Mord am Goldenen Horn

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Firdevs lächelte in Richtung Eray.

- Sind Sie immer noch böse auf mich?

Eray hatte sich beruhigt.

- Nein, Chefin. Ich habe verstanden, dass ich zu emotional reagiert habe.

- Gefühle machen Menschen schwach, Eray. Vergessen Sie das niemals.

Sie drehte sich zu den Mädchen.

- Jetzt sagen Sie mal, Selda. Was meinen Sie, wer hat Derya umgebracht?

Selda rutschte unruhig hin und her. Sie wirkte, als wüsste sie etwas, aber wäre sie sich ihrer Sache noch nicht sicher. Firdevs schaute zu Özge und stellte ihr schweigend die gleiche Frage. Özge schwenkte den Kaffee ein bisschen, bevor sie die Tasse auf dem Tisch abstellte. Danach begann sie zu reden.

Sie berichtete, dass Derya jemanden kennengelernt hatte. Es war ein älterer Mann, auch wenn er nicht alt aussah.

- Wie ist sein Name?

- Cagatay.

- Haben Sie diesen Cagatay schon mal gesehen?

- Nein, wir haben ihn noch nicht gesehen.

- Wie lang ist es her, dass die beiden sich kennengelernt haben?

- Einen Monat.

- Einen ganzen Monat lang hat Derya ihn ihren Freundinnen nicht vorgestellt?

- Nein, hat sie nicht. Er hat sich benommen wie ein Psychopath.

- Was für ein Psychopath denn?

- Derya hatte mit ihrem Ex-Freund Murat noch Kontakt über SMS. Als Catagay einmal eine solche SMS sah, hat er Derya eine Ohrfeige gegeben. Er sagte, dass er den Ex umbringen werde.

Firdevs drehte sich zu Eray.

- Lassen Sie sich die Telefonnummer von Deryas Ex-Freund geben, und dann werden wir morgen mit ihm sprechen.

- Einverstanden, Chefin.

Firdevs beendete das Gespräch und beauftragte Eray, die Aussagen der Freundinnen schriftlich zu fixieren und weitere Aussagen aufzunehmen.

*

Sie ging in ihr Zimmer und versuchte ein wenig Schlaf nachzuholen. Sie legte ihren Kopf auf den Schreibtisch und schlief auch sofort ein. Ein wenig Speichel tröpfelte aus ihrem Mundwinkel auf die Unterlage. Als die Tür aufging, öffnete sie ihre Augen und hob den Kopf. Selcuk stand in der Tür. Sie wischte mit ihrem Arm über ihren Mund, und als sie den feuchten Fleck auf dem Tisch sah, zog sie ein Papiertaschentuch hervor um ihn zu beseitigen. Ihre Augen waren geschwollen, denn sie hatte zwar geschlafen, war aber längst nicht ausgeschlafen.

- Bitte, Chef?

- Wie geht es dir, Firdevs?

- Mir geht es gut, Chef. Ich bin nicht nach Hause gegangen.

Sie guckte auf die Uhr.

- Es ist ja schon zehn Uhr!

- Kein Problem. Du wolltest ja den Ex-Freund der Toten, Murat … Wir haben ihn in unsere Obhut genommen.

- Und wo ist er?

- Im Leichenschauhaus der Gerichtsmedizin!

- Ist er ermordet worden?

- Nein. Er hat einen Spaziergang zum Leichenschauhaus der Gerichtsmedizin gemacht.

- Entschuldigung, Chef. Ich meinte, ob es vielleicht ein Unfall oder so etwas war …

Selcuk lächelte.

- Nein, nein, bitte versteh mich nicht falsch. Ich habe einen Scherz gemacht, damit du ein bisschen zu dir kommst. Ja, leider ist er ermordet worden. Eray holt jetzt das Auto vom Parkplatz, um zur Gerichtsmedizin zu fahren. Geh nach unten, er wird dich vor der Tür abholen.

- Einverstanden, Chef.

Sie wusch sich am Waschbecken Hände und Gesicht und ging anschließend vor die Tür. Nach einer Weile kam Eray und gemeinsam fuhren sie zur Gerichtsmedizin.

*

Als sie dort ankamen, lief Eray ein Schauer über den Rücken. Leichen hatte er bereits gesehen, aber noch nie eine im Leichenschauhaus der Gerichtsmedizin in Augenschein genommen. Er schielte zu Firdevs, während sie den Flur entlangliefen. Firdevs war so kaltblütig. Wie konnte sie so sein? War sie früher auch schon so gewesen?

Er stellte sich Fragen über Fragen und beanwortete sie sich gleich selbst, und dabei presste er seine Lippen fest aufeinander. Genau in diesem Moment erwischte Firdevs ihn. Sie musste lächeln.

- Was ist los, sind Sie verwirrt?

- Ja, ich bin verwirrt. Ich habe noch nie eine Leiche im Leichenschauhaus untersucht.

- Aber Sie sind nicht deshalb verwirrt, oder?

- Ich staune über Ihre Seelenruhe, Chefin.

- Sie werden sich daran gewöhnen. So wie sich in Zukunft Ihre Mitarbeiter auch an Sie gewöhnen werden.

- Das hoffe ich.

*

Als sie neben der Leiche standen, trug ihnen der zuständige Mitarbeiter der Gerichtsmedizin, Kenan, vor, zu welchen Ergebnissen seine Begutachtung der Leiche geführt hatte.

- In Avcilar hat ein Mann den Toten am frühen Morgen vor seinem Geschäft auf dem Boden gefunden. Als die Polizei kam, hat der Staatsanwalt eine Untersuchung veranlasst. Ihr Chef hat den Fall seinem Team überlassen. Ich glaube, Sie haben den Mann gesucht?

Firdevs antwortete, während sie sich über die Leiche beugte und sie vorsichtig untersuchte.

- Ja … Wir haben ihn gesucht. Er hätte sogar ein Verdächtiger sein können, aber jetzt ist dieser Verdacht erst einmal hinfällig. Wir müssen ihn nicht verhaften.

Eray lächelte über diesen trockenen Kommentar. Kenan schaute irritiert. Dann berichtete er weiter.

- Das Opfer ist 33 Jahre alt. Auf seinen Hinterkopf, etwas über seinem Nacken, wurde mit einem spitzen Gegenstand, vielleicht einer Stricknadel, eingestochen. Anschließend haben sie diese etwas gedreht und sie dann wieder herausgezogen.

Eray schaute Firdevs in die Augen. Er wollte etwas sagen, aber er traute sich nicht. Firdevs ermutigte ihn.

- Sagen Sie, Eray. Was denken Sie darüber, was für ein psychopathisches Vorgehen ist das dann? Gibt es einen Zusammenhang mit dem Mord an Derya?

- Genau dazu wollte ich etwas sagen. Der oder die Mörder von Derya haben ihr Opfer fast überhaupt nicht berührt, sondern haben sie mit einer Tüte erwürgt und diese anschließend weggeschmissen. Bei dem Toten hier haben sie aber richtig zugefasst. Die zwei Morde ähneln sich überhaupt nicht. Ich denke, dass die beiden aus völlig verschiedenen Gründen ermordet wurden.

Firdevs presste ihre Lippen zusammen und setzte ihre Untersuchungen fort.

- Es wäre schön gewesen, wenn Sie recht gehabt hätten. Und es wäre gut gewesen, wenn wir die Ersten am Tatort gewesen wären. Ich hätte die Reifenspuren kontrollieren müssen, aber inzwischen ist zu viel Zeit vergangen. Die Spuren werden uns nichts mehr nützen. Neuere Spuren haben sie bestimmt längst überdeckt.

- Denken Sie, dass es derselbe Täter war?

- Ja. Er oder sie spielt mit uns. Alle Mörder hinterlassen eine Signatur, auch wenn sie auf unterschiedliche Weise gemordet haben.

- Signatur … Was für eine Signatur?

- Es ist immer eine andere … Aber in diesem Fall ist die Signatur ein Parfümduft. Der Mörder hinterlässt keine Fingerabdrücke, weil er die Opfer nicht richtig anfasst und Handschuhe benutzt. Aber er hinterlässt an seinen Opfern eine Parfümspur. Derselbe Duft, den diese Leiche verströmt, lag auch bei dem Mädchen in der Luft.

- Der Tote hier war ihr Ex-Freund. Kann es nicht sein, dass sie das gleiche Parfüm benutzten?

- Ein Herrenparfüm?

- Kann das nicht sein?

- Schicken Sie einen Kollegen zum Haus des Mädchens. Er soll alle ihre Parfüme einsammeln und zur Zentrale bringen.

- Abgemacht, Chefin.

Eray erledigte den Anruf. Im gleichen Moment sah er, dass Firdevs zum Ausgang ging, und er rannte hinter ihr her. Firdevs streifte sich die Gummihandschuhe ab, schmiss sie auf den Boden und lief mit schnellen Schritten fort.

- Chefin, wohin?

- Wir müssen gehen. Los!

- Wohin?

Firdevs antwortete nicht. Es war klar, dass sie sich dabei etwas dachte. Sie stieg unverzüglich ins Auto auf den Beifahrersitz. Eray setzte sich hinters Steuer und sie fuhren zur Zentrale. Firdevs sprach auf dem Weg kein Wort. Sie schaute die ganze Zeit nur starr geradeaus. Es war klar, dass ihr Kopf arbeitete, aber was sie dachte, war für Eray ein Rätsel.

*

Während Selcuk in seinem Zimmer saß, kam Polizist Ilhan herein.

- Chef, ich habe gute Nachrichten.

- Bitte, Ilhan. Was ist die gute Nachricht?

- Wir haben Cagatay gefunden. Die Telefonnummer, die Derya heimlich in der Nacht angerufen hatte, war seine. Es sieht so aus, als wäre unser neuer Verdächtige dieser Cagatay.

- Eine super Nachricht. Hast du seine Adresse herausgefunden?

- Wir haben seine Adresse, und wir haben auch ihn selbst per Handyortung ausfindig gemacht. Er ist jetzt in seinem Haus in Umraniye.

- Ist Firdevs gekommen?

- Ich weiß es nicht, Chef. Ich rufe sie sofort an.

Während sie redeten, kamen Firdevs und Eray herein. Firdevs merkte, dass es etwas Neues gab, und ging sofort dazwischen.

- Chef, … Was ist passiert?

- Sie haben Cagatay gefunden.

- Ist er tot?

- Nein. Wir denken, dass er am Leben ist. Er kann der Täter sein, den wir suchen. Die Nummer, die Derya an dem Abend angerufen hat, ist seine. Warum hast du gefragt, ob er tot ist?

- Ich dachte, dass er inzwischen gestorben sein könnte. Er ist nicht unser Täter.

Eray, Ilhan und Selcuk sahen Firdevs an und warteten, was sie noch zu sagen hatte. Wie konnte sie sich ihrer Sache so sicher sein. Selcuk hatte volles Vertrauen in Firdevs, schließlich arbeiteten sie schon eine lange Zeit zusammen und er wusste, was sie konnte. Wenn sie sagte, der Mann sei nicht der mögliche Täter, dann wusste sie bestimmt etwas. Aber Eray war neu in dem Geschäft und er erlag seiner Neugier.

 

- Wie können Sie sich Ihrer Sache so sicher sein? War nicht Cagatay derjenige, der das Mädchen bedroht hat?

Firdevs schwieg beharrlich weiter. Sie guckte nur mit leerem Blick an die Wand. Danach ging sie aus dem Zimmer und schritt auf dem Flur hin und her.

- Schicken Sie die Spurensicherung und einen Krankenwagen zu Cagatays Adresse. Fahren wir auch sofort dorthin.

Selcuk schaute zu Eray und Ilhan.

- Sie haben gehört, was sie gesagt hat.

Er stand auf.

*

Als sie zu Cagatays Haus kamen, war das Team bereits vor Ort. Die Polizisten hatten mit gezogenen Waffen an der Tür geklingelt, aber niemand hatte geöffnet. Daraufhin hatten sie die Tür aufgebrochen. Als der Polizist, der zuerst hineingegangen war, festgestellt hatte, dass es eine Leiche gab, folgten sofort Selcuk, Firdevs und Eray. Eray war geschockt. Firdevs guckte verwundert. Selcuk legte Firdevs eine Hand auf die Schulter, als er bemerkte, dass die Leiche, die auf dem Boden lag, Cagatay war.

- Du bist eine großartige Polizistin.

Er drehte sich zu Eray.

- Sag dem Staatsanwalt Bescheid, er soll kommen.

- Zu Befehl, Chef.

Eray schickte dem Staatsanwalt die Nachricht, dass er kommen möge. Firdevs begann die Leiche und das Haus zu untersuchen. Zuerst beugte sie sich über den Toten und schnupperte. Wieder das gleiche Parfüm. „Wie machst du das?“, sinnierte sie vor sich hin. Der Tote lag mit dem Gesicht nach unten. Er hatte augenscheinlich keine äußeren Verletzungen. Als Firdevs ihn zu sich drehen wollte, um sein Gesicht zu sehen, glaubte sie auf einmal das Gesicht ihres Ex-Mannes vor sich zu haben. Reflexartig ließ sie den Kopf des Toten los und warf sich zurück.

Eray rannte sofort zu ihr.

- Ist etwas passiert?, fragte er.

Firdevs nahm sich zusammen und stand auf.

- Es ist nichts passiert. Mir wurde auf einmal schwindelig.

Sagte sie und Eray fragte nicht weiter nach. Aber ihre Hände zitterten. Sie spürte, dass sie sich von den Rachegefühlen, die immer noch in ihr steckten, nicht befreien konnte. Auch Selcuk kam zu ihr und fragte, ob es ihr gut gehe.

- Keine Sorge, mir geht es gut, Chef. In den letzten Tagen erlebe ich solche Sachen manchmal. Es sind vorübergehende Geschichten. Es gibt kein Problem. Ich muss weitermachen mit der Untersuchung.

Sie drehte sich zu Eray.

- Sie sollten ebenfalls bei der Untersuchung mitmachen. Dann finden wir schneller heraus, was nun zu tun ist.

- Okay, Chefin.

Firdevs und Eray machten weiter. Firdevs kümmerte sich um die Eingangstür. Die Tür war von innen verschlossen. Aber wie konnte so etwas geschehen? Als sie darüber nachdachte, war sie schon in der Küche. In der Küche lag eine Pizzaschachtel auf dem Tisch. Als sie die Schachtel öffnete, sah sie, dass ein Teil der Pizza gegessen worden war. Sofort rief sie Eray.

- Was haben Sie gefunden, Chefin?

- Eray, nehmen Sie diese Pizzaschachtel als Beweisstück. Die Kollegen sollen sie untersuchen. Wahrscheinlich werden sie Gift in der Pizza finden.

- Sagten Sie, dass er vergiftet wurde?

- Hier ist nicht eingebrochen worden und die Tür ist von innen abgeschlossen. Außerdem sind die Fenster zu und wir sind im sechsten Stock.

- Ich verstehe, Chefin.

Eray beauftragte die Spurensicherung, den Rest der Pizza zu sichern und zur Untersuchung zu schicken. Wieder hatten sie den Mörder des Mädchens nicht aufgespürt. Ihr Hauptverdächtiger Cagatay hatte sich jetzt in die Reihe derjenigen Leute gestellt, die auf merkwürdige Weise gestorben waren. Eray beobachtete, wie Firdevs wieder auf einen Punkt in der Ferne starrte. Selcuk schaute abwartend zu Firdevs. Eray hielt das Schweigen nicht mehr aus.

- Was werden wir jetzt tun, Chefin?

- Rufen Sie Esra an. Fragen Sie sie, ob sie Deryas Parfüme inzwischen abgeholt hat.

- Gut, mache ich.

Esra war die zuständige Polizistin in der Zentrale für solche Aufgaben. Eray rief sie also an und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge. Die Parfüme waren abgeholt und auf dem Weg zur Zentrale. Nachdem er das Telefon aufgelegt hatte, drehte er sich zu Firdevs.

- Esra hat die Parfüme abgeholt, aber was wird uns das nützen? Cagatay ist doch tot?

- Mir stellen sich eine Menge Fragen. Wir müssen alle Details auswerten und Punkt für Punkt durchgehen, welche davon als unwichtig auszusortieren sind.

- Dann sollten wir jetzt zur Zentrale fahren. Die Parfüme werden dorthin gebracht.

- Fahrt ihr ohne mich. Ich muss nach Hause, ich bin sehr müde. Ich werde mich etwas ausruhen.

- Gut, Chefin.

Das war typisch für Firdevs’ Arbeitsweise. Sie konnte gleichzeitig unterschiedlichste Entscheidungen treffen. Eray begann sich langsam daran zu gewöhnen. Während Selcuk auf den Staatsanwalt wartete, machte Eray sich auf den Weg zur Zentrale. Firdevs fuhr nach Hause.

Auf dem Weg dorthin bog sie noch auf den Parkplatz eines Supermarktes ein, um etwas einzukaufen. Sie nahm ihr Portemonnaie und stieg aus dem Auto. Die kühle Luft stieg ihr in die Augen, sodass sie leicht zwinkern musste. Als sie den Supermarkt betrat und sich ihre Augen wieder beruhigt hatten, sah sie vorne in einem der Gänge ihren Ex-Mann und Nebahat Hand in Hand. Die beiden hatten Firdevs nicht bemerkt. Sie sahen sehr glücklich aus. Firdevs konnte den Anblick nicht ertragen und glaubte durchzudrehen. Da war er wieder, der schneidende Schmerz des Betrugs. Sie bekam ihn einfach nicht aus ihrer Seele. Firdevs spürte, wie die Welt um sie herum zu schwanken begann. Vorsichtig drehte sie sich wieder zum Ausgang und verließ den Supermarkt.

Als sie ins Auto stieg, brach sie in Tränen aus. Die Aufregung und die Wut schüttelten sie durch. Rachegefühle stiegen in ihr auf. Nachdem sie den Anlasser betätigt hatte, lehnte sie sich im Sitz zurück und schloss die Augen. Wieder flimmerten die Bilder, wie die beiden Hand in Hand durch den Supermarkt liefen und wie sie sich eng umschlungen auf der Couch küssten. Plötzlich überlagerten sich diese Bilder mit der Erinnerung an Deryas Leiche, dann auch an die von Murat und Cagatay. Und in ihrer Nase steckte der Duft des Parfüms, der die Leichen umgeben hatte. Sie nahm einen tiefen Atemzug durch ihre Nase, so, als ob sie das Parfüm tatsächlich riechen könnte. Nun kam ihr der Moment in den Sinn, als sie das erste Mal Deryas Eltern in der Zentrale begegnet war. Sie erinnerte sich, wie Deryas Vater Seref sich auf den Stuhl neben ihr gesetzt und zu weinen begonnen hatte. Und auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Wie hatte ich daran nicht denken können!, sagte sie zu sich. Psychopath!, sagte sie und gab Gas.

Sie entschied sich anders. Sie fuhr nicht nach Hause. Sie fuhr zur Zentrale. Dort angekommen, stellte sie schnell ihr Auto ab, rannte durch die Sicherheitskontrollen und lief hinein. Sie war so in Gedanken, dass sie nicht einmal hörte, wie die Mitarbeiter der Sicherheitskontrollen sie freundlich begrüßten.

Eray realisierte sofort, dass Firdevs wieder etwas eingefallen sein musste, als er sah, wie sie wütend in Richtung ihres Büros gestürmt kam, statt wie angekündigt nach Hause zu fahren. Er empfing sie auf dem Flur.

- Chefin, ist etwas passiert?

- Nein, Eray. Wo sind die Parfüme?

- Ich habe sie in ihr Zimmer bringen lassen.

- Rufen Sie bitte Selcuk und kommt dann beide zu mir.

- Gut.

Als Selcuk und Eray ins Zimmer eintraten, saß Firdevs auf ihrem Ledersessel und schnupperte bereits an den Flakons, die vor ihr standen. Die beiden setzten sich auf die Sessel vor ihrem Schreibtisch. Zuerst guckten sie sich gegenseitig verwundert an, dann schauten sie gespannt zu Firdevs. Firdevs schnupperte weiter an den Fläschchen. Selcuk begann zu fragen.

- Firdevs, welches Parfüm passt zu dem Duft an den Leichen?

- Keins!

- Keins?

- Nein.

Das erstaunte Eray und Selcuk. Eray konnte seine Neugier wieder nicht zügeln und fragte nach.

- Sie waren so wütend, als Sie zurückkamen, deshalb haben wir gedacht, dass Sie etwas Neues herausgefunden haben.

- Ja, ich habe auch etwas gefunden.

- Was haben Sie denn gefunden?

- Den Mörder.

- Über die Parfüme?

- Es war Absicht, die Parfüme sollten nicht passen. Gab es in dem Haus nur diese hier?

- Die Parfüme, die das Mädchen benutzte, waren nur diese. Fünf verschiedene Fläschchen und alle sind halb voll. Ich denke, dass sie jeden Tag ein anderes benutzte.

- Ja. Es ist nicht schwer, das zu verstehen.

Selcuk hatte sein Beine übereinandergeschlagen. Er musste endlich das Geheimnis erfahren. Er beugte sich zum Tisch und fragte Firdevs.

- Firdevs … Kannst du uns nun endlich sagen, wer der Mörder ist?

- Chef … Geben Sie mir noch eine Nacht Zeit. Morgen früh wird dieser Fall erledigt sein.

- Gut!

- Danke.

Selcuk stand auf und ging aus dem Zimmer. Eray wollte auch aufstehen, aber Firdevs hielt ihn zurück.

- Eray!

- Bitte, Chefin?

- Sie hatten die Aussagen von Deryas Eltern und den Freundinnen aufgenommen. Wo sind die schriftlichen Unterlagen?

- Sie sind in Ihrer Schreibtischschublade. In der zweiten.

Firdevs nahm die blaue Plastikakte hervor und legte sie auf den Tisch. Danach drehte sie sich zu Eray.

- Ich möchte, dass Sie mir einen Durchsuchungsbefehl durchboxen.

3. Das Meisterwerk

Die Sonne wich dem Mond und das Tageslicht verschwand zugunsten der Dunkelheit der Nacht. Firdevs hatte im Büro noch einige Nachforschungen angestellt und war danach nach Hause gefahren. Dort hatte sie sich ein wenig ausgeruht und war nun wieder bereit, das Haus zu verlassen. Als sie aus dem Haus ging und auf ihr Auto zusteuerte, das sie am Straßenrand geparkt hatte, sah sie hinter dem Wagen auf dem Asphalt einige feuchte und trockene dunkle Blutflecken.

Ihr erster Gedanke war, dass jemand ein Tier überfahren hatte, und sie stieg ins Auto ein. Als sie die Zündung betätigte, bemerkte sie, dass die Digitalanzeige 22:35 Uhr anzeigte, und sie fuhr los.

Sie erreichte das Haus von Deryas Familie. Sie stoppte das Auto und wartetete eine Weile. Danach stieg sie leise aus. In dem Haus brannte kein Licht. Es war ein zweistöckiges, freistehendes Haus, umgeben von einem Garten. Als sie sicher war, dass niemand zu Hause war, hebelte Firdevs ein Fenster mit dem Gerät, das sie mitgebracht hatte, auf und stieg ins Haus ein. Sie schloss das Fenster wieder hinter sich. Sie wendete sich zum Schlafzimmer. Dort kontrollierte sie die Parfümflaschen. Der Duft, den sie suchte, war nicht dabei. Doch als sie die Schubladen einer Kommode durchsuchte, wurde sie fündig. Sie schnupperte eine Weile den Duft aus dem Fläschchen aus der Kommode, aber musste feststellen, dass auch dieser Duft nicht der gesuchte war. Sie ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf den einzigen Sessel und begann zu warten.

*

Eray war noch nicht nach Hause gegangen. Er hatte sich in die Akten vertieft und recherchierte die Fälle, die Firdevs in der Vergangenheit gelöst hatte. Er versuchte ihr System zu durchschauen. Warum hatte sie einen Durchsuchungsbeschluss für das Haus von Deryas Familie haben wollen? Was konnte der Grund sein? Als er sich in diesen Gedanken zu verstricken drohte, schloss er die Akte, die vor ihm lag, und ging in Firdevs’ Zimmer. Firdevs hatte ihren Computer nicht heruntergefahren. Eray nahm in Firdevs’ Ledersessel Platz und zog die blaue Plastikakte aus der Schublade. Neben den Aussagen der Familie und der beiden Freundinnen hatte Firdevs Randnotizen angebracht. Dort hatte sie unter anderem notiert: „Marke und Modell des Autos und der Reifen von Seref“. Gemeint war offensichtlich das Auto von Deryas Vater. In diesem Moment wurde Eray klar, was das zu bedeuten hatte. Firdevs hatte die Reifenspuren, die am Fundort von Deryas Leiche zu finden waren, mit den Reifenspuren des Wagens ihres Vaters Seref verglichen. Dazu gab es in der Akte einige Bilder von Serefs Auto, aufgenommen von Verkehrsüberwachungskameras. Wann hatte seine Chefin das alles bloß heimlich zusammengetragen?

Eray hatte also das Rätsel gelöst, wieso Firdevs so sicher hatte wissen können, dass Cagatay nicht Deryas Mörder war. Die Beweismittel, die sie gesammelt hatte, hatten nichts mit Cagatay zu tun. Er öffnete die Webseiten, die Firdevs zuletzt besucht hatte. Die allerletzte Seite war die Seite einer Reifenfirma. Sie hatte wohl nach dem Reifenmodell von Serefs Auto gesucht und die Profile mit den Spuren am Tatort abgeglichen. Ganz am Schluss des Textes der Akte stieß er auf eine mit Rotstift hinterlassene Notiz. Dort stand: „Meisterwerk“. Er klappte die Akte zu und rannte aus dem Büro.

 

*

Als Firdevs eine Weile in der Dunkelheit gewartet hatte, leuchtete das Scheinwerferlicht eines Autos in den Raum hinein und sie begann zu lächeln.

Sie kontrollierte die Waffe an ihrem Gürtel und lehnte sich zurück. Seref parkte sein Auto und näherte sich der Haustür. Firdevs hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und die Tür geöffnet wurde. Seref trat ein ohne Licht zu machen.

Er zog seine Schuhe aus und stellte sie unter den Garderobenständer. Danach lief er in Richtung Bad.

Er kam am Wohnzimmer vorbei, ohne Firdevs in ihrem Sessel zu bemerken. Im Bad angekommen, drehte er den Wasserhahn auf. Die Geräusche hörten sich an, als würde er sich Hände und Gesicht waschen. Nach einer Weile wurde das Licht im Bad gelöscht. Mit gemächlichen Schritten ging Seref ins Wohnzimmer. Nachdem er das Licht angeschaltet hatte, sah er plötzlich Firdevs im Sessel sitzen. Erschrocken zuckte er zusammen. Er versuchte nach seiner Waffe zu greifen, aber als er Firdevs erkannte, ließ er seine Hand wieder sinken. Firdevs lächelte ihm aus dem Sessel entgegen, als wäre sie eine Sportlerin, die gerade einen Pokal gewonnen hat.

- Was machen Sie in meinem Haus?

- Wollen Sie nicht Hallo sagen?

- Mit welchem Recht brechen Sie in mein Haus ein?

Firdevs nahm ein Dokument aus ihrer Tasche.

- Mit diesem Durchsuchungsbeschluss.

- Warum?

Firdevs zog ihre Waffe und richtete sie auf Seref.

- Jetzt holen Sie Ihre Waffe vorsichtig heraus und geben Sie sie mir.

- Ich habe keine Waffe.

- Als Sie eben Ihre Hand an Ihren Gürtel gelegt haben, wollten Sie sicherlich nicht Ihren Gürtel zurechtrücken. Ich zähle bis drei.

Als Firdevs zu zählen begann, wurde Seref unruhig.

- Eins … Zwei …

Seref zog vorsichtig seine Waffe hervor, während Firdevs ihre Waffe immer noch auf ihn gerichtet hielt. Seref legte seine Pistole auf den Boden und schob sie zu Firdevs hinüber. Firdevs stand auf, zog aus ihrer Jackentasche ein Paar Lederhandschuhe heraus und streifte sie sich über. Anschließend hob sie die Waffe vom Boden auf und steckte sie in ihren Gürtel. Ihre eigene Waffe hielt sie immer noch in der Hand.

- Setzen Sie sich mal mir gegenüber hin, Seref. Lassen Sie uns ein bisschen reden.

Seref war ziemlich nervös. Er versuchte zu verstehen, was da gerade passierte. Er tat, was Firdevs gesagt hatte, und setzte sich auf den zweiten Sessel. Wieder schaute Firdevs ihn mit diesem merkwürdigen Lächeln an.

- Was ist das Problem?, fragte er ahnungslos.

- Es gibt kein Problem. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Nachdem die Gleichung gelöst wurde, gibt es kein Problem mehr.

- Wie?

- Bitte ziehen Sie Ihre Jacke aus und geben Sie sie mir.

- Warum?

- Ich sagte, geben Sie mir Ihre Jacke.

Seref zog seine Jacke vorsichtig aus und reichte sie Firdevs. Firdevs kontrollierte die Taschen und fand eine kleine Parfümflasche. Sie schnupperte eine Weile, steckte die Parfümflasche wieder zurück in die Jackentasche und legte die Jacke zur Seite.

- Die letzte Unbekannte in der Gleichung war dieses Parfüm.

- Wollen Sie nicht wissen, warum ich das getan habe?

- Nein. Meine erste Frage ist: Wo haben Sie Ihre Frau ermordet? Wahrscheinlich haben Sie das gerade erledigt und kommen von dort.

Seref antwortete nicht. Er senkte den Kopf und schwieg.

- Mein Herr, das, was Sie getan haben, sind wahre Meisterwerke. Sehr feine Arbeiten. Sie können eine Quelle der Inspiration werden.

- Schauen Sie, alles hat seinen Grund.

- Dann los, wenn wir schon dabei sind. Erzählen Sie also.

Seref fing an zu erzählen, seine Augen waren ganz rot.

- Meine Frau hat mich betrogen. Als ich das bemerkte, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich hab ihr nicht gesagt, dass ich Bescheid wusste. Denn ich wollte einen Rachenplan schmieden. Von allem, was sie liebte, liebte sie unsere Tochter Derya am meisten.

Kaum war das Stichwort „Betrügen“ gefallen, begann vor Firdevs innerem Auge wieder der Film zu laufen, wie sie selbst betrogen wurde. Sie kniff ein wenig die Augen zusammen, presste die Hand zur Faust und forderte Seref auf, weiterzuerzählen.

- Ich habe Derya wochenlang verfolgt. Ich habe auswendig gelernt, was sie macht, wohin sie geht. Sie ging jeden Freitagabend in die gleiche Bar. Außerdem wusste ich ja, dass sie Murat mit Cagatay betrogen hatte. Also habe ich Murat aufgesucht, um ihm zu sagen, was los war, und ihm gesagt, er müsse Derya töten. Murat hielt das für einen schlechten Scherz und weigerte sich. Danach habe ich Cagatay ausfindig gemacht. Ich sagte, dass ich Deryas Vater bin, und dann stieg er in mein Auto ein. Ich habe ihm vorgeschlagen, dass wir uns einen Spaß mit Derya machen, und so hat er Derya an dem Abend angerufen. Ich habe ihn aufgefordert, zu ihr solche Sachen zu sagen wie: Du wirst nicht mehr lange leben. Er dachte wirklich, dass wir nur einen Scherz machen, und war glücklich wie ein kleiner Junge, als er diese Sätze sagte, war er wirklich ganz schön betrunken. Nach dem Telefonat habe ich ihn mit Äther betäubt. Danach ging ich zur Bar und holte Derya ab. Derya war erstaunt, als sie Cagatay im Auto sah. Ich sagte, dass er schlafe. Sie glaubte das nicht und war beunruhigt. Ich gab ihr eine Einkaufstüte, zog meine Waffe und forderte sie auf, sich die Tüte über den Kopf zu stülpen. Doch sie weigerte sich und schrie mich an, was das solle. Also habe ich angehalten und Derya ebenfalls mit dem Äther betäubt. Danach habe ich ihr die Tüte um den Hals gelegt und sie gewürgt. Sie starb schon bald, also habe ich die Leiche an dem Ort zurückgelassen. Vorher habe ich sie ordentlich auf den Boden gelegt und zweimal einparfümiert.

Firdevs hörte aufmerksam und mit einer gewissen Faszination zu.

- Dann ist Cagatay aufgewacht. Er dachte, dass ich Derya längst nach Hause gefahren hätte. Er ängstigte sich, warum ich ihn betäubt hatte, aber von dem, was vorher passiert war, wusste er gar nichts mehr. Ich kaufte ihm unterwegs eine Pizza. Ich fuhr ihn nach Hause. Als ich sein Haus verließ, hat er gleich hinter mir die Tür verriegelt. Aber ich wusste ja, dass er die Pizza essen würde. Tags darauf hatte die Polizei meine Frau und mich auf die Wache bestellt. Als wir sie wieder verließen, brachte ich meine Frau nach Hause, fuhr zu Murat und tötete ihn. Die Stricknadel, die ich ihm in den Hinterkopf stieß, liegt in meiner Garage. Sie können sie dort holen.

- Ich gratuliere Ihnen.

- Sie gratulieren mir?

- Ja. Sie haben Ihre Opfer mit einem fabelhaften Plan zur Strecke gebracht. Wo ist die Leiche Ihrer Tochter?

- Es ist nicht wichtig, wo sie ist. Bevor es Morgen wird, wird die Leiche gefunden werden und Sie werden es erfahren.

- Wo ist der Mann, mit dem Ihre Frau Sie betrogen hat?

- Eigentlich war er als Nächster an der Reihe. Ich habe viel darüber nachgedacht, ob ich ihn töten soll oder nicht. Deshalb war er der Letzte in der Reihe. Heute Nacht wollte ich es erledigen.

- Wer ist der Mann?

- Ihr Ex-Mann!

Firdevs war geschockt. Ihre Augen wurden auf einmal ganz groß. Wie war das möglich? Ihr Mann hatte sie mit Nebahat betrogen, und jetzt soll er auch noch mit der Frau von Seref zusammen gewesen sein? Das hieß ja, dass es nicht nur Nebahat gab. Der Fall Derya steuerte plötzlich in eine ganz andere Richtung.

- Sind Sie sich sicher, dass es mein Ex-Mann ist?

- Ich habe Fotos von ihm geschossen. Wenn Sie möchten, kann ich sie Ihnen zeigen.

Sie gingen zusammen ins Schlafzimmer. Vorsichtshalber legte Firdevs ihre Waffe nicht aus der Hand. Seref nahm eine Tasche mit Kennziffer aus dem Schrank heraus. Er öffnete sie, nahm vier Fotos heraus und gab diese Firdevs. Tatsächlich waren auf den Fotos ihr Mann und Serefs Frau zu sehen, sie verließen Hand in Hand ein Hotel. Firdevs nahm die Fotos und steckte sie in ihre Brusttasche. Sie gingen zurück ins Wohnzimmer.

*

Eray notierte sich Serefs Addresse und schnell dorthin. Wenn er der Mörder war, konnte Firdevs in einer brisanten Situation sein. Als er das Haus erreicht hatte, sah er bereits Firdevs Auto am Straßenrand stehen. Er parkte sein Auto dahinter, zog seine Waffe hervor und rannte zum Haus. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Er rief „Polizei“ und ging vorsichtig hinein. Er durchmaß Schritt für Schritt den Flur, ließ dabei überallhin seinen Blick schweifen und erreichte schließlich das Wohnzimmer. Er sah Firdevs im Sessel sitzen. Sofort ließ er seine Waffe sinken und rannte zu ihr hin.