Mord am Goldenen Horn

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Mord am Goldenen Horn
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Zu diesem Buch

Firdevs ist eine sehr erfolgreiche Polizistin. Sie löst ihre Mordfälle geschickt und genießt unter ihren Kolleginnen und Kollegen einen sehr guten Ruf. Doch als sie erfährt, dass ihr Mann sie mit ihrer besten Freundin betrügt, bekommt sie psychische Probleme. Von da an geht es bergab in ihrem Berufsleben. Im letzten Moment entwischt ihr ein Mörder, der bereits vier Morde begangen hat. Die Mordserie reißt nicht ab, und es besteht der Verdacht, dass alle diese Morde ebenfalls auf das Konto dieses Mörders gehen. Es will Firdevs einfach nicht gelingen, ihm und vielleicht seinen Komplizen auf die Spur zu kommen, denn sie agieren wie Profis und hinterlassen keinerlei Spuren.

Firdevs und ihre Teamkollegen versuchen fieberhaft, diese Morde aufzuklären. Dabei werden sie mit schrecklichsten Geheimnissen aus ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert.

In jedem Menschen verbirgt sich ein Monster. In jedem von uns lauert diese Aggression, dieser Geist der Zerstörung, dieser Killergeist. Wir unterdrücken ihn nur durch Kultur und Bildung. Aber manchmal lässt er sich nicht zähmen. Ein falsches Lebensumfeld, falsche Lebensbedingungen können das Monster jederzeit wecken.

Sieben Leben

Mord am Goldenen Horn, Krimireihe, Nr. 1

Recep Akkaya


Impressum

Texte: © Copyright by Recep Akkaya

Lektorat: Gabriele Koske

Recherche: Sabine Gnida

Umschlag: © Copyright by Recep Akkaya

Grafik Layout Umschlag: Ahmet Cindioglu

Mail: info@ interbookstore.com

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-****-***-*

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

„Manchmal wollen Menschen nicht die Wahrheit hören, denn das würde ihre ganze Illusion zerstören.“

Friedrich Nietzsche

Lehnen Sie sich zurück, nehmen Sie Ihren Kaffee und beginnen Sie zu lesen. Von der ersten Seite an finden Sie sich inmitten der Geschehnisse. Sobald Sie glauben, den Fall gelöst zu haben, werden Sie auf ein neues Rätsel stoßen.

MORD AM GOLDENEN HORN

SIEBEN LEBEN

Manchmal steckt der Mörder in Dir selbst ...

SIEBEN LEBEN

Als sie die Augen öffnete, sah sie das Krankenzimmer. Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier war, doch sie lag, warum auch immer, in einem sauberen Bett. Sie richtete sich ein wenig auf und untersuchte ihre Hände und Arme. Es gab keine sichtbaren Verletzungen, aber sie hatte leichte Kopfschmerzen. Als sie ihre Hand zur Stirn führte, zog sie sie sofort zurück. Denn ihre Stirn war nicht so unverletzt wie Hände und Arme. Ein Verband zog sich um ihre Stirn. In diesem Moment blitzte wie ein Filmschnipsel vor ihren Augen auf, was geschehen war.

Vor 24 Stunden.

Firdevs war nicht mehr richtig bei Verstand, seit sie herausgefunden hatte, dass ihr Mann sie betrog. Ein Gericht hatte ihre Trennung längst offiziell bestätigt. Doch das Leid, die Enttäuschung konnten nicht durch eine gerichtliche Anordnung weggewischt werden. In ihrer zehnjährigen Ehe war sie ihrem Mann immer treu gewesen und hatte ihn sehr geliebt. Ja, sie hatte manchmal ihren Mann allein gelassen, weil sie ihren Beruf sehr ernst nahm und dieser ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens war. Sie übernahm im Morddezernat die schwierigsten Fälle, und es kam vor, dass das Leben um sie herum völlig in den Hintergrund trat und sie sich nur auf den aktuellen Fall konzentrierte. Sie war mit Leib und Seele Polizistin. Auch deshalb war sie so außerordentlich erfolgreich und sehr schnell die Karriereleiter hochgeklettert, trotz ihrer 40 Jahre.

Wieder einmal hatte sie damals ihren Mann angerufen und angekündigt, dass sie in dieser Nacht nicht nach Hause kommen könne. Doch die Ergebnisse der Blutproben aus dem Labor, auf die sie wartete, waren ungenau und die Analyse wurde auf den nächsten Tag verschoben. Sie konnte also doch nach Hause fahren. Gegen Mitternacht würde sie da sein.

Serkan hatte ihren Anruf als günstige Gelegenheit betrachtet und Firdevs’ Freundin Nebahat zu sich nach Hause eingeladen.

Als Firdevs ihr Auto abgestellt hatte und ins Wohnzimmer trat, traute sie ihren Augen nicht. Ihre beste Freundin und ihr Mann saßen auf der Couch in leidenschaftlicher Umarmung. Firdevs musste sich zusammenreißen, um nicht zu ihrer Dienstwaffe zu greifen und die beiden zu erschießen. Weinend stürzte sie aus dem Haus, stieg in ihr Auto und fuhr davon. Von diesem Moment an war sie weder für ihren Mann noch für Nebahat erreichbar. Sie sollten in der Schande ihres Verrats ertrinken!

Wenig später reichte Firdevs die Scheidung ein und ihr Mann akzeptierte dies. Der Vollzug der Scheidung wäre schon beim ersten Gerichtstermin möglich gewesen, aber Serkan konnte wegen einer schweren Erkältung nicht erscheinen. Zuerst wollte Firdevs Nebahat auf Schmerzensgeld verklagen angesichts des Leids, das sie, ihre beste Freundin, ihr zugefügt hatte. Sie war unendlich wütend und enttäuscht. Doch Firdevs überlegte es sich anders. Nehabat würde auf diese Weise ja von ihren Qualen erlöst sein, sie würde sich freikaufen können und sich entlastet fühlen. Das kam nicht in Frage. Nehabat sollte lebenslang leiden.

Als der Richter das Scheidungsurteil verkündete, hatte Firdevs sehr gemischte Gefühle. Ihr wurde heiß, ihr Hals war wie ausgedörrt, sie bekam fast keine Luft, als ob jemand sie würgen würde. Große Traurigkeit überkam sie, zugleich brannten die Rachegefühle lichterloh. Es war offensichtlich, dass ein großes Gefühlswirrwarr sie durchschüttelte und die Geschehnisse der letzten Monate eine klaffende Wunde in ihr Leben geschlagen hatten, die niemals heilen würde. Aufgewühlt verließ sie das Gerichtsgebäude. Immer wieder hatte sie diesen Anblick vor Augen, als sie die beiden in flagati erwischte. Sie stieg in ihr Auto, schnallte sich den Sicherheitsgurt an und startete den Motor. Sie wischte sich die Tränen ab, die bis hinunter zu ihren Mundwinkeln strömten, und gab energisch Gas. Wegen des Tränenschleiers erkannte sie zu spät, dass das rote Licht an der Verkehrsampel aufleuchtete. Mit voller Wucht prallte sie auf den Lastwagen, der vor ihr bremste. Obwohl ihr Airbag ausgelöst hatte, bohrte sich ein Teil der Karosserie des Lastwagens durch die Windschutzscheibe und gab ihr einen Stoß gegen die Stirn. Sie wurde ohnmächtig. Was danach passierte, wusste sie nicht mehr. Als sie wieder zu sich kam und die Augen öffnete, fand sie sich in diesem Krankenhauszimmer wieder.

1. Komm zu dir, Firdevs

Als sie den Kopf wieder auf das Kissen legte, hörte sie, wie an die Zimmertür geklopft wurde. Herein kam Firdevs Vorgesetzter Selcuk, einen Strauß Blumen im Arm und ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht. Firdevs zog sich an dem Galgen, der über ihrem Bett baumelte, hoch.

- Wie geht es dir, Firdevs?

- Ich denke, mir geht es gut, Chef. Ich habe nur ein bisschen Kopfschmerzen.

- Erinnerst du dich, wie der Unfall geschah?

- Nein, ich erinnere mich an nichts ... Oder ich möchte mich nicht erinnern. Mir war ein bisschen übel, als ich das Gerichtsgebäude verließ. Ich hoffe, in dem Wagen, auf den ich draufgeknallt bin, gab es keine Toten oder Verletzten.

- Nein, nein. Mach dir keine Sorgen. Es ist nur materieller Schaden entstanden. Gut, dass du den Truck getroffen hast. Glücklicherweise haben alle Beteiligten die Sache ohne größere Verletzungen überstanden.

- Gott sei Dank! Wie läuft es im Büro?

- Denk jetzt einmal nicht an die Arbeit! Du hast sowieso eine Menge Urlaubstage angesammelt, nutze sie jetzt, um dich einen Monat lang mal so richtig auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen. Danach komm zurück zur Arbeit wie die alte Firdevs!

- Nein, das werde ich nicht tun. Ich möchte nicht von der Arbeit fernbleiben. Ich würde mich dabei nicht gut fühlen. In drei Tagen bin ich wieder im Büro.

Selcuk war ein 59 jähriger, väterlich aussehender Mann. Sein Haar war auf der Jagd nach den vielen Mördern weitgehend grau geworden. Er lächelte leicht, nahm Firdevs’ Hände und drückte sie fest.

- Was immer ich dir sage, du wirst nicht auf mich hören. Wir warten auf dich, wann immer du kommen möchtest. Hier, diesen Blumenstrauß haben die Kollegen aus dem Büro zusammenstellen lassen. Sie alle grüßen dich. Sie werden dich besuchen, sobald die Arbeit ihnen die Gelegenheit dazu lässt.

Firdevs lächelte zurück. Sie liebte ihren Job, er würde sie von dem, was sie durchgemacht hat, ablenken. Das war der Grund, warum sie sich so schnell wie möglich wieder mit beruflichen Dingen beschäftigen wollte. Das würde ihr einen einigermaßen klaren Kopf verschaffen. Sie musste Serkans und Nebahats Verrat vergessen, sonst würde er sie innerlich zerreißen.

- Vielen Dank, Chef. Bestell bitte allen Kollegen auch schöne Grüße zurück, und sag ihnen, sie sollen sich um mich keine Sorgen machen. Mir geht’s gut!

*

Die Sterne funkelten am Himmel. Es war dunkel geworden. Weil es erst Anfang Juni war, war die Luft angenehm feucht und auch die Temperatur war ideal. An diesem schönen Freitagabend gingen die Leute aus, um sich zu amüsieren und die restlichen Stunden des Tages zu genießen. Einer der Orte, den junge Leute oft besuchten, war die Café-Bar Blue in Kadıköy. Es gab Live-Musik, die Gäste unterhielten sich, tranken etwas, und manchmal sangen sie mit.

 

Derya gehörte zu den jungen Leuten, die in die Blue Bar kamen, um diese besondere Atmosphäre zu genießen und ihren Spaß zu haben. Sie war dort mit zwei ihrer Freundinnen. Sie unterhielt sich gerade mit Selda und Özge über einen interessanten Mann, den sie kürzlich kennengelernt hatte, als mitten im Gespräch ihr Handy klingelte. Es war eine unbekannte Nummer. Sie nahm ab, aber wegen der lauten Musik und der Gespräche der Gäste konnte sie nichts verstehen. Sie signalisierte ihren Freundinnen, dass sie kurz nach draußen gehen wollte, um in Ruhe telefonieren zu können. Ihre Freundinnen nickten kurz und plauderten weiter. Derya trat vor die Bar, die Musik war nur noch leise zu hören. Der Anrufer war noch dran. Sie hielt ihr Telefon ans Ohr und begann zu reden.

- Ja, bitte.

Es war ein Mann. Nach seiner Stimme zu urteilen war er Mitte vierzig, die Stimme klang hart und geheimnisvoll.

- Hast du Spaß, amüsierst du dich?

- Verzeihung, ich kann Sie nicht zuordnen, wer sind Sie?

- Du wirst nicht lange genug leben, um es herauszufinden!

Selda und Özge hatten aufgehört zu reden. Es war einige Zeit vergangen, seit Derya nach draußen gegangen war, und sie war immer noch nicht zurück. Sie begannen sich zu wundern. Selda kramte ihr Handy aus ihrer Tasche und rief Derya an. Es kam ein Klingelzeichen, aber Derya ging nicht dran. Selda sah Özge mit erstaunten Augen an.

- Warum nimmt sie das Gespräch nicht an?

- Vielleicht ist sie auf der Toilette ...

- Das kann aber nicht so lange dauern!

- Vielleicht gab es eine Schlange … Ruf noch mal an.

Selda rief erneut an und auch diesmal konnten sie Derya nicht erreichen. Sie begannen sich Sorgen zu machen. Bald hielten sie es nicht mehr länger aus, gingen raus auf die Straße, aber da war keine Derya. Es gab niemanden außer ein paar Leuten, die dort unterwegs waren. Die beiden Freundinnen schwankten auf der dünnen Linie zwischen Frustration und geduldigem Abwarten hin und her. Sie beschlossen, noch eine Weile zu warten, aber dann die Polizei anzurufen, denn es war ganz untypisch für Derya, sie einfach allein zurückzulassen.

*

Zwei Tage waren vergangen, seitdem Firdevs aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Es war Mitternacht und sie schlief fest. In ihrem Traum sah sie immer wieder einen Hund bellend auf sie zu rennen. Sie versuchte dem Hund zu entkommen, und dabei wälzte sie sich unbewusst nach links und rechts im Bett herum. Sie schwitzte, als würde sie das Traumgeschehen real erleben. Als sie das Bellen des Hundes näher kommen hörte, schreckte sie hoch und öffnete die Augen. Aber das Bellen des Hundes konnte sie immer noch hören. In diesem Moment wurde ihr klar, dass ein Hund in den Garten des Hauses gelaufen war, dessen Gebell sie von einem bellenden Hund hatte träumen lassen.

Sie stieg aus ihrem Bett, noch etwas durcheinander, dass sie so unangenehm aus dem Schlaf gerissen worden war. Sie wohnte in einer doppelstöckigen weißen Villa, von einem großzügigen Garten umgeben. Das Schlafzimmer lag im oberen Stock. Sie hatte Durst. Also wollte sie hinunter in die Küche im Erdgeschoss, um einen Schluck Wasser zu trinken. Als sie an der Holztreppe stand, die nach unten führte, sah sie den Raum und die Couch vor sich, wo sich ihr Mann und ihre beste Freundin geküsst hatten. Und sofort begannen die Filmbilder wieder anzulaufen. Es schien, als ob Blitze ihren Kopf durchzuckten. Sie klammerte sich an das Treppengeländer und versuchte sich auf den Beinen zu halten. In ihrem Kopfkino stach sie immer wieder auf Serkan und Nebahat ein, während diese sich eng umschlungen auf der Couch küssten. Sobald sie zustach, bellte der Hund, und bei jedem Mal bellte er lauter. Nachdem sie ihrem Mann den letzten Stich verpasst hatte, verstummte auch das Bellen.

Firdevs versuchte zu sich zu kommen. Plötzlich war der Film in ihrem Kopf weg. Vor Schreck wie erstarrt stand sie da. Sie traute ihren Augen nicht, als sie sah, was sie in der Hand hielt. Ein blutiges Brotmesser, in der rechten Hand. Voller Angst schleuderte sie das Messer weg. Es schlug auf den Treppen auf und fiel dann klackernd bis auf den Boden hinunter. Leise lief sie hinterher und schaute sich um, ob etwas passiert war. Es schien alles in Ordnung zu sein. Die Couch, die Sessel, alles sah aus wie immer, nur die Haustür stand offen. Leicht beunruhigt ging Firdevs auf die Tür zu. Sie zog vorsichtig ihre Hausschuhe an und trat hinaus. Niemand war zu sehen. Nachdem sie sich auch im Garten umgesehen hatte und wieder vor der Wohnungstür stand, hörte sie ein Telefon klingeln. Als sie den Klingelton hörte, schreckte sie erst einmal zusammen. Aber als sie merkte, dass es ihr Handy war, das klingelte, ließ die Anspannung nach. Sie ging ins Haus und schloss die Tür hinter sich ab. Ihr Telefon war im oberen Geschoss. Als sie die Treppe hinaufstieg, fiel ihr Blick auf das Messer, das sie vor wenigen Minuten auf den Boden geworfen hatte.

Offensichtlich hatte der Anrufer aufgegeben, bis sie endlich das Telefon erreicht hatte. Es hörte auf zu klingeln. Sie studierte die Liste der entgangenen Anrufe und sah, dass es Selcuk gewesen war. Sofort rief sie zurück.

- Hallo, Chef!

- Firdevs, geht es dir gut? Verzeihung, habe ich dich aufgeweckt?

Firdevs schaute auf die Uhr. Es war 00:30 Uhr.

- Nein, Chef. Ich war schon wach, um einen Schluck Wasser zu trinken.

- Dann ist ja gut. Hast du ihn schon getrunken?

Firdevs sah das halb volle Wasserglas und den Krug auf dem Nachttisch neben dem Bett. Ja, sie hatte Wasser getrunken, aber sie konnte sich nicht erinnern, wann sie dies getan hatte. Sie zuckte mit den Achseln und sprach zu sich selbst. „Komm zu dir, Firdevs.“

- Ja, habe ich. Gibt es irgendwelche Probleme?

- Firdevs, wir brauchen dich. Eine Leiche wurde gefunden!

- Gib mir bitte den Fundort durch, ich werde gleich losfahren!

Firdevs zog sich an und rannte die Treppe hinunter. Als sie ins Wohnzimmer kam, begann sie plötzlich zu taumeln. Das blutige Messer, dass sie auf den Boden geworfen hatte, war nicht mehr da. Erschrocken wanderten ihre Augen nach links und rechts. „Komm zu dir, Firdevs“, sagte sie wieder zu sich, „Es war nicht real“, und verließ das Haus.

Sie ging durch die Gartentür zu ihrem Auto. Es war stockdunkel. Ihre Scheinwerfer leuchteten die nahe Umgebung aus, nachdem sie eingestiegen und losgefahren war. Sie trat aufs Gas und ließ das Haus hinter sich in der Dunkelheit verschwinden. Was sie nicht gesehen hatte, war, dass da ein Hund lag, mehrere Meter hinter ihrem Fahrzeug. Auf ihn war mehrere Male eingestochen worden.

2. Psychopath

Die Polizei war gerade dabei, die Leiche abzudecken, als Firdevs am Tatort eintraf. Sie stieg aus und ging zu Selcuk.

- Chef, warum deckst du den Toten ab? Wurden die Spuren gesichert?

- Ja, Firdevs. Eray hat ihn untersucht und die Beweise gesammelt.

- Wer ist Eray?

- Dein neuer Assistent ...

- Was ist mit Ismail passiert?

- Er wurde letzte Woche nach Muğla versetzt. Er wollte es so.

- Ich hätte mir gewünscht, dass er mich einfach darüber informiert.

- Ihr habt doch am Telefon darüber gesprochen, oder?

Firdevs war überrascht. Sie konnte sich nicht erinnern, mit İsmail telefoniert zu haben. Sie hob zögerlich ihr Handy und warf einen Blick auf die letzten Anrufe. Tatsächlich, vor ein paar Tagen hatte sie ungefähr zwanzig Minuten lang mit Ismail telefoniert. Sie richtete ihren Blick wieder zu Selcuk.

- Es tut mir leid. Ich habe noch nicht zu meiner alten Form zurückgefunden. Ich konnte mich einen Moment nicht dran erinnern.

- Ist schon gut. Es wird bald alles besser. Darf ich dir Eray vorstellen?

Selcuk ging zu Eray, der ein paar Meter weiter weg stand, und sagte etwas zu ihm. Dann kam er mit Eray zurück zu Firdevs. Eray war ein hübscher, respektvoller junger Mann in den Dreißigern mit braunen Haaren und braunen Augen, der sich mit Haut und Haaren seinem Job verschrieben hatte. Er war sehr ehrgeizig und hatte sich regelrecht zur Berufung gemacht, Mordfälle aufzuklären und die Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen. Er lächelte und streckte Firdevs die Hand entgegen.

- Ich begrüße Sie, Frau Firdevs. Ich bin Eray Yilmaz.

- Freut mich, Eray. Viel Glück in Ihrem neuen Job.

- Vielen Dank.

- Lassen Sie hören, was Sie herausgefunden haben ...

- Das Mädchen heißt Derya. Während sie mit ihren Freundinnen zusammen war, klingelte ihr Handy. In der Bar war es zu laut, also ging sie raus, um ungestört zu telefonieren. Danach hörten ihre Freundinnen einige Zeit nichts von ihr, sie wurden stutzig und riefen unsere Kollegen an. Diese fuhren zuerst zu Deryas Familie. Als sie dort erfuhren, dass Derya nicht nach Hause gekommen war, wurde ihre Familie zur Polizeiwache mitgenommen. Das Mädchen hatte keine Feinde. Und es gab keinen Platz, wo sie woanders hätte übernachten können. Die Kollegen lokalisierten später die Signale ihres Handys und entdeckten ihre Leiche. Dann wurde der Fall an uns übergeben. Ich habe schon mal ein wenig den Fundort untersucht und recherchiert, bevor Sie kamen. Das Mädchen wurde erwürgt, aber nicht mit bloßen Händen.

- Wie dann?

- Mit einer Tüte.

- Mit einer Tüte?

- Ja … Mit einer Einkaufstüte, so einer, wie wir sie alle kennen.

- Wo ist die Tüte?

- Die konnten wir nicht finden. Der Mörder hat sehr professionell gearbeitet. Er nahm die Tüte mit, nachdem das Mädchen gestorben war.

- Wurde herausgefunden, wer der letzte Anrufer war oder von wo er angerufen hatte?

- Wir haben eine Recherche angefordert. Die Ergebnisse werden jedoch erst morgen kommen.

- Irgendwelche Fingerabdrücke?

- Auf den ersten Blick gibt es keine Spur von dem Täter. Kein Anzeichen für eine Auseinandersetzung, für Streitigkeiten. Wir werden uns auch den Bericht aus der Gerichtsmedizin ansehen.

- Danke Ihnen. Ich schaue mich auch noch ein bisschen um.

Firdevs zog das Tuch ab, mit dem die Leiche bedeckt war, und untersuchte sie auf irgendwelche Besonderheiten. Sie begutachtete den Hals der Toten, ihren Mund, ihre Fingernägel, ihre Kleidung und nahm alles sehr sorgfältig in Augenschein. Es gab keine außergewöhnlichen Spuren.

Eray verfolgte sehr aufmerksam, wie Firdevs anschließend versuchte, die Spuren von Reifen und Schuhen auf dem Asphalt zu lösen. Nachdem sie das beendet hatte, wendete sie sich an die Polizeibeamten in der Nähe.

- Sie können die Leiche entfernen. Morgen werde ich dabei sein, wenn die Gerichtsmedizin sie untersucht.

- In Ordnung, Chefin.

Firdevs und Eray nahmen eine erste Bewertung vor, als die Polizei sich daran machte, die Leiche in den Rettungswagen zu tragen, um ihn in die Gerichtsmedizin zu fahren. Eray legte seine Überlegungen und Vermutungen zu dem Mordfall dar.

- Chefin, ich glaube, der Mörder ist ein Mann und bewaffnet. Außerdem kann es sein, dass er nicht allein war.

- Ich denke, der Mörder ist ein Mann, aber ich bin sicher, dass er allein war. Warum denken Sie, dass es mehr als eine Person gibt?

- Das Opfer zeigt keine Spuren von Gewalteinwirkung am Körper. Geschweige denn Würgemale am Hals. Ich meine, das Mädchen wurde ohne jede Gewaltanwendung erwürgt. Ich gehe davon aus, dass es Angst hatte, womöglich vor einer Waffe, die auf sie gerichtet war, also muss mehr als eine Person beteiligt gewesen sein. Deswegen konnte sie sich nicht wehren.

- Nein! Der Mörder war ein Mann, aber er war allein.

- Wie kommen Sie zu diesem Ergebnis?

- Ihre Überlegungen gehen in die richtige Richtung, Eray. Aber es fehlen einige Puzzleteile.

- Was meinen Sie damit?

- Wie Sie schon richtigerweise sagten, es gibt keine Anzeichen für eine körperliche Auseinandersetzung. Dies zeigt, dass das Opfer keiner brutalen Gewalt ausgesetzt war. Aber der Punkt, den Sie außer Acht gelassen haben, ist folgender: Alles deutet daraufhin, dass das Opfer mit einem Fahrzeug mit leichten Gummireifen hierher gebracht und auf den Boden gelegt wurde. Das Mädchen hatte keine Blutergüsse, also wurde es sehr vorsichtig auf dem Boden abgelegt. Es gibt neben ihr einen Fußabdruck, da war also eine Person. Die Reifenspuren sind mit den Fußabdrücken kompatibel. Also hob der Täter das Mädchen herunter, legte es auf den Boden und setzte sich anschließend wieder auf den Fahrersitz. Dann fuhr er weg. Ich sage nur, wir haben es mit einem psychopathischen Mörder zu tun. Außerdem verwendet er ein intensiv riechendes Deo.

 

Eray fühlte sich nahezu überrollt von diesen Informationen, das hatte er nicht erwartet. Solch viele Details in solch kurzer Zeit zu erfassen, das erforderte eine große Portion Professionalität. Er hatte nun wirklich den persönlichen Beweis, wie erfolgreich Firdevs in dieser Hinsicht war. Er nickte. Sein Respekt vor Firdevs hatte mächtig zugenommen.

- Sie haben recht, Chefin. Wir werden heute Nacht keinen Schlaf bekommen. Ich werde da sein, wo Sie sind. Wie geht es nun weiter?

Firdevs lächelte. Derlei anerkennende Worte hatte sie schon seit langer Zeit nicht mehr gehört. Für ihre Kollegen war ihre gute Arbeit längst selbstverständlich. Sie hatten sich alle daran gewöhnt.

- Kommen Sie jetzt! Wir werden mit der Familie und den Freundinnen des armen Mädchens sprechen. Sie sollen von der Wache, wo sie gerade sind, in die Zentrale gebracht werden, und wir werden auch dorthin fahren.

- Einverstanden, Chefin.

Selcuk, der sie aus der Ferne beobachtete, war guter Dinge. Es machte ihn froh, das Firdevs wieder zur Arbeit zurückgekehrt war. Aber zugleich war er bedrückt wegen des Opfers, das dort auf dem Boden lag. Über Funk wies er an, dass Deryas Familie und ihre zwei Freundinnen in die Zentrale gebracht werden.

*

Als sie so früh am Morgen in ihr Büro kam, eigentlich war es ja noch mitten in der Nacht, waren außer Deryas Familie und den beiden Freundinnen nur die Kollegen von der Nachtschicht da. Firdevs spürte, wie sehr sie ihr Büro vermisst hatte. Es war ja ihr eigentliches Zuhause. Sie atmete tief ein und sah sich um. Eray brachte gerade die Familie des Opfers zur Befragung in ein benachbartes Zimmer. Firdevs ging in ihr eigenes Zimmer. Sie kontrollierte alles sehr genau, ihren Tisch, die Schubladen. Anschließend nahm sie in ihrem Schreibtischsessel aus Leder Platz, lehnte sich zurück und schloss ihre Augen. Sie fühlte sich seelisch müde. Hinter ihren geschlossenen Augen spulte sich wieder die Szene mit ihrem Ex-Mann und ihrer Freundin auf der Couch ab. Genervt öffnete sie die Augen wieder, packte eine kleine Nippesfigur von ihrem Schreibtisch und schleuderte sie zu Boden. Als die Figur in tausend Teile zersprang, ging die Tür auf. Es war Eray. Firdevs riss sich zusammen.

Eray schaute auf die Scherben auf dem Boden. Dann wendete er sich an Firdevs.

- Chefin, ich hoffe, dass es kein Problem gibt?

- Es gibt kein Problem, Eray. Machen Sie sich keine Sorgen, mir geht es gut. Ich mochte dieses kitschige Stück sowieso noch nie. Plötzlich hat es mich richtig genervt und ich musste was unternehmen. Was wollten Sie sagen?

- Ich habe die Familie des Opfers zur Befragung ins Nebenzimmer gebracht. Sie wissen noch nicht, dass ihre Tochter tot ist. Die Kollegen haben der Familie nichts gesagt. Die Eltern machen sich Sorgen.

- Gut, Eray. Ich komme gleich. Bieten Sie ihnen bitte Kaffee, Tee an, etwas zu trinken. Ich möchte auch einen türkischen Kaffee.

- Geht klar, Chefin.

Als Eray das Zimmer verlassen hatte, lehnte sich Firvdes wieder zurück. Sie hatte Angst, ihre Augen zu schließen. Sie knetete eine Weile ihre Faust. Dann stand sie auf und ging ins Nebenzimmer.

Als sie eintrat, standen Deryas Eltern auf. Die beiden Freundinnen verharrten voller Anspannung auf ihren Stühlen, mit rot geweinten Augen. Die Eltern wollten unbedingt glauben, dass ihre Tochter noch lebte. Welche Eltern vermochten es auch, ihr Kind dem Tod zu überlassen?

- Hallo, willkommen. Ich bin Hauptkommissarin Firdevs. Ich kümmere mich um die Mordfälle.

Bis zu diesem Moment hatte der Vater Stärke ausstrahlen wollen, aber nun geriet er ins Wanken und musste sich am Tisch festhalten. Die Mutter war außer sich vor Sorge um ihre Tochter. Der Vater ließ sich wieder auf den Stuhl sinken und begann zu weinen, als hätte er schlagartig verstanden, was passiert war. Und auch die Mutter schien zu verstehen. Unvermittelt fragte sie: „Es geht doch nicht um Mord? “, und fiel in Ohnmacht. Als sie im Begriff war zusammenzusacken, sprang Eray ihr zur Seite und fasste sie bei den Armen, aber er konnte nur noch verhindern, dass der Sturz nicht allzu heftig war. Die beiden Freundinnen Özge und Selda hatten immer noch Angst in ihren Augen, als ob sie von Anfang an eine schlechte Nachricht erwartet hätten. Eray rief seinen Kollegen zu, dass diese den Sanitätern Bescheid sagen sollten. Sein Blick ging zur Mutter am Boden, dann zum Vater, der hemmungslos weinte. Danach schaute er zu Firdevs, die ungerührt dastand und ebenfalls die Eltern beobachtete.

- Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie nicht wissen, dass ihre Tochter tot ist, rief Eray aufgebracht.

Firdevs verharrte immer noch ruhig, fast kaltblütig. Sie setzte sich neben den weinenden Vater.

- Ich weiß. Der einzige Weg, einer Familie zu sagen, dass ihr Kind tot ist, ist zu sagen, dass ihr Kind tot ist. Sie brauchen sich nicht aufzuregen.

- Sie hätten es ja später klar und deutlich sagen können. Schließlich haben wir die Familie eingeladen, damit wir ihnen Fragen stellen können, und nicht, damit sie vor unseren Augen zusammenbrechen.

- Denken Sie an das Wohl der Familie oder an Ihr eigenes?

Eray schwieg lange. Inzwischen kamen die Sanitäter und kümmerten sich um die Mutter. Sie setzten ihr eine Beruhigungsspritze. Den Vater nahmen sie am Arm und begleiteten ihn zum Krankenwagen. Özge und Selda saßen weiter wie erstarrt am Tisch, hilflos ihrer Trauer ausgesetzt. Sie schauten zu Eray und dann wieder zu Firdevs. Ein Kollege brachte den Tee und den Kaffee und verschwand wieder durch die Tür. Seelenruhig wischte Firdevs den Kaffee weg, der aus der Tasse geschwappt war, und trank einen Schluck. Danach wendete sie sich den Mädchen zu.

- Willkommen, Mädels. Wir kennen uns noch nicht.

Die Mädchen waren genauso sprachlos wie Eray. Sie schauten sich verwundert an. Firdevs verharrte weitere Minuten schweigend, als würde sie die Sprachlosigkeit von Eray und den Mädchen noch steigern wollen. Sie tat so, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert, als hätte eine Familie nicht ihr Kind verloren und es wäre kein Mord geschehen. Als wäre alles ein großes Rätsel. Sie drehte sich zuerst zu Selda.

- Sie … Sagen Sie mal, hübsches Mädchen. Wie heißen Sie?

- Selda …

- Wie alt sind Sie, Selda?

- 27.

- Wie ist die Tat passiert?

In diesem Moment begann Özge zu reden.

- Wir saßen in einer Bar …

Firdevs unterbrach sie.

- Was ist los, Fräulein … Können Sie jetzt auf einmal sprechen? Eben waren Sie noch sprachlos.

- Na ja, so vor Deryas Eltern wollte ich nicht ...

- Schau einer an. Aber Sie beide sind schließlich jung.

Sie drehte sich zu Eray.

- Sie auch ... Die Dinge laufen nicht, wie Eltern sich das vorstellen. Eltern kennen ihre Kinder nicht. Es sind nur die Freunde, die Bescheid wissen. Wir hatten mal den Fall einer jungen Frau, die im Alkoholkoma gestorben ist. Wissen Sie, was ihr Vater gesagt hat, Eray?

- Was hat er gesagt, Chefin?, fragte Eray erstaunt.

- „Meine Tochter trinkt niemals Alkohol“, hat er gesagt. Und im Bericht der Gerichtsmedizin stand, dass die Tochter seit langen Jahren Alkoholikerin war. Eltern können sich niemals vorstellen, dass ihre Kinder schlimme Dinge tun. Egal wie alt die Kinder sind, für Eltern sind sie immer Kinder. Aber Kinder sind wie Füchse. Sie zeigen ihren Eltern nicht ihre wahre Persönlichkeit. Das war der Grund, warum ich Deryas Familie indirekt gesagt habe, dass ihre Tochter nicht mehr lebt. Es wäre viel fieser gewesen, wenn wir zuerst mit ihnen gesprochen hätten, um Informationen zu bekommen, und ihnen erst danach gesagt hätten, dass ihre Tochter tot ist. Sie haben das Recht zu wissen, dass ihre Tochter tot ist. Und um ihren Tod aufzuklären, brauche ich nicht die Familie, sondern Sie, die Freundinnen.

Betreten blickten alle zu Boden. Eray wurde rot. Vorhin war er sauer auf Firdevs gewesen, aber jetzt war er sauer auf sich selbst. Er hatte verstanden, dass man in diesem Job unsentimental sein musste.