erkennbar, weil die Begriffe nicht bloß willkürliche Namen sind, sondern weil in den Dingen selbst etwas irgendwie Rationales der Begriffsbildung entgegenkommt.

Aber obwohl Lautse die Bedeutung der Begriffe für die Erkenntnisbildung sehr wohl kennt, ist das Problem damit für ihn nicht erledigt, daß er weiß, daß die Namen, die Begriffe ein nützliches Werkzeug des Erkennens sind. Denn hier erhebt sich für ihn eine sehr große Gefahr. Durch die Bewußtheit, die Erkenntnis entsteht für ihn wie für die Paradiessage eine Art Sündenfall. Denn nun wird das Einzelne aus seinem Mutterboden herausgelöst und verliert den organischen Zusammenhang mit dem Fluß des Lebens. Das Individuum ist da, und mit der Bewußtheit zugleich taucht die Selbstsucht auf, damit aber das „Widersinnige“, das zum Tode führt, je mehr des Lebens Fülle begehrt wird. Begriffe führen zu Erkenntnis, Erkenntnis führt zu Begehren, Begehren führt zu Selbstsucht, Streit, Gegensatz, Tod und Untergang. Und nicht etwa nur das Wissen um das Böse hat diese Folgen, sondern jedes Erkennen. Denn jedes Erkennen setzt mit seinem Objekt zugleich dessen Gegensatz. Aus der ursprünglichen Einheit tritt man mit dem Erkennen heraus in den Dualismus und muß da nun Partei nehmen.

Wenn alle Menschen auf Erden das Schöne als schön erkennen,

So ist damit schon das Häßliche gesetzt.

Wenn alle Menschen auf Erden das Gute als gut erkennen,

So ist damit schon das Böse gesetzt.

Darum ist Lautse alles andere als kulturfreudig. So hat er den bekannten Angriff auf das Leben in Erkenntnis und Kultur ausgeführt, der in den von ihm beeinflußten Kreisen noch jahrhundertelang nachgewirkt hat:

„Die Farben machen der Menschen Augen blind,

Die Töne machen der Menschen Ohren taub,

Die Geschmäcke machen der Menschen Gaumen schal,

Rennen und Jagen machen der Menschen Herzen toll,

Schwer zu erlangende Güter machen der Menschen Wandel lahm.“

Hier ist nun ein schwebender Punkt der Weisheit des Lautse. Die Namen entstehen mit einer gewissen Notwendigkeit aus dem SINN, und soweit sind sie an ihrem Platze – solange sie nicht übergreifen – als Prinzip der Individuation ganz gut, sie leiten hinüber zur Wirklichkeit. Nur sind sie nicht das Höchste. So heißt es gleich zu Beginn des Buchs vom SINN und LEBEN:

„Der SINN, den man ersinnen kann, ist nicht der höchste Sinn.

Die Namen, die man nennen kann, sind nicht die höchsten Namen.

Das Namenlose ist der Anfang von Himmel und Erde,

Das Namenhabende ist die Mutter aller Einzelwesen.

Darum muß man sich an das höchste Nichtsein halten, wenn man seine Geheimnisse schauen will, Und an das höchste Sein, wenn man sein Äußeres schauen will.“2

Hier haben wir deutlich den Stufenunterschied des Namenhabenden und Namenlosen. Es ist nicht wesensverschieden, sondern das Namenlose ist nur das Tiefere, Geheimnisvollere, das Himmel und Erde, die unsichtbaren und sichtbaren Welten, das Schöpferische und das Empfangende Prinzip in die Wirkung treten läßt, während das Namenhabende die Geburt der zahllosen, unterschiedenen Einzeldinge bewirkt. So gelangt man durch das Namenlose, das höchste Nichtsein zu den Geheimnissen der Welt, während man durch Anwendung der Namen, der Begriffe, die Welt nur von außen „in ihren Zwischenräumen“ erkennt.

Die Entwicklung des Erkennens, den intellektuellen „Sündenfall“ schildert Lautse sehr bezeichnend:

„Der SINN als höchster ist namenlose Einfalt.

Obwohl klein, wagt die Welt ihn nicht zum Diener zu machen.

Wenn Fürsten und Könige ihn so wahren könnten,

So würden alle Dinge sich als Gäste einstellen.

Das Volk würde ohne Befehle von selbst ins Gleichgewicht kommen.

Wenn erst das Dasein der Namen geschaffen,

So erreichen die Namen auch das Dasein.

Da kommt denn auch das Erkennen herbei.

Kommt das Erkennen herbei, so entsteht dadurch die Unordnung.“

Die Aufgabe der Leiter der Menschen besteht nun eben darin, zu verhindern, daß Intellektualismus und Rationalismus um sich greifen:

„Die in alten Zeiten das Lenken ausübten,

Taten es nicht durch Aufklärung des Volkes,

Sondern sie machten es töricht.

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