Buch lesen: «Wörterbuch der Soziologie», Seite 10

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Bildung und ethnische Herkunft

Gerade auch in den PISA-Untersuchungen wird immer wieder auf die dramatische Ungleichheit hinsichtlich einer ethnischen Dimension hingewiesen. Auch in diesem Bereich kann man auf einige bahnbrechende Studien in den Vereinigten Staaten hinweisen wie beispielsweise die Untersuchung »Equality of Educational Opportunity«, in der unter der Leitung von James S. Coleman die Ursachen für die dramatischen Unterschiede im Bildungsniveau zwischen farbigen und weißen Schülern im Auftrag des amerikanischen Präsidenten geklärt werden sollen (vgl. Kopp 2009 für eine ausführliche Darstellung). Trotz aller im Nachhinein diskutierbaren methodischen Probleme wurde als wichtigste Ursache die fehlende ethnische Heterogenität der Schulen ausgemacht und durch konkrete sozialpolitische Maßnahmen – das sogenannte busing – in Angriff genommen. Auch in der Bundesrepublik finden sich in der Zwischenzeit erste Ergebnisse, die die Zusammensetzung beziehungsweise die hohe Segregation der Schulklassen als wichtigen Faktor des Bildungserfolges [68]diagnostizieren. Weiterhin wird auf die Bedeutung eines frühzeitigen Spracherwerbs hingewiesen. Gerade in diesen Bereichen besitzt die Bildungsforschung evaluativen Charakter für die verschiedensten schulpolitischen Maßnahmen (vgl. als weiteres Beispiel die Studie von Bowen und Bok (1998) über die Folgen der affirmative action bei der Zulassung zu Colleges und Universitäten in den Vereinigten Staaten).

Aktuelle Entwicklungen der Bildungsforschung

Die Schwierigkeiten der empirischen Bildungsforschung in der Bundesrepublik und die zunehmende Bedeutung von Bildung im Lebensverlauf haben zur Initiierung des Deutschen Bildungspanels (NEPS: National Educational Panel Study) geführt. In dieser Studie werden seit 2009 Längsschnittdaten zu Kompetenzentwicklungen, Bildungsprozessen, Bildungsentscheidungen und Bildungsrenditen in formalen, nicht-formalen und informellen Kontexten über die gesamte Lebensspanne erhoben. Zusammen mit einer zunehmend theoretisch beleuchteten Analyse der Bildungsentscheidungen der verschiedenen Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen des Bildungssystems (vgl. etwa Breen/Goldthorpe 1997) erscheinen hierdurch die bildungssoziologischen Fragen dauerhaft gut beantwortbar.

Literatur

Adorno, Theodor W., 1969: Stichworte, Frankfurt a. M. – Becker, Rolf (Hg.), 2009: Lehrbuch der Bildungssoziologie, Wiesbaden. – Berger, Johannes, 2005: »Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen«. Zur Vergangenheit und Gegenwart einer soziologischen Schlüsselfrage; in: Zeitschrift für Soziologie 33, 354–374. – Bowen, William G.; Bok, Derek, 1998: The Shape of the River. Long-Term Consequences of Considering Race in College and University Admissions, Princeton. – Breen, Richard; Goldthorpe, John H., 1997: Explaining Educational Differentials. Towards a Formal Rational Choice Theory; in: Rationality and Society 9, 275–305. – Cortina, Kai S. et al. (Hg.), 2008: Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick, Reinbek. – Fend, Helmut, 1982: Gesamtschule im Vergleich. Bilanz der Ergebnisse des Gesamtschulversuchs, Weinheim/Basel. – Herrlitz, Hans-Georg et al., 1998: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. 2. Aufl., Weinheim/München. – Kopp, Johannes, 2009: Bildungssoziologie, Wiesbaden. – Müller, Walter; Haun, Dietmar, 1994: Bildungsungleichheit im sozialen Wandel; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46, 1–42. – Shavit, Yossi; Blossfeld, Hans-Peter (Hg.), 1993: Persisting Inequality: Changing Educational Stratification in Thirteen Countries, Boulder.

Johannes Kopp

Biographieforschung

Biographieforschung (engl. biographical research) ist eine insbesondere in der Soziologie (Rosenthal 2005; Völter u. a. 2005), aber auch in den Erziehungswissenschaften (Krüger, Marotzki 1999) national und international etablierte Teildisziplin mit einer eigenen genuinen Theoriegrundlage und Methodologie, die in der Bundesrepublik in erster Linie auf dem Sozialkonstruktivismus in der Tradition von Peter L. Berger und Thomas Luckmann und interpretativen Methoden gründet. Zentrales Anliegen der soziologischen BF ist es, der gegenseitigen Konstitution von Individuen und Gesellschaften gerecht zu werden. Lebensgeschichtliche und kollektivgeschichtliche Prozesse werden in ihren »Wechselwirkungen« und unhintergehbaren Verflechtungen empirisch untersucht. Biographie wird also nicht als etwas rein Individuelles oder Subjektives, sondern als ein soziales Konstrukt verstanden, das auf kollektive Regeln, Diskurse und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweist und sowohl in seiner Entwicklung als auch im deutenden Rückblick der AutobiographInnen immer beides zugleich ist: ein individuelles und ein soziales Produkt. Mit einem biographietheoretischen Ansatz sind neben dem von den Biographien und Handlungsgeschichten von Individuen ausgehenden Versuch, diesen »Wechselwirkungen« gerecht zu werden, noch zwei weitere Prämissen verbunden. Zum einen ist es die Forderung danach, Bedeutungen von Erfahrungen nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte zu interpretieren, und zum anderen der Anspruch einer Prozessanalyse, die den historischen Verlauf der Entstehung, Aufrechthaltung und Veränderung von sozialen Phänomenen im Kontext von Lebensverläufen rekonstruiert.

Datenmaterial

Neben meist in biographisch-narrativen Interviews erzählten bzw. präsentierten Lebensgeschichten sind auch niedergeschriebene und veröffentlichte Autobiographien,[69] biographische Thematisierungen in Alltags- oder Organisationskontexten, (familien-) biographische Dokumente (Fotoalben, Tagebücher oder Briefe etc.) und personenbezogene Akten (Lebensläufe in Gerichtsverfahren, Personalakten in Parteien, Anamneseakten etc.) und die Kombination dieser Materialien die Datengrundlage für die Rekonstruktion sozialen Handelns (sowie Erlebens) und sozialer Milieus in ihrer Entstehungsgeschichte.

Ziele

Das Anliegen biographischer Forschung kann in unterschiedliche Ziele differenziert werden. Zum einen geht es um die Analyse des gelebten Lebens bzw. spezifischer Lebensbereiche oder -phasen von bestimmten Personengruppen oder gesellschaftlichen Gruppierungen in bestimmten historischen Zeiträumen (z. B. die klassische Untersuchung von Thomas und Znaniecki zu polnischen Migranten in den USA oder Studien zu bestimmten Jugendszenen). Zum anderen geht es um die Rekonstruktion bestimmter sozialer Settings aus der Perspektive der Handelnden in spezifischen historischen Epochen und soziokulturellen Kontexten (z. B. eine Milieustudie über einen sozialen Brennpunkt in einer Großstadt). Ein weiteres Ziel ist die Analyse biographischer Selbst- und Fremdthematisierungen in sozialen Interaktionen (z. B. biographische Thematisierungen von Klient/innen auf Ämtern). Für die gegenwärtige soziologische Biographieforschung sind weitere wichtige Anliegen die Analyse der biographischen Konstruktionen und der biographischen Selbstpräsentation in der Gegenwart (z. B.: Was sind die Regeln biographischer Selbstthematisierungen von Überlebenden kollektiver Gewalt aus Bosnien oder von ehemaligen Psychiatriepatienten?) und, damit verbunden, die Rekonstruktion der Genese und Transformationen dieser Konstruktionen. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern biographische Thematisierungen in der Vergangenheit in bestimmten Settings (wie z. B. ein Asylverfahren oder auch Gespräche in der Psychiatrie) einen nachhaltigen Einfluss auf die Konstruktionen in der Gegenwart in anderen sozialen Kontexten und Situationen haben. Des Weiteren zielt biographische Forschung auf Konzeptionen für eine biographische Diagnostik sowie biographische Gesprächsführung in diversen Praxisfeldern ab.

Biographisch-narrative Interviews und Biographische Fallrekonstruktionen

Fritz Schütze (1983) entwickelte in den 1970er Jahren die Technik des narrativen Interviews sowie eine Methode der textanalytischen Auswertung erzählter Lebensgeschichten. Die Methoden der narrativen Gesprächsführung wurden seither, insbesondere was die Nachfragetechniken betrifft, weiterentwickelt und in unterschiedlichen Forschungs- sowie Beratungskontexten erprobt (Rosenthal 1995, 186–207). Im Interview werden die Befragten zunächst zur ausführlichen Erzählung ihrer Familien- und Lebensgeschichte oder bestimmter Phasen und Bereiche ihres Lebens aufgefordert, und erst in der zweiten Phase des Gesprächs werden erzählgeneriende Nachfragen gestellt. Neben der von Schütze vorgestellten Text- und Erzählanalyse, bei der die Unterscheidung von Textsorten (Erzählung, Argumentation und Beschreibung) und die Analyse der Funktionen ihrer Verwendung eine wesentliche Rolle spielen, gibt es mittlerweile mehrere Modifikationen und Versuche der Verbindung mit anderen interpretativen Verfahren, insbesondere mit der Objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann, wie sie z. B. von Bruno Hildenbrand, Monika Wohlrab-Sahr oder der Autorin vorgestellt wurden. Gemeinsam ist diesen Verfahren ihr rekonstruktives und sequenzielles Vorgehen. In der von der Autorin vorgestellten Methode biographischer Fallrekonstruktionen (Rosenthal 2005, 137–160, 173–198) ist es entscheidend, zwischen erzählter und erlebter Lebensgeschichte zu differenzieren und den beständigen Wandel von Bedeutungen im Lebensverlauf zu berücksichtigen. Um dies zu ermöglichen, ist es erforderlich, in getrennten Analyseschritten den biographischen Bedeutungen von Erlebnissen in der Vergangenheit und den Bedeutungen von Erinnerung und Präsentation in der Gegenwart nachzugehen. Einerseits wird versucht, die Chronologie der biographischen Erfahrungen im Lebensverlauf und deren Bedeutungen für den Biographen zu rekonstruieren. Andererseits wird die zeitliche Struktur der Lebenserzählung analysiert, d. h. der Frage nachgegangen, in welcher Reihenfolge, in welcher Ausführlichkeit und in welcher Textsorte die Biograph/innen ihre Erfahrungen im Kontext der Textproduktion (in einem Interview oder auch in einem anderen Rahmen, wie z. B. einem Familiengespräch oder einer niedergeschriebenen Biographie) präsentieren. [70]Bei diesem Analyseschritt, der sich auf die aktuelle Präsentation der Lebensgeschichte konzentriert, wird vor allem der Interaktionsverlauf zwischen Befragten und Zuhörern rekonstruiert.

Literatur

Fuchs-Heinritz, Werner, 2000: Biographische Forschung, Opladen. – Krüger, Heinz Hermann; Marotzki, Winfried (Hg.) (1999): Handbuch Biographieforschung, Opladen. – Rosenthal, Gabriele, 1995: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, Frankfurt a. M. – Dies., 2005: Interpretative Sozialforschung, Weinheim/München, Kap. 5.4. Narratives Interview und narrative Gesprächsführung, 137–160; Kap. 6. Biographieforschung und Fallrekonstruktionen, 161–198. – Schütze, Fritz, 1983: Biographieforschung und narratives Interview; in: Neue Praxis 3, 283–293. – Völter, Bettina et al. (Hg.), 2005: Biographieforschung im Diskurs, Wiesbaden.

Gabriele Rosenthal

Boykott

Boykott (engl. boycott) oder »Verrufserklärung« (bzw. Ächtung) bezeichnet primär ein wirtschaftliches und soziales Sanktionsmittel (benannt nach dem gleichnamigen irischen Gutsverwalter, der 1879/80 wegen seiner sozialen Härte allgemein geächtet wurde). Während der Früh- und Hochindustrialisierung diente er als Ersatz oder Ergänzung zu Streik und Aussperrung. So suchten Arbeiter, (zusätzlichen) Druck auf Unternehmer auszuüben durch organisierte Entziehung von Kaufbereitschaft (Warenboykott), z. T. auch durch Unterbindung des gesamten wirtschaftlichen Verkehrs; eine Steigerungsform stellen Blockaden dar, die dies auf direktem Weg, mit physischen Mitteln zu erreichen suchen. Unternehmer bedienten sich »schwarzer Listen«, um die Einstellung unliebsamer Arbeitnehmer (z. B. Agitatoren, Streikführer, Gewerkschaftskader) zu verhindern. Mit dem Ausbau der Gewerkschaften und der Institutionalisierung der Tarifautonomie verlor der Boykott als Mittel des industriellen Konflikts an Bedeutung.

Als politisches Druckmittel ist er weiterhin gebräuchlich (Boykott jüdischer Geschäfte durch die Nationalsozialisten 1933; Boykott südafrikanischer Produkte als Protest gegen die Apartheidpolitik). In neuerer Zeit kam es auch aus ökologischen Motiven zu organisierten Warenboykotts (z. B. gegen den Import von Robbenfellen oder Schildkrötenprodukten). Anwendung findet der Boykott als Störung und Unterbindung des wirtschaftlichen Verkehrs auch in den internationalen Beziehungen: Regierungen benutzen ihn als politisches Mittel gegen feindliche Staaten oder Staatengruppen.

Literatur

Binkert, Gerhard, 1981: Gewerkschaftliche Boykottmaßnahmen im System des Arbeitskampfrechts, Berlin. – Maschke, Richard, 1911: Boykott, Sperre und Aussperrung, Jena. – Schwittau, Georg., 1912: Die Formen des wirtschaftlichen Kampfes, Berlin.

Walther Müller-Jentsch

Bürgertum

Das Bürgertum (engl. bourgeoisie) bezeichnete in den europäischen Ständeordnungen den Dritten Stand. Der Begriff des Bürgers hingegen findet sich bereits in der Antike und verweist auf jene, die im Besitz der Bürgerrechte im Staat sind. Im Frühmittelalter kennzeichnete der Begriff jene, die sich um eine Burg ansiedelten, schließlich im Hochmittelalter die freien Bewohner der Städte, die sich zu einem Schwurverband zusammenschlossen und sich eine von der feudalen Grundherrschaft unabhängige kommunale Verwaltung erkämpft hatten. An der Spitze der Stadtgemeinde stand das Ratspatriziat aus Großkaufleuten und Adeligen, darunter das zünftische Handwerk, während die zunftlosen Gewerbe und das »kleine Volk« oft kein Bürgerrecht besaßen.

Die politische Macht des Bürgertums war im Gegensatz zu seiner wirtschaftlichen Stärke in den absolutistischen Staaten der Neuzeit gering. Es stellte zwar in der herrschaftsständischen Privilegienordnung den Dritten Stand neben Adel und Klerus dar, aber jene dominierten politisch und kulturell. Das Bürgertum orientierte sich am adeligen Lebensstil und strebte nach Adelstiteln. Erst allmählich entwickelte es eigene Lebensweisen und Wertvorstellungen, ein Bewusstsein von »Bürgerlichkeit«, das nach allgemeiner Anerkennung strebte, so dass man im 18. Jh. von der Entstehung einer Zivilgesellschaft bzw. bürgerlichen Gesellschaft sprach, die eine außerpolitische Sphäre des Privaten zwischen Familie und Staat war. In ihr stellten Besitz, Bildung und[71] individuelle Leistung die wesentlichen Werte dar, die überständische Kriterien des sozialen Aufstiegs darstellten.

Die Französische Revolution war eine bürgerliche Revolution, die sich aber aller Schichten bediente und zeitweise eine standeslose Bürgergesellschaft der »citoyens« ins Leben gerufen hatte (Labrousse). Obwohl die ständisch-aristokratische Herrschaftsstruktur das 19. Jh. überdauerte, bestimmten Ideen, Wertvorstellungen und Lebensstile des Bürgertums zunehmend die moderne Kultur und Bildung, ihre Ausrichtung auf Fortschritt und Wissenschaft. Es spaltete sich jedoch in das wohlhabende Besitzbürgertum und das oft von Armut bedrohte Bildungsbürgertum. Die Wirtschaftsbürger bezeichnete Karl Marx als Bourgeoisie und sah sie als die herrschende Klasse des Kapitalismus. Ihre Weltanschauung orientierte sich an Liberalismus und Individualismus, die auch die Kultur des Kapitalismus prägte (Sombart).

Der Begriff des Bürgertums kann, wie Weber meinte, daher in politischem, in ständischem oder in ökonomischem Sinn verstanden werden. Noch heute wird der Begriff »bürgerlich« mitunter zur Bezeichnung ideologischer Anschauungen und ökonomischer Lage eingesetzt.

In der Gegenwart macht sich jedoch auch eine Rückkehr zu einem mehr soziokulturellen Verständnis des Bürgerlichen bemerkbar. Die Existenz eines Bürgertums und sein Verhältnis zum »Mittelstand« sowie die Entstehung einer »neuen Bürgerlichkeit« werden in der Gegenwart diskutiert (Hettling/Ulrich; Budde et al.). Damit verbunden ist die Frage, inwieweit noch von einer bürgerlichen Gesellschaft gesprochen werden kann und in welchem Verhältnis diese zum Begriff einer freien, verantwortlichen und solidarischen »Bürgergesellschaft« (Fürstenberg) im Zeitalter der transnationalen Vernetzung und der globalen Migrationsbewegungen steht.

Literatur

Budde, Gunilla et al. (Hg.), 2010: Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter, Göttingen. – Fürstenberg, Friedrich, 2011: Die Bürgergesellschaft im Strukturwandel, Berlin. – Gall, Lothar, 1889: Bürgertum in Deutschland, Berlin. – Hettling, Manfred; Ulrich, Bernd (Hg.), 2005: Bürgertum nach 1945, Hamburg. – Labrousse, Ernest et al., 1979: Geburt der bürgerlichen Gesellschaft: 1789, Frankfurt. – Mommsen, Wolfgang J., 2000: Bürgerliche Kultur und politische Ordnung, Frankfurt. – Ruppert, Wolfgang, 1983: Bürgerlicher Wandel, Frankfurt. – Schäfer, Michael, 2009: Geschichte des Bürgertums, Köln/Wien/Graz. – Schulz, Andreas, 2005: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München. – Sombart, Werner, 1913: Der Bourgeois, München. – Weber, Max, 1958: Wirtschaftsgeschichte, München, 270 ff.

Gertraude Mikl-Horke

Bürokratie

Begriff

Der Begriff »Bürokratie« (engl. bureaucracy) wird seit dem 18. Jh. in einer polemischen Version vorgetragen; seit dem ausgehenden 19. Jh. koexistiert daneben ein begriffsgeschichtlicher Strang, in dem es um einen versachlichten, soziologischen Gebrauch mit theoretischer Unterlegung geht. Zwischen beiden Bestrebungen kam es jedoch bis in die Gegenwart hinein zu Verwischungen und Überlagerungen, bei denen z. B. der negative Beigeschmack des alltagssprachlichen Bürokratiebegriffs für beabsichtigte, implizite Wertungen nutzbar gemacht wird.

Doch der polemische Sprachgebrauch selbst war nie einheitlich. Im spätabsolutistischen Staat wurde er als Etikett für eine Machtverschiebung – weg von den Ständen, hin zu den zentralisierenden »Bureaus« der Zentralverwaltung – eingeführt, so ursprünglich bei Vincent de Gournay. Die Brechung alter Strukturen und Privilegien durch Zentralisation und Beamtenherrschaft blieb im 19. Jh. ein wichtiger Anstoß für Klagen über Bürokratie – bezeichnenderweise vor allem aus konservativer Sicht, die darin vor allem die Nivellierung durch abstrakt-gleiche staatliche Verfahren kritisierte (Jacoby 1969, 78 ff.). Somit wurden schon früh zumindest drei Varianten der Begriffsverwendung erkennbar: Bürokratie als Bezeichnung einer durch Verwaltung machtausübenden Kaste, als eine bestimmte Verfasstheit des Staatswesens und als die Spezifik der Verfahren und der Maßnahmen, die dabei auf die Gesellschaft angewandt werden. Schon dabei treten eigenartige Paradoxien auf: als »bürokratisch« wird ebenso häufig ein Staatshandeln, das träge und schablonenhaft auftritt (»red tape«), wie auch ein interventionistisches und bevormundendes Agieren gegenüber den Untertanen kritisiert. Der gemeinsame Nenner ist hier Erstarrung: die Herrschaft der Prozeduren und des am Status quo ansetzenden Eigensinns der Kompetenzverwalter. Mit diesem Akzent erhielt der polemische [72]Bürokratiebegriff eine besondere Schlagkraft in der Kritik an Systemen des »real existierenden Sozialismus«. Die Herrschaft der Kader, die in Zeiten der revolutionären Umwälzung sich noch auf zukunftsgerichtete und begeisternde Ideologien stütze, wandele sich nach der Machtstabilisierung in eine Herrschaft bürokratischer Funktionäre, die mit revolutionären Lippenbekenntnissen ihre Privilegien und die Erstarrung im Status quo verschleierten (vgl. Hegedüs 1981, 86 f.). Diese Kritik bewegte sich in der Kontinuität der Parteiensoziologie Robert Michels: Dieser beobachtete an der Sozialdemokratie im wilhelminischen Deutschland Verselbstständigungstendenzen der Funktionsträger bis hinab zur Ortsebene, für die sich die Routine der Amtswaltung und der kleinlichen Kompetenzwahrung vor die deklarierten, umwälzenden Ziele schiebt. Über dieser bürokratischen Verkrustung erhebt sich dann die Darstellungspolitik der akademischen Führungseliten. Nachrevolutionäre, sozialistische Systeme schließen jedoch in noch einer anderen Weise an die Widersprüche der alten Bewegungspolitik an. Subalternfunktionäre ebenso wie abgehobene Spitzenkader benötigen nämlich weiterhin den Anschein der ideengeleiteten Massenmobilisierung als Rechtfertigungsmuster. Darum etablieren sich regelmäßig aktivierende Massenorganisationen, die Pseudo-Partizipation bei erzwungener Mitgliedschaft betreiben und Aktivitäten zugunsten von Kultur, Infrastruktur oder Zivilschutz usw. kanalisieren. Solche Organisationen sind keine Anfechtung für die Kader und Eliten, sondern schaffen ihnen eine zusätzliche, ideologisch verbrämte Bestätigung (Kasza 1995, 26 ff.).

Bürokratie bei M. Weber

Diese Dialektik von Wandel und Beharrung ist mit dem wichtigsten Versuch, den Bürokratiebegriff der polemischen Verwendung zu entkleiden, gut beschreibbar. Max Weber hat die Umsetzungsleistung eines bürokratischen Verwaltungsstabs als wesensmäßig dem Idealtypus einer legalen Herrschaftspraxis und -legitimation zugeordnet. Gehorsam wird hier inhaltsunabhängig für Befehle geleistet, weil diese aus allgemeinen Regeln abgeleitet sind, denen sich auch die Befehlenden fügen. Die Prinzipien der Bürokratie – z. B. Einsetzung nach Fachqualifikation, Trennung von den Amtsmitteln, Aktenkundigkeit, vorstrukturierte Arbeitsteiligkeit, hierarchische Gehorsams- und Rechenschaftspflicht – unterbinden alles, was von der administrativen Regelorientierung ablenken könnte. Solche Apparate handeln nach abstrakten Gleichheitsgrundsätzen, sie negieren alte (ständische) Besonderheiten ebenso, wie dies Märkte und moderne Staatsverfassungen tun. Hier markierte Weber den »rationalen« Zug der Bürokratie: sie füge sich in eine neuzeitliche Weltordnung, die natürliche und gesellschaftliche Verhältnisse gesetzesförmig zu durchschauen und beherrschbar zu machen trachte. Außerdem sei der bürokratische Verwaltungsstab in seiner »neutralen« Instrumentalisierbarkeit bestens dafür geeignet, einheitlichen Willen auf große Organisationen, bis hinauf zum Nationalstaat, auszuüben. Damit aber macht sich der Apparat tendenziell unentbehrlich. Wegen des in der Bürokratie akkumulierten Fach- und Dienstwissens sah auch Weber die Gefahr, dass sich Diener in Herrscher verwandeln, dass dadurch selbst politische Umwälzungen nur einen Austausch des Spitzenpersonals brächten. Zudem war der bürokratische Arbeitsmodus für ihn kein Privileg des Staates, sondern charakterisiere alle hochorganisierten Zusammenhänge in Wirtschaft und Gesellschaft (was wiederum einen Ausstieg aus dem ineinander verzahnten Arbeits- und Herrschaftsmechanismus erschwere!).

Damit ist es auch mit Webers Kategorien möglich, Bürokratie als Grundlage organisatorischer Fehlentwicklungen zu bestimmen. Er selbst hat dies in eher zeitbezogenen Schriften getan, als er die Selbstrekrutierung der politischen Führung aus den Verwaltungsstäben heraus als Ursache für Kreativitätsverlust und Kastenwesen (z. B. im Wilhelminischen Reich) kritisierte.

Die Weber-Rezeption in der angelsächsischen Organisationssoziologie ab ca. 1930 übersah diesen Aspekt und missverstand das Rationalitätspostulat. Wollte Weber damit die Einordnung bürokratischer Elemente in den neuzeitlichen Rationalisierungsprozess verdeutlichen, so deuteten seine Kritiker »Rationalität« in die behauptete Leistungsfähigkeit dieser Elemente bei der Erfüllung einzelorganisatorischer Aufgaben um. Trotz ihrer Schieflage hat diese Kritik eine wichtige, empirisch fundierte Sicht auf Organisationen begründet (Morgan 1990, 63 ff.). Kernaussagen waren z. B. jeweils

 ddass Steuerung durch strikte Regeln und Hierar chien nur in standardisierten, wiederkehrenden Aufgabenstellungen Erfolg garantiere;

 [73]ddass gerade bei der Integration von professionel len Kompetenzen die Fixierung auf die offizielle, positionale Autoritätsstruktur zu starr sei;

 ddass Organisationen von komplexeren Zielstrukturen angeleitet würden als nur durch die autoritativen Festlegungen seitens der Spitze;

 ddass erfolgreiche, anpassungsfähige Verwaltungsführung Freiräume und eigenständige Umweltbeziehungen der nachgeordneten und dezentralen Einheiten zulassen müsse.

»Weberanische« Bürokratie wurde für diesen Argumentationsstrang zum Typus einer überformalisieren, überzentralisierten und überroutinisierten Organisationsgestaltung; sie wurde somit implizit in die Nähe einer tayloristischen Arbeitsgestaltung gerückt, in der menschliche Spielräume als zu tilgende Störfaktoren erscheinen. In politologischer Kritik erschien der Typ als Korrelat einer Verwaltungskontrolle, die allein auf Gesetzeseinhaltung poche und ein repräsentativ-zentralistisches Demokratieverständnis pflege.

Weitere Ansätze

In noch stärkerem Maße machte sich eine andere Theorievariante den negativen, alltagssprachlichen Klang des Bürokratiebegriffs zunutze. Es handelt sich dabei um Argumentationen auf der Grundlage von »public choice«-Prämissen, die Bürokratie als Kernform des nicht-marktlichen Entscheidens bestimmen. Diese Zuordnung impliziert, dass solches Entscheiden regelmäßig zu Fehlallokation und Überproduktion öffentlicher Güter neigend beschrieben wird, da ihr die Gegenmacht von unverfälschten Konsumentenwünschen und Preisbildung fehle.

Konkurrenz, wenn sie denn stattfindet, ist die der »Bureaus«, um die Anteile des öffentlichen Haushalts, mit denen günstige Beziehungen zu den fachspezifischen Umweltinteressen hergestellt werden, die selbst wieder (z. B. durch Lobbyismus) Vorteile suchen, für die die Allgemeinheit aufkommen muss. Kritik an Bürokratie meint in dieser Denkrichtung etwas Allgemeineres: nämlich die Verteilung von Vorteilen an Nutznießer, die ebenso wenig wie die Verteiler für die Kosten äquivalent aufkommen müssen (vgl. z. B. Mitchell/Simmons 1994). Nicht zufällig erlangte diese Sicht politische Popularität, als Wohlfahrtsstaaten und Umverteilungspolitiken über das demokratische Mehrheitsprinzip ab ca. 1980 von konservativen/libertären Bestrebungen geächtet wurden. Ausdruck dieser Ideologie waren Verwaltungsreformbestrebungen, die staatliche Leistungen privatisierten und staatliche Einrichtungen inneren oder äußeren Wettbewerbsanforderungen aussetzten (Suleiman 2003, 51 ff.).

Bürokratie wird ökonomisch als Produktivitätsverlust für den Auftraggeber »Steuerzahler« in seiner Gesamtheit verbucht; Therapie kann für diese Optik in spezifischeren, dezentralen Käuferbeziehungen gegenüber einzelnen öffentlichen Gütern bestehen: durch Privatisierung, Verpreisung usw. Die Interessen des Gesamtsteuerzahlers können aber auch zentral gegen den Eigensinn der Bürokratie und ihrer Klientenbeziehungen geltend gemacht werden. Dies ist das Thema der »principal-agent«-Fragestellung, die ebenfalls meist in Kategorien der »public choice«-Ansätze erörtert wird.

Der Ansatz hat seinen Ursprung in der Versicherungswirtschaft und beschreibt Vertragsbeziehungen mit riskanten Partnern. Der Prinzipal »Parlament« delegiert z. B. die Ausfüllung von Gesetzesinhalten an semi-autonome Behörden, ohne deren Agieren im Politikfeld hinreichend kalkulieren zu können. Die Stimulierung von rationalen Verhaltensanreizen oder von korrigierenden Einwirkungsmöglichkeiten ausgewählter Interessenten (»stakeholder«) kann die Delegationsrisiken mindern.

Eine solche Minderung kann aber auch durch die altfränkische, hierarchische Einwirkungsform »Bürokratie« zustande kommen, die in einem neuen, sozialwissenschaftlichen Modenumschwung wieder respektvollere Bewertung erfährt (Olsen 2008). Regeln werden nicht nur als Einschränkungen, sondern auch als Entlastung eingestuft, da sie von ständigen Neuaushandlungen der Entscheidungskontexte befreien und die Akteure überhaupt erst entscheidungsfähig in ihren zugewiesenen Kompetenzen machen. Im Gegensatz dazu erscheint die horizontale und dezentrale Aushandlung in »Netzwerken« als eine, die häufig Privilegien, Verstetigung und Intransparenz erzeugt. Auch im organisierten Innenverhältnis wird die Steuerung durch Hierarchie- und Regelbindung inzwischen wieder milder gesehen, da sie bestimmten Persönlichkeitstypen und Arbeitssituationen angemessen erscheint und einen Sockel der routinehaften Erledigung schafft, auf dem anspruchsvollere Aufgabenzuweisung aufbauen kann (Bobic/Davis 2003). Bürokratie [74]im Weber’schen Sinne bleibt also ein anregendes Studienobjekt, an dem auch die Abkehr von ihr interpretativ zu bewerten ist.

Literatur

Bobic, Michael P.; Davis, William E., 2003: A Kind Word for Theory X: Or Why So Many Newfangled Management Techniques Quickly Fail; in: Journal of Public Administration Research and Theory 13, 239–264. – Bozeman, Barry, 2000: Bureaucracy and Red Tape, Upper Saddle River, N. J. – Derlien, Hans-Ulrich et al., 2011: Bürokratietheorie. Einführung in eine Theorie der Verwaltung, Wiesbaden. – Hegedüs, András, 1981: Sozialismus und Bürokratie, Reinbek bei Hamburg. – Jacoby, Henry, 1969: Die Bürokratisierung der Welt. Ein Beitrag zur Problemgeschichte, Neuwied/Berlin. – Kasza, Gregory J., 1995: The Conscription Society. Administered Mass Organizations, New Haven/London. – Mitchell, William C.; Simmons, Randy T., 1994: Beyond Politics. Markets, Welfare and the Failure of Bureaucracy, Boulder/San Francisco/Oxford. – Morgan, Glenn, 1990: Organizations in Society, Houndsmills/London. – Olsen, Johan P., 2008: The Ups and Downs of Bureaucratic Organization; in: Annual Review of Political Science 11, 13–37. – Suleiman, Ezra, 2003: Dismantling Democratic States, Princeton/Oxford. – Weber, Max, 1980: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl. 1972, Studienausgabe, Tübingen (1921).

Rainer Prätorius

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