Naturphilosophie

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|13|3. Physik und Metaphysik: der Umbruch durch Aristoteles

Obwohl das Ziel der Vorsokratiker die vernunftgemäße Begründung eines Kosmos ist, die auf einen erschaffenden Gott oder Mensch verzichten kann, kommt z.B. Parmenides nicht ohne die Idee eines weiblichen Daimon aus, einer Göttin, die die Welt von ihrer Mitte aus beherrscht (vermutlich die Persephone der Orphik, s. Abschn. 1). Xenophanes entwirft eine einzige, höchste Gottheit, die vom Menschen wesentlich verschieden zu denken sei. Erklärbar ist dies vor einem historischen Hintergrund, in dem der Himmel noch voller vermenschlichter (anthropomorpher) Götter ist. Ferner sieht etwa Sokrates das gesellschaftliche Manko, dass einige der empirisch forschenden Vorsokratiker sich zwar der Natur und ihrer Wahrheit widmen (Naturtheorie), aber nicht der Frage nach dem Guten und Schönen im Kosmos. Gesucht ist eine höhere Einheit, die zum Denken einer Welt angesichts der Vielheit ihrer Erscheinungen und Wesenheiten notwendig ist. Aber ist diese Einheit selbst ein Wesen, eine Wesenheit?

Auch die attische Philosophie hat darauf noch keine eindeutige Antwort. Im Timaios lässt Platon einen gottähnlichen Schöpfer in Person eines Handwerkers (dēmiourgós) auftreten, der den sinnlich erfahrbaren Kosmos und den Menschen erschafft. Der Kosmos ist die schönste aller gewordenen Welten, was in ihrem Bildner begründet liegt, der der beste unter den Guten ist – weil er beim Erschaffen auf das Ewige geblickt hat (Timaios 28c5–29b2). Dabei gab er der als schon vorhanden gedachten, aber noch ungeordneten Materie eine Ordnung nach mathematischen Zahlenverhältnissen, die – wie in der Geometrie – sich jeweils als Form (idéa) begründen und als Gestalt (morphḗ) anschauen lassen. Somit gibt es theoretisch zwei Welten, eine der Ideen und eine der sinnlichen Erscheinungen (Zwei-Welten-Theorie), die über Mathematik und Musik miteinander in Verbindung stehen. Wegweisend ist Platons Denken der Welt zwischen Modell und Bild oder Urbild und Abbild. Natur bleibt wie im Mythos bildlich verstehbar. Für die Lebewesen selbst handelt es sich beim Kosmos aber um den „ganze[n] Himmel“ (28b2) und nur „einen Himmel“ (31a/b), d.h. einen gemeinsamen Horizont.

Alternativ zur Referenz auf eine erste einheitsstiftende Gottheit stilisieren sich die frühen Philosophen als Magier mit exklusivem Zugang zum einheitsstiftenden Wissen, wie es von den Pythagoreern und von Empedokles überliefert ist. Er soll seine Lehren von den vier Elementen und der Reinkarnation sogar damit gekrönt haben, dass er sich in den Vulkan Ätna stürzte (DL VIII, 69). Systematisch betrachtet, hat eine auf dem Logos basierende Naturphilosophie auch den Keim ihres Gegenteils, den Schamanismus und Okkultismus, mit hervorgebracht.

Einen fundamentalen Umbruch erfährt die Philosophie und mit ihr die Naturphilosophie durch den Platon-Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.). Nicht nur wendet er sich von der dichterischen Darstellungsform der Philosophie ab; er legt auch das Fundament dafür, dass Welterkenntnis auf Prinzipien beruht und damit der logischen Argumentation und der naturwissenschaftlichen Forschung zugänglich ist. Für Aristoteles gibt es nur eine Welt, und zwar eine, die vom Menschen aus als Welt der Phänomene, ihrer Begriffe und Relationen zu denken ist. Seine Metaphysik eröffnet |14|mit dem Satz: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen“ (980a21). In der Natur liegt generell die Anlage zum Guten.

Aristoteles vollzieht eine Trennung von Physik und Metaphysik, dem im Vergleich zum Empirischen höheren Wissen. Hegel würdigt dies so: „Wir lernen den Gegenstand in seiner Bestimmung und den bestimmten Begriff desselben kennen“ (Hegel [1833] 1986, Bd. 19: 148). Bei Aristoteles ist die Frage nach Prinzipien und bestimmenden Gründen („Definitionen“) eine Frage der Metaphysik oder, wie er sie selbst bezeichnet, der „Ersten Philosophie“. Metaphysische Begriffe sind u.a. ‚Seiendes‘, ‚Eines‘, ‚Element‘, ‚Grenze‘, ‚Natur‘, ‚früher/später‘, ‚notwendig‘ und ‚Teil/Ganzes‘ (vgl. Metaphysik V). Sie unterscheiden sich von den ‚physikalischen‘ Begriffen insofern, als sie die sinnlich-physische Welt zu strukturieren helfen, aber nicht vollständig aus ihr ableitbar sind.

Die Auseinandersetzung mit der Vielgestaltigkeit von Natur und ihrem Begriff (phýsis) nimmt deshalb eine vermittelnde Position ein und durchzieht fast alle Werke des Aristoteles (weiterführend Wiplinger 1971; Dunshirn 2019). Dabei wird die Frage nach Natur, basierend auf den Prinzipien Bewegung und Wandel sowie Möglichkeit und Wirklichkeit immer wieder anders gestellt. Die Antworten fallen entsprechend unterschiedlich aus. Einige Beispiele: In der Vier-Ursachen-Lehre der Physik (II.3) wird Natur in Analogie zum bildnerischen Schaffen eines Künstlers in Material-, Form-, Wirk- und Zweckursache unterteilt. Von Technik ist Natur ursächlich dadurch abgegrenzt, dass sich letztere von selbst bewegt, wohingegen erstere von außen bewegt wird (ebd.: II.1). In der Nikomachischen Ethik (I 1097b10f.) wird die Natur des Menschen als auf staatliche Gemeinschaft ausgerichtet verstanden, der Mensch ist deshalb ein politisches Wesen; im Menschen ist ferner der Keim der Mitmenschlichkeit als Freundschaft bereits von der Natur eingepflanzt (ebd.: VIII 1155a16–21). In Über die Seele (De anima) werden die Naturen der drei Lebensformen Pflanze, Tier und Mensch in einer Seelenhierarchie geordnet (→ IV.2/Abschn. 3). Gemäß den biologischen Schriften sorgt die Natur als teleologische Organisatorin für funktionsgerechte Organe und Artkonstanz, d.h. für eine zweckmäßige Ordnung des Lebenden. Bei ungünstigen Abweichungen – die als Zufälle im Sinne von Nebenursachen ebenfalls möglich sind – kann die Natur aber nach dem Vorbild der Medizin heilend in den Bauplan eingreifen (Kullmann 2014: 178–200), z.B. indem sie die anatomisch ungünstige Lage der menschlichen Luftröhre direkt neben der Speiseröhre durch die Schaffung des Kehlkopfdeckels „heilt“ (De partibus animalium 665a6–9). Die Natur hat demnach als Ganze das Potenzial, ihre einzelnen Naturen nachzubessern. In Über Werden und Vergehen (De generatione et corruptione) geht es nicht mehr um die Natur von etwas (z.B. von Lebewesen oder Staaten), sondern um deren vorgeordnete Prozesse und, wie sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse gemacht werden können – ein Unterfangen, das erst im 20. Jh. von Alfred N. Whitehead mit seiner Prozessphilosophie wieder versucht worden ist (Buchheim in Aristoteles 2011: XVI). Mehrfach betont Aristoteles, dass die Kreisbewegung die primäre Form aller Bewegungen ist, der auch die Natur prozessual folgt. Eingedenk der Vier-Elemente-Lehre des Empedokles schreibt er: „Denn wenn Wasser aus Luft geworden ist und aus Luft Feuer und wiederum aus Feuer Wasser, dann ist, so sagen wir, durch einen Kreis gegangen das Werden, weil es wieder |15|zurückkehrt“ (Aristoteles 2011: II 337a4–7). Das Vergehen oder „Kaputtgehen“ (so Buchheim) der Naturdinge und ihrer Mischungsverhältnisse ist für Aristoteles die wichtigste Bedingung des Werdens von Substanz. Aber von dem, was vergeht, gibt es keine Wissenschaft (Metaphysik VII 1039b20–1040a5). Diese Einsicht ist auch angesichts der heutigen Umweltwissenschaften und ihrer technischen Konzepte zur Rezyklierung (Recycling von Stoffen und Energie, aber z.B. nicht von genetischer Information) noch bedenkenswert (→ III.5).

In Über den Himmel (De caelo) wird die All-Natur auf ihre Größen und Dimensionen, auf ihre ersten und vollkommensten Körper (Planeten/Gestirne) sowie kleinsten und letzten Bestandteile („Elemente“) hin befragt. Sie werden in Relation zur – mittlerweile mathematisch gesicherten – Kugelform der Erde und der sie konzentrisch umgebenden, acht Kristallschalen (von der Mond- und dann der Sonnenschale bis zur achten Schale der Fixsterne) des Kosmos gesetzt. Die Grenze des Wirkens der vier Elemente ist die sublunare Sphäre. Der Kosmos als Weltraum ist damit zweigeteilt (→ IV.7), denn jenseits des Mondes gibt es eine planetarische All-Natur „ohne Organe“ und wirkt der Äther als erste Substanz (prṓtē ousía). Der Äther ist ewig und weder leicht noch schwer; er wird als „fünftes Element“ überliefert (s.o., Abschn. 2). Die Fixsterne, die äußerste Grenze des Kosmos, haben keine eigene Bewegung, sondern werden von der Umdrehung des ganzen Himmels mitgezogen (De caelo II.8).

Mit dem Ziel, die Fülle und Vielgestaltigkeit der Welt systematisch begreifen zu wollen, legt Aristoteles die Basis für eine differenzierte, prinzipienbasierte Wissenschaftslehre und für die seitdem durch separate Problemstellungen markierten Naturwissenschaften Astronomie, Physik, Chemie und Biologie, denen er jeweils eigene Werke widmet. Aus ihnen wird deutlich, dass Aristoteles auch selbst Naturwissenschaft betrieben hat, bevorzugt im Rahmen der Zoologie (Kullmann 2014). Er und sein Schüler Theophrast von Eresos (372/379–288/286 v. Chr.), der sich den Pflanzen widmete, entwerfen eine biologische Systematik. Anders als später die meisten Scholastiker interpretieren werden, ist Aristoteles’ Natur nicht gemäß eines universalen teleologischen Prinzips strukturiert, das nur die Verwirklichung eines Zwecks (télos) ermöglicht und damit determiniert wäre. Vielmehr fordert das aristotelische Telosprinzip die Möglichkeit des Zufalls (Wieland 1992: 256–277), wodurch experimentelle Naturforschung und das Denken von Entwicklung möglich wird. Die aristotelische Natur ist zwar prinzipiell auf das Gute gerichtet, regelgeleitet und zweckgemäß, aber nicht, wie bei Platon, durch einen Schöpfer harmonisch gefügt.

4. Ewige Bewegtheit statt Chaos

Bereits im ersten Buch der Metaphysik (983b7–11) erwähnt Aristoteles kritisch, dass diejenigen, die „zuerst Philosophie betrieben“, d.h. die Vorsokratiker, davon ausgingen, dass der Ursprung allen Seins in einem Urstoff oder Element im Sinne der Materie (hýlē) zu suchen sei. Dies weist er kategorisch zurück, v.a., da man mit Sein und Materie nicht den Wandel (metabolḗ) erklären könne. Der aristotelische Kosmos basiert deshalb auf Bewegung (kínēsis) als oberstem Prinzip. In Folge werden zwei |16|Modalitäten jeglicher Substanz (ousía) unterschieden: dýnamis und enérgeia, das Vermögen (Möglichkeit) und seine Verwirklichung (Wirklichkeit).

 

Namentlich Hesiods Vorstellung vom Chaos kritisiert Aristoteles ausgehend vom tópos, der einen Raumort meint oder genauer: einen Bereich, in dem sich Ort und Raum gegenseitig bedingen (Physik IV 208b27–209a2). Der „natürliche Ort“ eines Körpers, zu dem dieser teleologisch hinstrebt, wird von Aristoteles zwar als trennbar von dessen aktuellem Aufenthaltsort gedacht. Man könne aber keinen Raum denken, in dem nichts ist und der als Weltbehälter den Kosmos aufnehme. Gegen die Atomisten und ihr Konzept der Leere entgegnet er, dass die Leere selbst nicht bewegt werde und auch nichts in ihr bewegt werden könne (vgl. auch Metaphysik I 985b4–19). Damit ist auch eine Kritik an Platons Raumbegriff formuliert. Platon sieht den Raum als ein Drittes zwischen Sein (Welt der Ideen) und Werden (Welt der Wahrnehmung) an, der als „Amme des Werdens“ fungiert, als ein aufnehmender Raum oder platzbietendes Feld (chṓra, von chôros für: Tanzplatz), in und qua dem die Elemente und schließlich die Welt überhaupt erst erschaffen werden können. Platon setzt sich dabei mit dem Chaos auseinander, das als ontologische Problematik auch im Begriff ‚Information‘ noch aufscheint (→ II.8), weil in und gleichzeitig mit und aus etwas formiert wird, ohne angeben zu können, „woraus“ dieses etwas ist. Einerseits gilt: „Seiendes, Raum und Werden waren, bevor noch der Himmel entstand, als in dreifacher Weise“ (Timaios 52d). Dabei handelt es sich um drei Formen der einen Vernunft. Andererseits hat der Raum für Platon eine mediale Funktion zwischen Geistigem und Realem, denn als formloser, aber bewegter Raum ist er selbst formativ. In und mit ihm werden die noch nicht in Maßverhältnissen vorliegenden Vorfahren der vier Elemente vom Demiurgen gerüttelt und geschüttelt und nach Dichte und Schwere zu einem Weltganzen geordnet (ebd.: 52e/53a). Dagegen fragt Aristoteles kritisch, warum Platons „Formen“ und „Zahlen“ nicht an einem Ort sind (Physik IV 209b33–210a2). Denn so haften die platonischen Abbilder den ideell-ewigen Substanzen nur irgendwie an, wohingegen nach Aristoteles (2011) die Substanzen in ihrer Verhältnismäßigkeit (als „Elemente“) selbst werden und vergehen.

Für Aristoteles ist die Welt nicht erschaffen, sondern ewig, und mit ihr die Zeit. Ihn leitet die Ansicht, dass das Verändernde seine Form stets mitbringen muss (Physik III 202a9–12), was gegen das Chaos spricht. Auch der Ort kann nicht allem vorgeordnet sein im Sinne eines „irgendwo“ eines Körpers. Eine Ordnungsstruktur schafft vielmehr die Zeit, die als Zeitlichkeit (früher/später) in die Bewegung fällt, ohne mit ihr identisch zu sein. Die uns über Veränderung phänomenal zugängliche Zeitlichkeit der Zeit ist die Wirklichkeit des Möglichen als solchem (Metaphysik XI 1065b15f.; Physik III 201a9f.). Im Fortgang des dritten Buchs der Physik setzt sich Aristoteles ausführlich mit Anaximanders Apeiron, dem Grenzenlos-Unbestimmbaren, auseinander, das nur der Möglichkeit nach, aber nicht in Wirklichkeit existiere. In diesem Zusammenhang steht auch das aristotelische Konzept der potenziellen Unendlichkeit. Sie ist mengentheoretisch zu denken als dasjenige, zu dem es immer noch ein Äußeres gibt (Physik III 207a1). Ein Unendliches, das als Ganzes vorliegt, gibt es für Aristoteles hingegen nicht (→ I.1.B).

|17|Die Vorstellung, dass es nur einen Himmel, aber unterschiedliche Sphären der Himmelskörper gibt, ist der Hintergrund für Aristoteles’ kosmologische Theorie des „unbewegten Bewegers“ (Metaphysik XII 1071b3ff.), der aus logischen, nicht ontologischen Gründen gesetzt wird. ‚Er‘ befindet sich als oberstes Bewegungsprinzip an der äußersten Grenze des damals bekannten Himmels, d.h. direkt hinter der Sphäre der Fixsterne, und sorgt für die kontinuierliche Kreisbewegung des Kosmos. Der unbewegte Beweger ist ewig und ungeschaffen. Diese aristotelische Annahme und Platons „Weltseele“ in den Nomoi sind die Basis des sog. „kosmologischen Arguments“ als einem Argumenttypus, der die Naturphilosophie und Physik bis in die Gegenwart durchzieht. Darin sind Positionen versammelt, die für und gegen einen hinreichenden Grund für die Annahme von „Welt“ (→ II.3) sowie für eine erste Ursache (lat.: prima causa) des Kosmos argumentieren. Zur Argumentfamilie gehören Fragen nach der Existenz Gottes, der Ewigkeit der Welt, der Notwendigkeit der Schöpfung (→ II.2), der Natur von Raum und Zeit (→ II.4) sowie der Möglichkeit von Unendlichkeit (vgl. Reichenbach 2019).

Am Ende seiner Metaphysik lässt Aristoteles keinen Zweifel daran, welche Einsichten er – und damit auch die philosophische Nachwelt – den Vorsokratikern verdankt, zuvorderst die, dass beim Erklären die Wirklichkeit der Möglichkeit vorausgehen müsse. „Also war nicht eine unendliche Zeit Chaos oder Nacht, sondern immer dasselbige, entweder im Kreislauf oder auf eine andere Weise, sofern die Wirklichkeit dem Vermögen vorausgeht“ (Metaphysik XII 1072a7–9).

Literatur

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Lobenhofer, Stefan 2019: Chaos [deutschsprachige Fassung]. In: Kirchhoff, T. (Hg.): Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online Lexikon Naturphilosophie. Heidelberg, doi: https://doi.org/10.11588/oepn.2019.0.68092.

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Reckermann, Alfons 2011: Den Anfang denken. Bd. 1: Vom Mythos zur Rhetorik. Hamburg.

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Sedley, David 2007: Creationism and its Critics in Antiquity. Berkeley/CA.

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Wiplinger, Fridolin 1971: Physis und Logos. Zum Körperphänomen in seiner Bedeutung für den Ursprung der Metaphysik bei Aristoteles. Freiburg.

[Zum Inhalt]

|19|I.1.B Kosmos und Universum:
Universum, Raum, Unendlichkeit

Angelika Bönker-Vallon

1. Anfänge der Unendlichkeitsspekulationen bei Nicolaus Cusanus und Giordano Bruno

Die mittelalterliche Synthese von Schöpfungslehre und Naturphilosophie (→ II.1, Abschn. 2.2) entlehnt den Naturbegriff von Aristoteles, wobei aber nicht mehr angenommen wird, dass die Naturen der Dinge seit jeher bestehen: Der Schöpfer aller Dinge ist zugleich auch Urheber aller Naturen. Wie bei Aristoteles ist die Welt ein begrenzter Ort, zu dem es kein Außerhalb gibt. Anders als bei Aristoteles ist sie nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich begrenzt. Schon beim spätantiken Aurelius Augustinus (354–430) gilt: Mit dem Himmel hat Gott auch die Zeit erschaffen und er wird sie am Jüngsten Tag aufhören lassen. Wie es kein Außerhalb gibt, gibt es auch kein Zuvor und Danach (vgl. Augustinus, Confessiones XI). Bildlich vorgestellt ist die geschöpflich-endliche Welt ‚umfangen‘ vom unsichtbaren coelum empyreum als dem theologisch angenommenen ‚Wohnort‘ Gottes und seines ‚himmlischen Hofstaats‘, wobei eine kosmologische Notwendigkeit und Funktion des coelum empyreum in Hinblick auf die von Aristoteles entwickelten Vorgaben der Naturphilosophie umstritten ist (vgl. Grant 1996: 374ff.). Jenseits von Raum und Zeit ‚steht‘ zuletzt die Ewigkeit, und die aus der zeitlichen Schöpfung Auserwählten haben an ihr teil. Demgegenüber bringt die Frühe Neuzeit einen Umbruch des Naturverständnisses mit sich, der sich im Übergang von einem geschlossenen Weltbild zu einem offenen und unendlichen Universum artikuliert (→ II.4).

Nicolaus Cusanus (= Nikolaus von Kues, 1401–1464) gilt als einer der frühesten und einflussreichsten Vertreter der neuzeitlichen Einheits- und Unendlichkeitsspekulation. Er unterscheidet zwischen der absoluten unendlichen Einheit Gottes und der kontrakten Einheit bzw. Unendlichkeit des Universums. In Gott sind nach Cusanus’ Lehre alle Gegensätze als schlechthinnige Einheit und absolutes Sein aufgehoben (lat. coincidentia oppositorum) und jede Seinsmöglichkeit ist immer schon Wirklichkeit (De docta ignorantia I 4, §§ 11f.; Trialogus de possest § 9). Das unendliche Universum hingegen umfasst alles, was sein kann, im Modus der Einschränkung, d.h. in der Bestimmung zu einem Etwas. Vor diesem Hintergrund entfaltet der von Cusanus entwickelte, an der Unendlichkeitsspekulation orientierte Begriff der Natur seine Bedeutung. Das unendliche All geht „gleichsam nach der Ordnung der Natur“ (lat. quasi ordine |20|naturae) allem „als das Vollendetste“ (lat. ut perfectissmum) (De docta ignorantia: II 5, § 117) voran, so dass sich die Unendlichkeit des Universums in der jeweiligen kontrahierten Seinsweise der Einzelseienden manifestiert. (Vgl. Miller 2017.)

Giordano Bruno (1548–1600) setzt den cusanischen Ansatz des Einheits- und Unendlichkeitsdenkens konsequent fort. Dabei finden nicht nur das vorsokratische Einheitsdenken und der antike Atomismus Eingang in sein Denken, sondern auch Lehrstücke des Hermetismus[7] und der jüdischen Schöpfungslehre. Von zentraler Bedeutung ist für Bruno die Bekämpfung des Aristotelismus sowie jedes geschlossenen Weltbildes. In radikaler Ausweitung des von Kopernikus gegen den Geozentrismus der Tradition rehabilitierten heliozentrischen Weltbildes versteht Bruno das Universum als durchweg homogenen unendlichen ‚Kugelraum‘, in dem sich unzählig viele feurige und wässrige Weltkörper befinden.

 

Brunos Verständnis von Natur (ital. natura) ist nicht von der Wirkweise der Weltseele (ital. anima del mondo) zu trennen. Die Weltseele erleuchtet nicht nur das Weltall, sondern sie unterweist auch die Natur, die Arten so hervorzubringen, wie sie sein sollen. Die Natur wird somit grundsätzlich zum Ausdruck der grenzenlos produktiven Vernunft der Weltseele, welche alle nur erdenklichen Formen hervorbringt und das gesamte Universum zu einem lebenden Organismus eint. In der Folge entsteht ein ‚animistischer‘ oder ‚vitalistischer‘ Naturbegriff, der wesentliche Züge von Selbstorganisation und Selbsterhaltung (ital. conservazione) aufweist (De la causa, principio et uno 159ff.; De l’infinito, universo et mondi 115).