Buch lesen: «Religionsunterricht», Seite 3

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Holger Zaborowski

Weil’s einen Unterschied macht

Zu den Potenzialen des konfessionellen Religionsunterrichts

♦ Als Ort, an dem Fragen nach Gott und dem Menschen, nach Transzendenz, nach der Rechtfertigung von Glauben und Unglauben, aber auch nach menschlicher Verantwortung reflektiert gestellt werden, sei der konfessionelle Religionsunterricht für den gebildeten Menschen, auch für jenen, der sich eben nicht als persönlich gläubig bekennt, unverzichtbar. Gerade angesichts fehlender Reputation und eines steigenden Rechtfertigungsdrucks innerhalb unserer post-säkularen, zunehmend auch anti-religiösen modernen Gesellschaft zeigt der Autor, welch hohe Bildungschancen in ihm stecken, ohne diesen funktionalistisch zu verkürzen. (Redaktion)

1 Religionsunterricht, Bildung und Berufung

Als ich gebeten wurde, einige Gedanken über den Religionsunterricht zu verfassen, habe ich zunächst gezögert. Mein eigener – übrigens sehr guter – Religionsunterricht liegt fast drei Jahrzehnte zurück. Ich bin kein Religionspädagoge und überblicke auch die neuesten theoretischen Konzepte zum Religionsunterricht in ihrer Vielfalt nicht – ganz zu schweigen von vielen Aspekten der gegenwärtigen Praxis.1 Doch habe ich recht schnell die Entscheidung getroffen, einige Gedanken zum Religionsunterricht, zu seiner Bedeutung, seinen Herausforderungen, seiner Krise und auch seinen Potenzialen zu formulieren.

Die Gründe für meine Entscheidung sind nicht schwer zu benennen. Zum einen beschäftigt mich seit langem die Frage, was einen gebildeten Menschen ausmacht, welche Aufgabe der Schule (und auch der Universität) im Prozess der Bildung zukommt und welche Rolle dabei die Religion und die religiöse Erziehung spielen. Anders als post- oder sogar anti-religiöse Tendenzen nahelegen, kann man nämlich von Bildung nicht sprechen, ohne dabei auch auf Religion und den religiösen Glauben einzugehen. Alles andere wäre Ignoranz. Man muss nicht selbst religiös musikalisch sein, um die geschichtliche und die bleibende Bedeutung von Religion auf der individuellen, gesellschaftlichen, kulturellen und auch politischen Ebene anerkennen zu können. Bildung und religiöses Bekenntnis schließen sich außerdem nicht aus. Überdies verfolge ich manche Entwicklungen im schulischen Bereich wie auch in der Schul- und Bildungspolitik – wie beispielsweise die verbreitete Vernachlässigung der musischen oder überhaupt der geisteswissenschaftlichen Fächer, die Vorherrschaft einer Orientierung an „Kompetenzen“, die nicht selten auf Kosten der inhaltlichen Dimension des Unterrichts geschieht, der allzu oft arg hemdsärmelige Pragmatismus im Schulbereich oder auch der empiristische Reduktionismus, der vielfach eine anthropologisch und auch metaphysisch verankerte Pädagogik ersetzt hat – mit Sorge. Im Schulbereich experimentieren wir zu viel mit oft fragwürdigen Intentionen und Methoden – und suchen dabei das Heil immer wieder in der Technik, so als ob nicht bekannt sei, dass letztlich vielleicht nicht alles, aber fast alles von der Persönlichkeit des Lehrers oder der Lehrerin abhängt. Dies gilt insbesondere, wie sich zeigen wird, für den Religionsunterricht. Hinzu kommt, dass ich selbst Theologie auch mit dem möglichen Ziel, Religionslehrer zu werden, studiert habe. Dass ich heute nicht als Religionslehrer arbeite, hat eine Reihe von Gründen, aber auf keinen Fall den, dass ich nicht als Religionslehrer hätte tätig sein wollen. Ganz im Gegenteil: Ich wäre sehr gerne Religionslehrer geworden, finde diese Tätigkeit äußerst wichtig und auch attraktiv und meine, dass man noch mehr tun könnte, um diese Attraktivität herauszustellen und dadurch junge Menschen für diese „Berufung“ – denn genau darum sollte es sich in inhaltlicher, didaktischer und religiöser Sicht handeln – zu gewinnen. Auch dies erklärt, dass mir der Religionsunterricht ein Anliegen ist.

Ein wichtiger Grund liegt auch darin, dass meiner Überzeugung nach im Religionsunterricht durch die Bildung der Person ein enormes, zudem weit über die einzelnen Schülerinnen und Schüler hinausreichendes Potenzial liegt, das bedauerlicherweise oft nicht ausreichend bewusst ist und daher auch nicht angemessen genutzt oder gestaltet wird. Denn wenn er recht verstanden und durchgeführt wird, wird in ihm etwas erinnert und zur Sprache gebracht, das anderswo längst vergessen, verdrängt oder nur noch in Versatzstücken überliefert wird: Gott. Der Religionsunterricht ist daher als „Stachel im Fleisch“ einer zunehmend gottvergessenen Welt schlicht zu wichtig, als dass man das Nachdenken über ihn den Fachleuten – die ja bekanntermaßen gelegentlich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen – überlassen könnte. Ein Blick von außen kann manchmal helfen – und sei es dadurch, dass er einen Anstoß zu einem weiteren und vertieften Nachdenken bietet. Viel mehr als ein solcher, oft thesenhafter Anstoß ist aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Überlegungen ohnehin nicht möglich. Vielleicht wiederhole ich dabei auch nur, was anderswo besser beschrieben ist, und trage die berühmten Eulen nach Athen. Vielleicht sind auch meine Ausführungen viel zu schön in der Theorie, als dass sie sich angesichts der konkreten Erfordernisse des Faches ins Praktische übersetzen ließen. Im Bewusstsein um diese möglichen Begrenzungen der folgenden Ausführungen, die aus christlicher (und überdies deutscher) Perspektive entwickelt sind, aber aus jüdischer oder islamischer Sicht mutatis mutandis ähnlich formuliert werden könnten, möchte ich mit der Schilderung einiger wichtiger Herausforderungen beginnen, vor denen der Religionsunterricht heute steht.

2 Herausforderungen, Aufgaben und Potenziale

Im Englischen würde man das, was ich zunächst als These aufstellen möchte, einen „truism“ nennen, eine Binsenweisheit, die so wahr ist, dass sie eigentlich gar nicht der Erwähnung bedürfte. Und doch gibt es manche Selbstverständlichkeiten, die gelegentlich wieder in Erinnerung gerufen werden müssen – weil sich, wenn man länger über diese Wahrheiten nachdenkt, dann doch neue Dimensionen oder Gesichtspunkte, die man lange übersehen hat, zeigen. Die These lautet, dass der Religionsunterricht wie kein anderes schulisches Fach in einer besonderen Herausforderung steht. Diese Situation ist nicht neu, doch haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten einige Koordinaten dieser Grundsituation verschoben. Dies hat dazu geführt, dass der konfessionelle Religionsunterricht sich heute in einer zuvor in diesem Ausmaß nicht bekannten Krise befindet.

Die Bezeichnung „konfessioneller Religionsunterricht“ verweist auf die Herausforderung, in der dieses Fach steht: Es handelt sich um ein Unterrichtsfach, das zugleich eine bestimmte konfessionelle, also bekenntnishafte Orientierung hat. Der Religionsunterricht ist eine res mixta. Staat und, im Falle des christlichen Religionsunterrichts, Kirche üben gemeinsam die Aufsicht über dieses Fach aus. Religionslehrerinnen und -lehrer bedürfen daher einer kirchlichen Lehrerlaubnis. Denn sie sind nicht einfach nur staatliche Angestellte oder Beamte, sondern „gesandt“ und beauftragt, im Namen der Kirche das Fach Religion zu unterrichten. In einem weltanschaulich neutralen Staat kann diese Hybridform des Weltlichen und des Kirchlichen, um einmal so vereinfachend zu sprechen, zunächst nach einer Verletzung der gebotenen Neutralität aussehen. Dass dem nicht so ist und der Staat durchaus die Wertevermittlung an Religionsgemeinschaften delegieren kann, ja, dass er, um nicht selbst Werte zu setzen, auf diese Delegation angewiesen bleibt, ist, auch wenn es immer wieder kontrovers diskutiert wird, seit langem anerkannt.2 Und doch erheben sich in jüngerer Vergangenheit zunehmend Stimmen, die diese „Mischung“ allein schon deshalb in Frage stellen, weil wir nicht mehr in einer religiös homogenen, sondern in einer zunehmend multi- und nicht-religiösen Gesellschaft leben. Müssten die Religionsgemeinschaften nicht selbst für die religiöse Bildung ihrer Gläubigen sorgen? Und wäre in der Schule nicht ein ethisch-religionskundliches Fach besser angesiedelt, in dem Schülerinnen und Schüler verschiedener Religionen und Weltanschauungen sich begegnen, einander kennen und wertschätzen lernen und dabei auch Sprachfähigkeit in religiös-weltanschaulichen Fragen erwerben? Diese beiden Fragen sind ist nicht von der Hand zu weisen – nicht zuletzt, weil religiöses Verstehen und interreligiöser Dialog in einer religiös pluralen und zumindest auf wechselseitige Toleranz, wenn nicht sogar Anerkennung angewiesenen Gesellschaft notwendig wie selten zuvor sind.

An die Seite dieser Anfragen von außen treten andere, eher von innen kommende Anfragen. So wird auch in manchen kirchlichen Kreisen die staatliche Aufsicht über den Religionsunterricht bemängelt und einem Katechismusunterricht, der rein in kirchlichen Händen ist, der Vorzug gegeben. Man sollte diese Alternative übrigens nicht so leicht von der Hand weisen, wie es gelegentlich geschieht. Es gibt nämlich für einen solchen in den Gemeinden verankerten Unterricht durchaus didaktisch und inhaltlich beeindruckende Modelle, die vielfach den real existierenden Religionsunterricht in den Schatten stellen. Denn man darf nicht vergessen, dass die faktische Situation des Religionsunterrichts ebenfalls zu Anfragen an dieses Unterrichtsfach führt. Die Reputation des Religionsunterrichtes ist oft nicht sehr gut – und zwar sowohl unter Schülerinnen und Schülern, in den Kollegien wie auch in der Öffentlichkeit. Gewiss, vielfach mag dieser schlechte Ruf auf ungerechtfertigte Vorurteile zurückgehen oder auf einen Vorbehalt gegenüber Religion im Allgemeinen und den Einfluss der Kirche im schulischen und gesellschaftlichen Bereich im Besonderen. Es gibt ausgezeichnete Religionslehrerinnen und -lehrer, die einen anspruchsvollen Unterricht durchführen. Aber es gibt eben auch häufig schlechten Religionsunterricht, in dem zum Beispiel die ihm innewohnende Spannung zwischen Welt und Kirche in die eine oder andere Richtung aufgelöst wird – also der Unterricht zu „(lebens-)weltlich“ und un- oder sogar antikirchlich oder zu „fromm“ und kognitiv anspruchslos ist. Es finden sich zudem nicht selten wenig motivierte Religionslehrerinnen und -lehrer, die nicht aus einer inneren Motivation heraus, sondern eher aus Verlegenheit, weil das universitäre Studium für das Lehramt Religion mittlerweile als einfach gilt oder weil die Einstellungschancen nach dem Studium besonders gut sind, das Fach Religion gewählt haben. Das ist ein wohl bekanntes Geheimnis an theologischen Instituten und Fakultäten.

Die Frage, welche Zukunft der konfessionelle Religionsunterricht angesichts dieser komplexen Situation hat, ist keine rhetorische Frage. Vielleicht muss man viel radikaler über Alternativen nachdenken, um nicht den Irrtümern des Traditionsargumentes – gut scheint zu sein, was man immer so gemacht hat, weil man es immer so gemacht hat – zu erliegen. Könnte es nicht wirklich so sein, dass der schulische konfessionelle Religionsunterricht einer vergangenen Epoche angehört? Dass es geschichtslos wäre, am Modell eines Religionsunterrichts festzuhalten, das religiöse Gemeinsamkeiten in der Schülerschaft voraussetzt, die es kaum noch gibt, statt über andere Bildungsangebote nachzudenken? Zeigt die gegenwärtige Diskussion über den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht nicht auch eine grundsätzliche Verlegenheit über Gegenwart und Zukunft des Religionsunterrichts, die man allzu gerne verdrängt?

3 Differenz, Transzendenz und Freiheit

Im Folgenden möchte ich jedoch keinen Abgesang auf den konfessionellen Religionsunterricht anstimmen. Dafür ist das Potenzial des konfessionellen Religionsunterrichts zu groß. Ganz im Gegenteil möchte ich ein Plädoyer für den Religionsunterricht entwickeln, das dezidiert nicht-funktionalistisch und sogar anti-funktionalistisch vorgeht, das sich also nicht darauf beschränkt, zur Begründung dieses Faches seine verschiedenen gesellschaftlichen, kirchlichen und individuellen Funktionen anzuführen. Zwar erfüllt ganz ohne Zweifel auch dieser Unterricht bestimmte Funktionen: Wissen, ethische Haltungen und auch das, was man „Kompetenzen“ nennen kann, werden im Religionsunterricht vermittelt; die Kirche kann Schülerinnen und Schüler (und auch Eltern) erreichen, die längst nicht mehr am Gemeindeleben teilnehmen; die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler kann in der Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen entwickelt werden. Wenn aber die Rechtfertigung des Religionsunterrichtes funktionalistisch verkürzt wird, kann dieser Unterricht nicht nur wie alles, das auf seine Funktionen reduziert wird, leicht durch Funktionsäquivalente ersetzt werden. Die Schule steht dann auch in der Gefahr, wie es in öffentlichen Debatten und im schulischen Leben allzu oft geschieht, auf eine rein funktionalistisch verstandene Ausbildungsanstalt reduziert zu werden, die den Zwecken, die von außen an sie herangetragen werden, zu folgen hat. Es gibt zwar viele Fächer, in denen diese Logik in Frage gestellt werden kann. Die Lektüre eines Gedichtes oder die Beschäftigung mit wichtigen Persönlichkeiten in der Geschichte wie etwa Sophie Scholl, deren Entscheidungen und deren Handeln nicht auf ihre Funktionen zurückführbar sind, können die Logik des Funktionalismus durchbrechen. Am kraftvollsten geschieht dies aber im Religionsunterricht – und zwar deshalb, weil er eine res mixta, eine nicht nur einer Perspektive folgende „gemischte Sache“ ist.

Denn in diesem Fach kann – von „müssen“ zu sprechen, wäre nicht nur übertrieben, sondern anmaßend – etwas in den schulischen Alltag einbrechen, das den funktionalistischen Tendenzen der Gegenwart, unter denen insbesondere Schülerinnen und Schüler besonders leiden, zuwiderläuft: die Botschaft von einem Gott, der, auch wenn der Glaube an ihn sekundär bestimmte Funktionen erfüllt, primär keine Funktionen erfüllt und zu nichts gut ist, weil er selbst schlechthin gut ist und alles, was ist und zu etwas gut sein kann, aus Güte heraus geschaffen hat.

Wenn im Religionsunterricht dieser Gott zur Sprache kommt, kann die Schule zum Ort einer radikalen Differenzerfahrung werden. Alle anderen Fächer stellen endliche oder – theologisch gesprochen – geschaffene Wirklichkeit in den Vordergrund. Auch diese können zu Differenzerfahrungen führen oder zu Unterbrechungen des Alltags und zur Infragestellung vorherrschender Betrachtungsweisen. Im christlichen Religionsunterricht kann jedoch etwas Radikaleres geschehen, wenn sich in ihm nämlich eine Dimension eröffnet, die allem Endlichen „vorausgeht“ und dieses zugleich übersteigt und erhält. Der Religionsunterricht kann so Transzendenzerfahrungen ermöglichen – zumindest im Denken, d. h. in dem Gedanken, dass, was auch immer ist, aus dem Nichts von einem liebenden und dem Menschen zugewandten Gott geschaffen wurde.

Gehört es nicht zu einem gebildeten Menschen, dass er sich mit diesem Gedanken auseinandersetzt und dabei seine innere Logik und Konsequenzen bedenkt – nicht zuletzt, weil die Kultur, in der sich dieser Mensch vorfindet, zutiefst von dem Glauben an den biblischen Gott geprägt ist und weil man viele Herausforderungen und Konflikte im religiösen und weltanschaulichen Bereich oder im Spannungsfeld von Religion und Politik nicht verstehen kann, ohne eine Ahnung von der Erschütterung – des Menschen, des Alltags, aller vorgegebenen Horizonte – zu haben, die mit dem Glauben an einen Gott, der alles, was ist, ins Sein gerufen hat, verbunden ist? Diese Auseinandersetzung setzt zunächst kein persönliches Bekenntnis auf Seiten der Schülerinnen und Schüler voraus.

Ob man persönlich an Gott glaubt oder nicht, so bleibt dieser Gedanke eine gewaltige Provokation. Doch wo ein Bekenntnis erfolgt, wo also dem Gedanken, dass es einen Gott gibt, der als Schöpfer der Welt gegenübersteht, Wahrheit zugesprochen wird, zeigt sich zugleich eine Quelle von Orientierung und Sinn für das eigene Leben.

Angesichts eines solchen Gottes verliert der Mensch allerdings nicht, wie man zunächst denken könnte, seine Freiheit. Im Gegenteil erfährt der Mensch sich von diesem Gott her als frei. Zum einen, weil Gott den Menschen als ein freies Gegenüber geschaffen und gewollt hat. Gott will keine Geschöpfe, die ihn sklavisch, also unter Zwang verehren, sondern er will mit dem Menschen in einen Dialog treten und mit ihm eine Geschichte, ja, nach biblischem Zeugnis eine Liebesgeschichte anfangen. Zum anderen aber auch deshalb, weil dieser Glaube den Menschen von falschen, ihn versklavenden Idolen und Götzen befreit. Dass gerade an diesen Idolen auch heute, in einer durchrationalisierten und nüchternen Welt kein Mangel ist, ist kein Geheimnis. Denn wo Gott tot ist, glaubt der Mensch zumeist nicht gar nicht; es tritt nämlich anderes, bloß Endliches an die Stelle Gottes und kann den Menschen verstricken und ihm seine Freiheit nehmen – und sei es die Vernunft selbst, die im Rahmen einer „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer) auch zur Unvernunft werden kann. Nun – im Zeitalter des Todes Gottes – verspricht beispielsweise die Wirtschaft Heil und Erlösung – oder die Wissenschaft, die Technik, die Politik, die Macht oder auch das Selbst des Menschen, das sich, um immer göttlicher zu werden, immer weiter optimieren muss.

Im Lichte des christlichen Glaubens an Gott zerbrechen diese Idole, die die Gegenwart bestimmen, die insbesondere auch für junge Menschen belastend und einengend sein können und die ihre Heilsversprechen nie einlösen. Alles, was ist, wird nämlich durch den Gedanken eines Gottes, der als Schöpfer der Welt gegenübersteht, eingeklammert: Wie auch immer es verstanden wird, es ist nie das Ganze, und kein einzelner Teil von ihm, und sei dieser noch so groß und umfassend, kann Quelle eines letzten Sinns sein. Diese Botschaft eines ganz anderen Gottes ist antitotalitär und gerade dadurch auch für einen weltanschaulich neutralen Staat und für eine Gesellschaft, die ansonsten die Gottesfrage marginalisiert, von Bedeutung. Denn Staat und Gesellschaft bedürfen jener Menschen, die der verbreiteten Gefahr einer Absolutsetzung des bloß Endlichen widerstehen, die Einspruch erheben und, wo es notwendig wird, Widerstand leisten, wenn etwas bloß Endliches absolut gesetzt wird und dadurch der Mensch in seiner Freiheit – und auch Würde – beschränkt wird, und in denen die Kraft der Prophetie, die Hoffnung auf nicht nur irdische Gerechtigkeit und eine aus dem Geschenk der Schöpfung sich ergebende Verantwortung für andere Menschen und die Natur lebendig sind.

Der Religionsunterricht garantiert als reflektierte Form der Rechenschaft über den christlichen Glauben genauso wenig wie andere Formen kirchlichen Lebens, dass es solche Menschen gibt. Das zu erwarten, würde bedeuten, dieses Fach wie auch die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schülerinnen und Schüler zu überfordern. Vielleicht müsste man sogar selbstkritisch anerkennen, dass der faktische Religionsunterricht von diesem Ideal oft weit entfernt ist. Aber trotzdem ist es wichtig, mit dem Religionsunterricht einen „Ort“ offen zu halten, an dem sich in der Begegnung mit Gott und der Gottesfrage jene beunruhigende, den alltäglichen Horizont durchbrechende Differenz ereignen kann, auf die gerade die spätmoderne Welt angewiesen bleibt, um der allzu menschlichen Verführung, selber Götter und Idole zu schaffen, entgehen zu können.

4 Sendung, Vorbild und Zeuge

Der Religionsunterricht ist thematisch äußerst facettenreich. Doch steht hinter allen Themen gleichsam wie ein Wasserzeichen die befreiende Botschaft eines liebenden Gottes, welcher der ganz Andere zur Welt ist und sich in dieser Andersheit zugleich radikal auf die Welt eingelassen hat und in der Welt gegenwärtig ist. Diese Botschaft kann, um wirklich befreiend zu sein, keine abstrakte Lehre sein, die von außen als Theorie vorgetragen wird. Die Logik des Funktionalismus wird von einem solchen bloß dozierten Gott nicht durchbrochen. Radikal in Frage gestellt wird sie jedoch dann, wenn sich Gott in einem erfahrenen Sprechen von ihm, das von einem prinzipiellen Bekenntnis zu ihm und von einem Verhältnis mit ihm getragen ist, als der ganz Andere, der auf keinen Begriff gebracht werden kann, als der Fremde, der alle Idole, die Menschen sich machen, in Frage stellt, und als der zugleich ganz Nahe, der im und beim Menschen wohnt und ihn anspricht und herausfordert, zeigt.

Aus diesem Grund ist das persönliche Bekenntnis der Lehrerinnen und Lehrer unverzichtbar. Denn sie sind Zeugen (übrigens sollten sie auch in anderen Fächern „Zeugen“ sein, die persönlich für etwas eintreten und aus eigenen Erfahrungen heraus von etwas sprechen – denn ohne eine Pädagogik der Liebe, Leidenschaft und Begeisterung wäre der Unterricht ein sehr zähes und rein äußerlich-technisches Vermittlungsgeschäft). Sie stehen für etwas ein und können darin Vorbild für die Schülerinnen und Schüler sein, die selbst religiös sind oder von einer religiösen Sehnsucht erfasst sind. In dieser Vorbildlichkeit können sie den Schülerinnen und Schülern helfen, selbst eine religiöse Haltung zu entwickeln und weiterzuentwickeln. Auch hier zeigt sich die Herausforderung der res mixta als Chance und Potenzial.

Zugleich ist die Begegnung mit solchen Lehrerinnen und Lehrern und mit der Gottesfrage auch für Schülerinnen und Schüler wichtig, die selbst nicht religiös sind oder sich als religiös nicht musikalisch verstehen (manchmal entscheiden sich diese ja auch für den konfessionellen Religionsunterricht oder sie begegnen den Religionslehrerinnen und -lehrern in anderen Fächern), und zwar nicht nur als Einübung in die Praxis der Religionsfreiheit – die ihnen gewährt wird und die sie wiederum anderen zusprechen. Denn gerade wer Atheist oder religiös indifferent ist, sollte, um seinen Atheismus oder seine Gleichgültigkeit zu verstehen und so intellektuell redlich und nicht nur aus Mode, geistiger Faulheit oder Protest nicht an Gott zu glauben oder ihm gleichgültig gegenüber zu stehen, sich mit jenem Gott auseinandersetzen, den er leugnet oder dem er mit Desinteresse begegnet, um zu verstehen, an wen er – aus vielleicht sehr guten Gründen – nicht glaubt und was dies bedeutet. Dabei mag er mit einer Sehnsucht nach dem ganz Anderen konfrontiert werden, die ihn dazu führen könnte, die eigenen Überzeugungen kritisch zu hinterfragen. Zumindest aber müsste er in einem Religionsunterricht, der sich auch als inhaltlich anspruchsvolles Fach versteht (was faktisch nicht immer in gleichem Maße garantiert ist), dazu befähigt werden, anzuerkennen, dass der Glaube an Gott nicht unvernünftig oder unplausibel ist. Es sprechen gute Gründe für diesen Glauben, denen man freilich – weil der Glaube ein Freiheitsgeschehen ist – nicht folgen muss.

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241 S. 2 Illustrationen
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9783791761770
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