Naturphilosophie

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2. Rezeption und Weiterentwicklung des Unendlichkeitsdenkens

Die frühe Neuzeit ringt intensiv um die Ausformulierung neuer Kosmologien und Theorien der Natur. Dabei zeigt gerade die Rezeptionsgeschichte des Unendlichen, dass ‚alte‘ Lehren eines geschlossenen Kosmos keinesfalls unilinear durch sog. ‚fortschrittliche‘ Lehren eines offenen Universums überwunden werden. Ganz im Gegenteil bilden traditionelle Vorstellungen vielfach Anknüpfungsmöglichkeiten, durch die alternative Modelle der Kosmologie und des Naturverständnisses zuallererst vermittelbar werden (→ IV.7). Ein Beispiel hierfür bildet die bereits seit der Antike bekannte Frage der möglichen Existenz eines unendlichen extrakosmischen Vakuums, die v.a. auf der Basis einer vertieften Kenntnis traditioneller Texte neu erschlossen und diskutiert wird (vgl. Grant [1981] 2011: 182ff.).

Obgleich Johannes Kepler (1571–1630) seine Auffassung hinsichtlich der Beschaffenheit der Fixsterne im brunianischen Sinn korrigiert und die Fixsterne als Sonnen interpretiert, die aus ihrem Inneren Licht aussenden ([1611] 1941: 302, 305), lehnt er die Möglichkeit eines unendlichen Weltalls mit der Begründung ab, dass das Universum ein beobachtbares Universum bleiben müsse ([1606] 1938: 253).

|21|Um jeden Verdacht eines Pantheismus[8] auszuräumen und die Differenz zwischen der Unendlichkeit Gottes und der Unendlichkeit des Universums zu wahren, unterscheidet René Descartes (1596–1650) zwischen „unendlich“ (lat. infinitum) und „unbegrenzt“ (lat. indefinitum): Unendlich ist allein Gott; unbegrenzt ist, wovon keine Grenzen ausweisbar sind ([1644] 2007: I 27). Freilich erfährt die cartesische Abschwächung des Unendlichen durch die Zeitgenossen und Nachfolger entschiedene Kritik.

Henry More (1614–1687), der bedeutendste Vertreter des sog. Cambridger Platonismus, betont in Auseinandersetzung mit Descartes die Unendlichkeit des Raumes, die in engster Verbindung mit der Unendlichkeit Gottes gesehen wird (vgl. Jacob 1995: 58ff.). Schließlich wird die Theorie des unendlichen homogenen und isotropen Raumes – nicht zuletzt durch den Einfluss der Cambridger Schule – zur Grundlage der klassischen Physik und der Kosmologie Isaac Newtons (1643–1727).

Ausgangspunkt des Unendlichkeitsdenkens bei Baruch de Spinoza (1632–1677) ist die Bestimmung Gottes als die eine, unteilbare sowie aus unendlichen Attributen bestehende Substanz ([1677] 1989: I, prop. 11). Insofern Gott weiter als Ursache seiner selbst und als hervorbringende Kausalität verstanden wird, realisiert er sich und alle Dinge (lat. Deum esse causam sui et omnium rerum) (ebd.: prop. 34, demonstratio). Von hier aus erschließt sich die „hervorbringende/naturende Natur“[9] (lat. natura naturans) als das nur aus sich selbst begreifbare, ewige Wesen Gottes; die „hervorgebrachte/genaturte Natur“ (lat. natura naturata) hingegen ist alles, was aus der Natur Gottes oder einem seiner Attribute mit Notwendigkeit folgt (ebd.: prop. 29, scholium). Damit werden Gott und Natur gleichgesetzt, sodass Spinozas Naturverständnis in einen Pantheismus mündet.

Generell ist der Übergang vom geschlossenen zum offenen Universum durch vielfältige, teilweise konkurrierende methodologische Problemstellungen gekennzeichnet. Erhebliche Abweichungen zeigen sich im mathematischen Umgang mit dem Unendlichen. So leben in der Neuzeit klassische Probleme des Raumkontinuums und Atomismus auf, die sich auf die Interpretation des unendlich Kleinen auswirken. Die Anwendung geometrischer Näherungsmethoden auf Bewegungsabläufe durch Galileo Galilei (1564–1642), die Entwicklung der Indivisibilienmethode durch Bonaventura F. Cavalieri (1598–1647), Gottfried W. Leibniz’ (1646–1716) Differenzial- und Integralkalkül oder Newtons Fluxionsmethode bedeuten neuzeitliche Versuche der Problembewältigung (→ I.3).

Die neuzeitliche Methodendiskussion erschöpft sich allerdings keinesfalls in Überlegungen zur kosmischen oder mathematischen Unendlichkeit. Die systematische Einteilung der Natur in die drei Naturreiche der Tiere, Pflanzen und Mineralien, wie sie etwa von Carl von Linné (1707–1778) durchgeführt wird (→ I.5), zeigt nicht nur ein starkes Interesse an terrestrischen Bedingungen, sondern belegt auch das |22|Weiterwirken der aristotelischen Definitionslehre (→ IV.2). Noch in der von Antoine L. de Lavoisier (1743–1794) entwickelten Reform der chemischen Methodologie und Terminologie (Lavoisier 1789) bleibt die aristotelische Vorstellung einer natürlichen Ordnung der Dinge präsent.

Literatur

Augustinus, Confessiones = Augustinus, Aurelius 2009: Bekenntnisse. Hg.: K. Flasch/B. Mojsisch. Stuttgart.

Bruno, Giordano [1584] 2007a: De la causa, principio et uno. Über die Ursache, das Prinzip und das Eine. Hg.: T. Leinkauf. Hamburg.

– [1584] 2007b: De l’infinito, universo et mondi. Über das Unendliche, das Universum und die Welten. Hg.: A. Bönker-Vallon. Hamburg.

Cusanus, De docta ignorantia = Nicolai de Cusa [1440] 31979 (Bd. I)/21977 (Bd. II): De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit. Hg.: P. Wilpert. Hamburg.

–, Trialogus de possest = Nicolai de Cusa [ca. 1460] 2013: Trialogus de possest. Dreiergespräch über das Können-Ist. Lat.-Dt. Hg.: R. Steiger. Hamburg.

Descartes, René [1644] 2007: Die Prinzipien der Philosophie. Lat.-Dt. Hg.: C. Wohlers. Hamburg.

Grant, Edward [1981] 2011: Much Ado about Nothing. Theories of Space and Vacuum from the Middle Ages to the Scientific Revolution. Cambridge.

– 1996: Planets, Stars and Orbs. The Medieval Cosmos, 1200–1687. Cambridge.

Jacob, Alexander 1995: Henry More’s Manual of Metaphysics. A Translation of the Enchiridium metaphysicum (1679) with an Introduction and Notes by Alexander Jacob. Bd. 1. Hildesheim.

Kepler, Johannes [1606] 1938: Mysterium cosmographicum. De stella nova. Hg.: M. Caspar. München.

– [1611] 1941: Kleinere Schriften. Dioptrice. Hg.: M. Caspar. München.

Lavoisier, Antoine L. [1789] 2008: System der antiphlogistischen Chemie. Hg.: J. Frercks. Frankfurt/M.

Leibniz, Gottfried W. [1710] 21968: Die Theodizee. Hamburg.

– [1714] 21968: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie. Frz.-Dt. Hg.: H. Herring. Hamburg.

Miller, Clyde L. 2017: Cusanus, Nicolaus [Nicolas of Cusa]. In: Zalta, E.N. (Hg.): SEP (Summer 2017 edition). https://plato.stanford.edu/archives/sum2017/entries/cusanus/.

Newton, Isaac [1704] 1983: Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts. Hg.: W. Abendroth. Braunschweig.

– [1687] 1988: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Hg.: E. Dellian. Hamburg.

Spinoza, Benedictus de [1677] 41989: Ethica – Ethik. In: ders.: Opera – Werke. Lat.-Dt., Bd. 2. Hg.: K. Blumenstock. Darmstadt: 84–577.

[Zum Inhalt]

|23|I.2 Natur als Schöpfung

Dirk Evers

Menschen haben seit frühesten Zeiten die sie umgebende Natur beschrieben als ein Gefüge von Lebensbedingungen, denen sie ihre eigene Existenz verdanken und zu denen sie sich ins Verhältnis zu setzen haben (→ III.8). Dies geschah zunächst v.a. im Rahmen von Weltanschauungen und Sinnsystemen, die wir heute als religiös bezeichnen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei mythische Erzählfiguren, aber auch abstraktere religiöse Vorstellungen, die über die Anfänge einer Geschichte von Welt und Menschheit Auskunft geben möchten und im westlichen Kulturkreis unter dem Stichwort der ‚Schöpfung‘ zusammengefasst werden. Westliche Schöpfungsbegriffe setzen im Allgemeinen ein lineares Geschichtsverständnis voraus, während das zyklische Denken östlicher Religionen zwar ebenfalls von Entstehen und Vergehen des Kosmos redet, dieses aber als ewigen Kreislauf ansieht (→ I.1). „Die Kategorie der ‚Schöpfung‘ erweist sich damit vorwiegend als eine westliche Frageperspektive“ (Ahn 1999: 251), auf die wir uns in diesem Kapitel beschränken.

1. Ursprünge im Vorderen Orient

Bereits in den alten Kulturen des Vorderen Orients (Sumerer, Assyrer, Ägypter, Babylonier; vgl. Keel/Schroer 2008) entstehen entsprechende Motive und Erzählungen, die die Welt als Ganze mit ihren biologischen und geophysischen Gegebenheiten, aber auch die vorfindlichen Gesellschaftsstrukturen auf eine Schöpfung durch göttliche Wesen zurückführen. In ihnen sind religiöse Deutung, philosophische Spekulation und naturkundliche Beobachtung noch nicht geschieden, ebenso wie Theogonie (die Erschaffung der Götter selbst bzw. ihre Abstammung voneinander), Kosmogonie (Entstehung der Welt mit ihren Lebensräumen) und Anthropogonie (die Erschaffung des Menschengeschlechts, oft in Form eines ersten Menschenpaares) noch eng miteinander verwoben sind. Auch gehen verschiedene Vorgänge von (Ur-)Zeugung, Hervorbringen und Anordnen von Materie, Kampfmotive sowie Selbstentfaltungs- und Transformationsvorstellungen eine Synthese ein. Dabei steht weniger der Versuch einer genetischen Herleitung im Vordergrund als vielmehr das Interesse an der Verlässlichkeit der Natur, der Einsicht in ihre Grundkräfte und entsprechender praktischer Lebenssicherung. Das zeigt sich an der verbreiteten Verwendung von Schöpfungsmotiven im Hymnus und an der rituellen Verankerung der Schöpfungstexte im Kontext von Geburts- und Hochzeitsriten (vgl. das babylonische Atramḫasīs-Epos) oder des |24|babylonischen Neujahrsfestes (vgl. das Epos Enūma-eliš), in dessen jährlicher Feier die Schöpfermacht des Gottes Marduk vergegenwärtigt wurde. Im Verständnis der Natur als Schöpfung wurde die Bedrohtheit des Menschen und seiner natürlichen Lebensgrundlagen bei gleichzeitiger Erinnerung an die dem Chaos (→ I.1.A) wehrenden schöpferischen Mächte vergegenwärtigt.

 

2. Biblische Traditionen

Die hebräische Bibel nimmt zunächst in hymnischen Texten und später auch in den beiden ausführlicheren Erzählungen zu Beginn des Genesis-Buches vielfältige Motive aus anderen vorderorientalischen Traditionen auf, so die Urgeschichte in Form von „Noch-nicht“-Beschreibungen, den Zusammenhang von Schöpfung und Flut (Babylon), das Chaoskampfmotiv (Ugarit) oder Elemente ägyptischer Weisheit (vgl. Ps 104 mit dem Atons-Hymnus). Vor allem die Menschenschöpfung findet sich schon in alten israelitischen Traditionen, während die Weltschöpfung erst in der Königszeit (seit ca. 1000 v. Chr.; vgl. die biblischen Bücher) an Bedeutung gewinnt und vollends in der Exilszeit (587–539 v. Chr.) theologisch reflektiert wird, als die geschichtlichen Heilstraditionen fraglich geworden sind (vgl. Schmid 2012). In diesem Zusammenhang wird wohl auch das hebräische Verb bara‘ für (er-)schaffen geprägt, das als spezielles Tätigkeitswort für das göttliche Schaffen reserviert ist und keine Materialangabe oder zusätzliche Beschreibung des Schöpfungshergangs mehr benötigt. Hier deutet sich die spätere Konzeption einer creatio ex nihilo, einer Schöpfung aus dem Nichts an, wie sie die christliche Schöpfungstheologie prägen wird: Der Schöpfer steht der Schöpfung als Woher ihres Ursprungs und als Woraufhin ihres Geschaffenseins souverän gegenüber. Er ist kein Werkmeister, der einen vorhandenen Stoff gestaltet, sondern der, der das Nichtseiende ruft, dass es sei (vgl. Röm 4,17). Die israelitischen Schöpfungstraditionen kennen dabei allerdings keinen umfassenden Naturbegriff, der alles Geschaffene begrifflich vom ungeschaffenen Schöpfer zu unterscheiden erlaubte, insofern dem Hebräischen das Äquivalent für das griechische physis (Natur) fehlt. Trotz der Verwendung des griechischen Begriffs ist der Befund im Neuen Testament ähnlich: ‚Physis‘ hat zumeist die Bedeutung von Wesen und kann sich sowohl auf die göttliche wie auf die menschliche Natur beziehen. Natur als Inbegriff der natürlichen Schöpfung im Neuen Testament wird eher mit dem griechischen Terminus ‚kosmos‘ (Ordnung) bezeichnet (s.u.; → I.1.A). Die Welt wird geordnet und nicht als Chaos wahrgenommen, diese Ordnung aber wird nicht als selbstverständlich angesehen, sondern als das absichtsvolle Werk des Schöpfers.

|25|3. Antike und frühe christliche Theologie
3.1 Schöpfung aus dem ‚Nichts‘?

In der Antike lehren v.a. Aristoteles (384–322 v. Chr.) und die sich an ihn anschließende Schule gemäß dem Axiom, dass aus Nichts nichts werden kann, die schon von Heraklit (um 520–um 460 v. Chr.) und Parmenides (um 510–um 450 v. Chr.) vertretene Ewigkeit der Welt, die keinen eigentlichen Schöpfungsakt voraussetzt (→ I.1). Platon (428/427–348/347 v. Chr.) dagegen macht im Timaios einen Werkmeister der Welt (Demiurgen) für die faktische Verfassung des Kosmos verantwortlich, der der ungeschaffenen Materie nach Vorgabe der ewigen Ideen Gestalt verleiht. Doch auch er kennt keine Schöpfung aus dem Nichts. Für die Stoiker ist die Materie ebenfalls ohne Anfang. Zu dem Baumeister der Weltordnung treten bei ihnen keimartige Kräfte der Natur selbst hinzu, die die Vielfalt der Einzelerscheinungen mit hervorbringen. Dennoch ist der Kosmos von einem einheitlichen, göttlichen Grundgesetz durchwirkt, das für die Einheit und Harmonie der Wirklichkeit verantwortlich ist. Dagegen vertreten die Epikureer die schlechthinnige Zufälligkeit der Welt.

Die sich langsam entwickelnde christliche Schöpfungstheologie sucht die biblischen Schöpfungsvorstellungen durch eine intensive Auseinandersetzung mit zeitgenössischen naturphilosophischen und kosmologischen Anschauungen zur Geltung zu bringen (→ I.1). Vor allem gegen die Aristoteliker und die Epikureer sucht man im Platonismus einen Verbündeten, der es erlaubt, die Entstehung der Welt aus einem göttlichen Ursprung zu denken und die Güte der Schöpfung auf die Güte des Schöpfers zurückzuführen. Zudem scheint das platonische Weltbild Lösungsmöglichkeiten für innertheologische Problemstellungen bereitzuhalten. Wenn das Alte Testament vom Urgeist über den Wassern und von der Mitwirkung der himmlischen Weisheit bei der Schöpfung spricht, und das Neue Testament Jesus Christus als Schöpfungsmittler und als Weltvernunft (logos) bezeichnet, so lässt sich dies in Anlehnung an die Vermittlungsfunktion der Ideen bei Platon als Mitwirkung des Logos-Sohnes bei der Weltschöpfung verstehen, so dass Schöpfung und Erlösung zusammengedacht werden können.

Andererseits stellen sich je länger je mehr auch fundamentale Differenzen heraus. Einzelne Versuche einer christlichen Aufnahme des Gedankens einer ewigen Existenz der Materie werden mit Verweis auf das biblische Schöpfungsverständnis abgelehnt. Gegen gnostische Kosmologien, die die materielle Welt zur Gottheit in einen Gegensatz stellen, aber auch gegen neuplatonische Vorstellungen eines Hervorgangs (Emanation) der Welt aus Gott wird spätestens von Irenäus von Lyon (um 135–um 202) betont, dass Gott selbst die Welt voraussetzungslos aus Nichts, d.h. nicht aus etwas ewig Seiendem, erschaffen habe. Das Bekenntnis, Gott habe alles, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt, aus Nichts (ex nihilo) erschaffen, bildet seitdem eine Grundformel christlicher Schöpfungslehre.

|26|3.2 Die Schöpfung als Gottes Buch der Natur

Das Christentum bringt mit dem Gedanken der Natur als Schöpfung aus Nichts auch einen erheblichen Entmythologisierungsschub mit sich, insofern herausgestellt wird, dass die Natur als solche nicht göttlich und nicht religiös zu verehren ist. Der Schöpfer ist der Herr über die Natur, deren Kräfte und Gestalten ihm untergeordnet und von ihm abhängig sind. Zugleich kann die Natur verstanden werden als Ausdruck der Weisheit, Macht und Absicht des Schöpfers. Aurelius Augustinus (354–430) prägt in seiner Auslegung der alttestamentlichen Schöpfungserzählung und in Anknüpfung an Clemens Alexandrinus (um 150–um 215) ein weiteres Motiv christlichen Naturverständnisses, die Sicht der Natur als Buch. Gott ist nicht nur – vermittelt über die Inspiration der Autoren – der Verfasser der heiligen Schrift, sondern auch – durch den Akt der Schöpfung – der Urheber des Buches der Schöpfung (liber creaturae). (Augustinus: Genesis V, 1.1). Das Buch der Schöpfung ist als Abbild und Gleichnis anzusehen, das von sich weg auf seinen Urheber weist. Doch hat das Verstehen des Buches der Natur enge Grenzen, die v.a. in der Begrenztheit des Menschen und seiner Sünde begründet sind. Augustinus stellt denn auch das Buch der Schrift an die erste Stelle und bedient sich nicht der Unabhängigkeit beider Bücher, um etwa im Sinne einer natürlichen Gotteserkenntnis aus den Werken der Natur direkt auf das Wesen Gottes zu schließen. Es gibt für ihn keine authentische, menschliche Gotteserkenntnis aus der Natur, ja im Grunde keine letztlich adäquate Naturerkenntnis, weil diese die rechte Erkenntnis der Geheimnisse des Schöpfers voraussetzen würde. Für ihn folgt deshalb aus der Buchmetapher keine Aufforderung, das Buch der Schöpfung als solches lesen oder gar verstehen zu wollen.

4. Mittelalter

Die mittelalterliche Theologie unterscheidet zwischen natürlichen Wesen, die in ihrer Natur von ihrem Schöpfer geschaffen sind, und Dingen, die von den als Vernunftwesen geschaffenen menschlichen Geschöpfen selbst wieder durch die verschiedenen Künste (artes) hervorgebracht werden. Diese Produkte werden dann nicht als natürlich, sondern als künstlich bezeichnet (non naturale, sed artificiale). Die entscheidende Differenz zwischen natürlichen und künstlichen Wesen wird im natürlichen Strebevermögen der ersteren gesehen. Während geschaffene Naturen von selbst danach streben, ihre Natur zu verwirklichen, sind künstliche Produkte schlicht das, was sie sind, und nicht auf innere, sondern ihnen äußerliche, vom Produzenten auferlegte Zwecke bezogen. Sie unterscheiden sich also nicht nur hinsichtlich ihrer Entstehungsgründe, sondern auch hinsichtlich ihrer Selbstbewegung und ihrer Bestimmung. Von Gott geschaffene natürliche Wesen haben nicht einfach eine geschaffene Natur, sondern sie streben danach, ihre Natur, ihre natürliche Disposition zu verwirklichen, die ihnen von ihrem Schöpfer verliehen wurde. Die natürliche Ordnung der Dinge, der ordo rerum naturalium, wird deshalb verstanden als die Ordnung der Bestimmungen und Strebungen natürlicher Wesen, die bestimmt und strukturiert wird durch die Gesetze, denen Wesen folgen, um ihre Existenz gemäß ihrer Natur zu verwirklichen.

|27|Im 13. Jh. entsteht eine blühende Kommentarlandschaft zu den neu nach Europa gelangten aristotelischen Schriften, v.a. zur Naturphilosophie. Unter den Franziskanern stechen Bonaventura (1221–1274) und Roger Bacon (um 1210–1290), unter den Dominikanern Albertus Magnus (vor 1200–1280) und Thomas von Aquin (1224 / 25–1274) hervor (vgl. Zimmermann 1998). Ein zentrales Thema ist die sog. Artnatur des Menschen. Thomas sieht den Menschen als Gottes Ebenbild an, das von Natur aus auf Gott ausgerichtet ist und seine Erfüllung erst jenseits der Natur findet. Diese Offenheit für den Gottesbezug schließt sittliche Forderungen ein. An dem Übernatürlichen kann der Mensch aber nur durch Gottes Gnade Anteil gewinnen, wenn Gott selbst es als seine Gabe seinen Geschöpfen mitteilt. Diese Gabe ist Gottes Gnade, die den Menschen über die Natur erhebt und so sein auf diese Gnade hin geschaffenes Wesen vollendet. Oder wie Thomas wiederholt feststellt: Die Gnade zerstört nicht die Natur, sondern vervollkommnet sie (z.B. Summa theologiae I, q. 1, a. 8, ad 2). So kann von der natürlichen Ordnung eine übernatürliche Ordnung unterschieden werden, die v.a. Gottes Heilshandeln in Christus und dessen Aneignung durch die Sakramente und im Glauben umfasst.

5. Reformation und frühe Neuzeit
5.1 Natur und Gnade in reformatorischer Perspektive

Die Konzentration reformatorischer Theologie auf das Rechtfertigungsgeschehen und die Auseinandersetzung mit der scholastischen Gnadenlehre führen zu einer ambivalenten Sicht der Natur. Martin Luther (1483–1546) selbst bezeichnet die Natur und Kreatur als Gottes „Larve“, als indirekte und verborgene Präsenz des gnädigen Schöpfergottes, ohne die kein Geschöpf leben oder irgendetwas treiben kann. So kann Luther einerseits die Schöpfung ganz im Sinne einer gnädigen Gabe Gottes verstehen, wenn er im Kleinen Katechismus festhält, dass die Schöpfung „aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit“ (Luther [1530] 1982: 511) den Menschen hervorbringt und erhält. Die Natur ist andererseits als das der göttlichen Gnade sich widersetzende Moment zu bestimmen, insofern der Mensch nicht von sich aus und nicht aus natürlichen Kräften selig werden kann. Eine rein weltlich bleibende Vernunft kann aus rein natürlicher Erkenntnis Gott nicht als den erkennen, der er ist, geschweige denn seiner gewiss werden. Gott ist als Schöpfer in der Natur zugleich verborgen und offenbar, seine offenbare Seite in der Natur aber kann vom sündigen Menschen nur durch Gottes Wort erkannt werden. Direkt aus der Natur abgeleitete Gotteserkenntnis kommt deshalb für die Reformatoren nicht in Betracht. Damit ist das scholastische Stufenmodell einer Zuordnung von Natur und Übernatur ebenso hinfällig wie damit zusammenhängende Unterscheidungen von ‚heilig‘ und ‚profan‘ oder ‚Laien‘ und ‚Klerus‘. Erweist sich in der Perspektive des Glaubens alle Natur als eine Form der gnädigen Zuwendung Gottes, so vermittelt sich die göttliche Gnade in, mit und unter den Gestalten der Natur, ohne auf Wunder und sakramentale Vermittlung angewiesen zu sein, die als ‚übernatürlich‘ anzusehen wären. |28|In der sich im Anschluss an die Reformation ausbildenden protestantischen Schuldogmatik wird von der ursprünglichen Schöpfung (creatio originans) Gottes Begleitung der Schöpfung, seine Vorsehung (providentia) unterschieden, die darin ihren Grund hat, dass Gott „sich nicht untätig zurückgezogen hat von dem von ihm begründeten Werk, sondern jenes durch seine Allmacht bis heute erhält und durch seine Weisheit alles in ihm regiert und moderiert“ (Gerhard [1657] 1864: 17; Übersetzung D. E.). Die zentrale Problemstellung dieser Ausführungen liegt in der Bestimmung des Zusammenwirkens von göttlicher Vorsehung und Freiheit der Geschöpfe.