Naturphilosophie

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4. Der Ignorabimus-Streit

Im August 1872 hält der Berliner Physiologe Emil Du Bois-Reymond (1818–1896) auf der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte eine Rede über die Grenzen des Naturerkennens, die in ihrer nachhaltigen Wirkung als ein Kulminationspunkt in der Auseinandersetzung um den Deutungshorizont der Naturwissenschaften verstanden werden kann. Dem Naturerkennen spricht Du Bois-Reymond zwei inhärente, |71|unüberwindbare Erkenntnisgrenzen zu. Dabei versteht er Naturerkennen als naturwissenschaftliches Erkennen auf Basis der klassischen Mechanik. Seine Kritik gilt dem mit diesem Naturerkennen verbundenen Anspruch auf eine generelle Berechenbarkeit der Welt, die im Laplace’schen Dämon ihren wohl bekanntesten Ausdruck erhält. Das „Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Centralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome“ (Du Bois-Reymond 1872: 2) könne niemals in vollständiger Abgeschlossenheit erfolgen. Die „Weltformel“ (ebd.: 4) setze voraus, dass jegliche Qualität aus „Anordnung und Bewegung“ eines „eigenschaftslosen Substrates“ (ebd.: 5) erklärt werden könne. In Bezug auf Kraft und Materie sowie die Entstehung des Bewusstseins könne das von keinem naturwissenschaftlichen Erkennen geleistet werden. Wir wissen es nicht und wir werden es nie wissen, lautet Du Bois-Reymonds Resümee: „In Bezug auf die Räthsel der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein ‚Ignoramus‘ auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn, trägt ihn dabei das stille Bewusstsein, dass, wo er jetzt nicht weiss, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. In Bezug auf das Räthsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muss er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschliessen: ‚Ignorabimus!‘ “ (ebd.: 33).

Mit dem Bild der Naturwissenschaft als „die Weltbesiegerin unserer Tage“ (ebd.: 1) lässt sich Du Bois-Reymonds Ignorabimus schwerlich vereinen. Die Rezeption ist ebenso furios wie in ihren Einschätzungen divers. Gilt manchen das Ignorabimus als Rückzugsgefecht der Naturwissenschaftler, die sich auf die prinzipiellen Grenzen ihres Deutungshorizontes besinnen, gilt es anderen als Verrat an der Sache der Naturwissenschaften. Wilhelm Ostwald (1853–1932) hält Du Bois-Reymonds Schluss auf das Ignorabimus für so lange unbesiegbar, wie an der atomistisch materialistischen Grundannahme festgehalten werde. Fällt aber die Grundlage der mechanistischen Weltanschauung, „so fällt mit ihr auch das ignorabimus, und die Wissenschaft hat wieder freie Bahn“ (Ostwald 1895: 19f.). Du Bois-Reymond ist selbst überrascht von der Reaktion, scheint ihm seine Aussage der natürlichen Grenzen nichts Neues, sondern eine geradezu „triviale Wahrheit“ (Du Bois-Reymond 1881: 1045) zu sein. Dabei geht es ihm keinesfalls um eine Bescheidung der Naturwissenschaften zugunsten von Philosophie und Theologie, sondern vielmehr um die prinzipielle Trennung der Gegenstände einer möglichen Naturerkenntnis von den Gegenständen einer möglichen, aber sinnlosen metaphysischen Spekulation. Mit der Bestimmung und v.a. Anerkennung der Grenzen des Naturerkennens sollen die Naturwissenschaften endgültig von (noch) vorhandenen Resten naturphilosophischer Ambitionen befreit werden. Der Streit um das ‚Ignorabimus‘ sei im Kern eine Auseinandersetzung um das Verhältnis von Naturwissenschaften und Naturphilosophie, das einer Auflösung harre. Das ‚Ignorabimus‘ sei „förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth[14]“ (ebd.: 1046) geworden.

|72|Literatur

Bayertz, Kurt/Gerhard, Myriam/Jaeschke, Walter (Hg.) 2007a/b/c: Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Der Materialismus-Streit; Bd. 2: Der Darwinismus-Streit; Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit. Hamburg.

– (Hg.) 2012a/b/c: Der Materialismus-Streit [Originaltexte]/ Der Darwinismus-Streit [Originaltexte]/ Der Ignorabimus-Streit [Originaltexte]. Hamburg.

Darwin, Charles 1860: Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn. Stuttgart.

– [1870] 2010: [Letter] To Armand de Quatrefages. 28 May 1870. In: Burkhardt, F. (Hg.): The Correspondence of Charles Darwin, Bd. 18. Cambridge: 141–142.

Du Bois-Reymond, Emil 1872: Über die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig.

– 1881: 8. Juli 1880. Öffentliche Sitzung zur Feier des Leibnizischen Jahrestages. Festrede von E. Du Bois-Reymond [später veröffentlicht unter dem Titel „Die sieben Welträthsel“]. In: Monatsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin: 1045–1072.

Feuerbach, Ludwig 1866: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit vom Standpunkte der Anthropologie. Leipzig.

Frohschammer, Jacob 1855: Menschenseele und Psychologie. Eine Streitschrift gegen Professor Carl Vogt in Genf. München.

Haeckel, Ernst [1868] 41873: Natürliche Schöpfungsgeschichte, Bd. 1. Berlin.

– [1868] 1878: Ueber die Entwickelungstheorie Darwin’s. In: ders. (Hg.): Gesammelte populäre Vorträge aus dem Gebiete der Entwickelungslehre, Bd. 1. Bonn: 1–28.

Hartmann, Eduard v. 1875: Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine kritische Darstellung der organischen Entwickelungstheorie. Berlin.

Heidelberger, Michael 2015: Die Naturalisierung des Transzendentalen in der Sinnesphysiologie von Hermann von Helmholtz. In: Scientia Poetica 19: 205–234.

Henle, Jacob 1876: Anthropologische Vorträge. Erstes Heft. Glauben und Materialismus. Braunschweig.

Lotze, Hermann 1852: Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele. Leipzig.

Mayr, Ernst [1982] 2003: The Growth of Biological Thought. Diversity, Evolution, and Inheritance. Cambridge/MA.

Moleschott, Jakob 1850: Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk. Erlangen.

Ostwald, Wilhelm 1895: Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus. Leipzig.

Schleiden, Matthias J. 1863: Ueber den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, sein Wesen und seine Geschichte. Zur Verständigung für die Gebildeten. Leipzig.

Vogt, Carl 1847: Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände. Zwölfter Brief. Nervenkraft und Seelenthätigkeit. Stuttgart.

Wagner, Rudolph 1854: Menschenschöpfung und Seelensubstanz. Göttingen.

Zittel, Karl 1871: Der Darwinismus und die Religion. In: Jahrbuch des Deutschen Protestanten-Vereins 2: 147–161.

[Zum Inhalt]

|73|I.8 Gegenwärtige Strömungen der Naturphilosophie

Gregor Schiemann

Obwohl die Naturphilosophie gegenwärtig eine eher randständige Position in der Philosophie einnimmt, umfasst sie zahlreiche Strömungen, die teilweise von recht unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Diese Vielfalt geht zum einen auf den nur vage bestimmbaren Begriff zurück, der sich seit jeher auf sich widersprechende Auffassungen von den Methoden und Aufgaben der Naturphilosophie anwenden ließ. Zum anderen ist die heutige Heterogenität des Faches auch Ausdruck einer Umbruchsituation, in der sich das Wissen von der Natur und das Verhältnis des Menschen zur Natur in einem radikalen Wandlungsprozess befinden (→ insb. II.1).

Das hervorstechendste neue Merkmal des Naturwissens ist der wachsende Einfluss des szientistischen Naturalismus, wie er z.T. von den Naturwissenschaften selbst vertreten wird. Ihm zufolge lassen sich alle Phänomene der Welt mit den Mitteln der Naturwissenschaften erfassen und im Prinzip auch erklären (zur Vorgeschichte → I.7/Abschn. 2). In der Konsequenz dieses Ansatzes, der in der Naturphilosophie ebenso leidenschaftliche Anhänger wie entschiedene Gegner hat (→ I.6), liegt eine Revolutionierung derjenigen Weltbilder, die den umfassenden naturwissenschaftlichen Geltungsanspruch bestreiten. Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist durch eine sich beschleunigende Technisierung gekennzeichnet, deren epochale Wirkungen sich in der lebensbedrohenden Umweltproblematik niederschlagen. Man kann heute nicht mehr ausschließen, dass die Biosphäre sich durch die Eingriffe des Menschen auf eine Weise verändert, die für uns letale Folgen hat. Die Gefährdung unserer Umwelt gehört zu den wichtigsten Motivationen für neue Ansätze der praktischen Naturphilosophie, die im gegenwärtigen Spektrum naturphilosophischer Strömungen neben traditionellen Positionen bestehen.

Der nachfolgende Überblick über die heutzutage relevanten Strömungen der Naturphilosophie versteht unter dieser ein Gebiet der Philosophie, dessen Gegenstand die Natur, das Wissen von ihr und das Verhältnis des Menschen zu ihr ist. „Philosophie“ meint hierbei nicht nur akademische, sondern auch nichtakademische Bemühungen um ein begriffliches Verständnis der Welt. Die Trennung zwischen den beiden Typen ist nicht immer unproblematisch, nicht zuletzt wegen ihres Zusammenhangs mit der ebenfalls nicht eindeutigen Unterscheidung von wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Philosophie. Insofern Natur in naturwissenschaftlicher Hinsicht erfasst wird, können sich die Aufgaben der Naturphilosophie mit denen der Wissenschaftstheorie und -philosophie der Naturwissenschaften überschneiden (→ I.6; I.9). Im Unterschied zu nichtphilosophischen Disziplinen, die sich mit Natur befassen |74|(Physik, Ökologie, Biologie etc.), steht in der Naturphilosophie die Bestimmung des Naturbegriffs (→ II.1) im Vordergrund.

 

Gegenwärtige naturphilosophische Positionen zeichnen sich durch das Nebeneinander von neuen und herkömmlichen, teils bis auf die Antike zurückreichenden Konzeptionen aus (Schiemann 1996; 2005). Sie reichen von der grundsätzlichen Ablehnung einer naturphilosophischen Erkenntnis bzw. Disziplin (z.B. Platon, 428/427–348/347 v. Chr.; Friedrich Engels, 1820–1895) bis zu ihrer Erhebung in den Stand einer philosophischen Fundamentallehre (z.B. Aristoteles, 384–322 v. Chr.; Friedrich W.J. Schelling, 1775–1854). Systematische Aufgabenbestimmungen verstehen unter Naturphilosophie oftmals nur eine spezielle Richtung der theoretischen Philosophie (Welten 1992). Unter dem Eindruck der Umweltproblematik haben aber praktische Fragestellungen verstärkt Eingang gefunden (Bayertz 1987) (→ III.5; IV.1–IV.6). Zusätzlich scheint es zweckmäßig, die Thematisierung ästhetischer Erfahrungen von Natur als gesonderten Bereich aufzunehmen (→ II.9; III.2; IV.6; IV.7). Eine Dreiteilung der Aufgaben systematischer Naturphilosophie in einen theoretischen, praktischen und ästhetischen Bereich übernimmt die traditionelle Gliederung der Philosophie. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Naturphilosophie nur bedingt über einen eigenen Methodenkanon verfügt und deshalb meist als angewandte Philosophie gelten kann (vgl. für die theoretische Naturphilosophie: Stöckler 1989). Die historische Forschung der Naturphilosophie ist teils Bestandteil des systematischen Bereichs, teils hat sie sich als eigener Bereich herausgebildet. Ein weiterer Bereich ist die Naturphilosophie als Lebensstil und Weltanschauung. Zur näheren Bestimmung der Aufgaben der Naturphilosophie bedarf es in jedem dieser Bereiche einer Gegenstandspräzisierung und einer Abgrenzung zu anderen Disziplinen, die sich mit denselben Gegenständen befassen.[15]

1. Systematische Naturphilosophie
1.1 Theoretische Naturphilosophie

Zur theoretischen Naturphilosophie gehören die Bestimmungen des Naturbegriffes sowie der Naturerkenntnis. Größten Raum nehmen dabei die philosophischen Probleme der Erfahrungswissenschaften ein. Im Unterschied zur Wissenschaftstheorie bzw. -philosophie, die sich vornehmlich mit methodologischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen beschäftigt, stehen in der Naturphilosophie inhaltliche bzw. materiale Voraussetzungen und Gehalte einzelner erfahrungswissenschaftlicher Theorien und ihres übergreifenden Zusammenhanges im Vordergrund, die in den jeweiligen Fachdisziplinen nicht behandelt werden (Abschn. 1.1.1–2). Im Bestreben, spezialwissenschaftlich getrennte Erkenntnisse zu einem geschlossenen Bild von der Natur zu vereinen, berührt sich dieser Teil der Naturphilosophie mit einem spekulativen Teil, der traditionelle Bestimmungen fortzuentwickeln oder auch zu überwinden |75|sucht (1.1.3). Als eine zum experimentellen Wissen alternative Erkenntnis kann die Phänomenologie der Natur angesehen werden (1.1.4).

1.1.1 Philosophische Probleme der Erfahrungswissenschaften

Anlass für theoretische naturphilosophische Überlegungen haben v.a. die Entwicklungen der Physik und der Biologie gegeben, in geringerem Umfang z.B. auch die der Chemie und der Umweltwissenschaften.

In der Physik sind dafür die Relativitätstheorien Albert Einsteins (1879–1955) und die Quantenmechanik Niels Bohrs (1885–1962) und Werner Heisenbergs (1901–1976) beispielhaft. Indem die spezielle Relativitätstheorie die Newtonsche Konzeption der Gleichzeitigkeit zurückwies, die physikalischen Größen von Raum, Zeit und Masse relativierte und die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum absolut setzte, erforderte sie eine Revision naturphilosophischer Grundbegriffe, namentlich von ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ (→ II.4) sowie ‚Kausalität‘ (→ II.7). Weitreichende kosmologische Bedeutung hat die allgemeine Relativitätstheorie erlangt, in der das Relativitätsprinzip von Inertialsystemen auf beschleunigte Bezugssysteme ausgedehnt wird. In der Standardinterpretation der Quantenmechanik erhalten die mikrophysikalischen Entitäten Eigenschaften, die ebenso wenig in unserer Alltagswelt wie in der klassischen Physik vorkommen und ihren Gesetzen einen grundlegend indeterministischen Charakter verleihen. Die überkommenen Auffassungen von Kausalität und Determinismus (→ II.7), Erklärung und Voraussage, Objektivität und Subjektivität müssen sich damit neuen naturphilosophischen Herausforderungen stellen. Alternative Interpretationen beschreiben die subatomaren Phänomene als das Wirken einer unbeobachtbaren Welt, die den Gesetzen der klassischen Mechanik folgt (Louis de Broglie, 1892–1987; David J. Bohm, 1917–1992).

Aufgrund der Vereinheitlichungserfolge im 19. und 20. Jh. (Energieerhaltungssatz; Zusammenführung von Optik, Elektrodynamik und Quantenmechanik) wird vielfach die ‚Einheit der Physik‘ als letztes Ziel gesehen. So versucht etwa Carl F. von Weizsäcker (1912–2007) den Aufbau der Physik im Rahmen einer allgemeinen Quantentheorie binärer Alternativen (Ur-Objekte) zu verstehen – auch unter Zuhilfenahme transzendentalphilosophischer Argumente im Hinblick darauf, dass der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft bei der Begründung empirischer Wissenschaft grundlegend ist.

Weitere naturphilosophische Herausforderungen haben sich in der Physik zum einen durch die Thermodynamik fern vom Gleichgewicht ergeben, aus der Ilya Prigogine (1917–2003) ein neues naturphilosophisches Verständnis von Zeit entwickelt hat. Zum anderen hat in der Kosmologie das verloren geglaubte teleologische Denken mit dem sog. Anthropischen Prinzip wieder Eingang gefunden. Es besagt, dass die Bedingungen für die Existenz des Menschen als Beobachter mit der Beobachtung des Universums vereinbar sein müssen (Leslie 1990).

In der Biologie ergeben sich insb. aus der Gentechnologie und Synthetischen Biologie (→ IV.3) neuartige naturphilosophische Herausforderungen für die ältere Debatte über die Natur des Lebens, die Stellung des Menschen in der Natur, die Naturalisierung der Intentionalität und dergleichen.

|76|1.1.2 Synthese der Erfahrungswissenschaften

Nachdem man sich im 19. Jh. einem wissenschaftlichen, meist mechanistisch orientierten Weltbild bereits nahe glaubte (Ludwig Büchner, 1824–1899; Ernst Haeckel, 1834–1919), ist gegenwärtig die Auffassung verbreitet, dass es sich nicht einmal grundsätzlich entscheiden lässt, ob die Wissenschaften eine Gesamttheorie oder aber mehrere wahre Theorien des ganzen, den Menschen umfassenden Seins hervorbringen können. Die verschiedenen Ansätze sind sich dabei einig, dass sich nur in spekulativer Verallgemeinerung der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisse ein neues wissenschaftliches Weltbild wird gewinnen lassen (s. z.B. Rensch 1977; Jantsch 1979; Kanitscheider 1993; Koltermann 1994; Bartels 1996; Drieschner 2002; Esfeld 2008). Als neue Leitbilder gelten Evolutions- bzw. Selbstorganisations- sowie Chaostheorien. Ihrer integrativen Kraft stehen hauptsächlich die Zersplitterung des empirischen Wissens und die disziplinimmanente wie auch -übergreifende erfahrungswissenschaftliche Theorienvielfalt entgegen.

1.1.3 Spekulative Naturphilosophie

Vom Denken, von den Voraussetzungen der Erfahrung und von den verschiedensten Erfahrungstatsachen ausgehend sucht die spekulative Naturphilosophie (→ I.6; I.8) Grundzüge der Natur zu bestimmen, die über die sinnliche und praktische Realität hinausreichen. Auch wo ihre Entwürfe sich nicht als Fundierung der Naturwissenschaften, sondern als eigenständige Thematisierung verstehen, sind sie in enger, oft kritischer Auseinandersetzung mit den erfahrungswissenschaftlichen Resultaten entstanden, ohne deren Inhalte in Frage zu stellen. Das Spektrum reicht von der Wiederaufnahme antiker Vorstellungen bis zu den Versuchen, traditionelle Dualismen zu überwinden (s. Whitehead 1920; Plessner 1928; Hartmann 1950; Teilhard de Chardin 1955; Jonas 1979; Meyer-Abich 1984; Leclerc 1986).

1.1.4 Phänomenologie der Natur

In der Tradition von Edmund Husserl (1859–1938) fragt die Phänomenologie der Natur nicht nach den Ursachen von Erscheinungen, sondern nach ihrer subjektiven Gegebenheitsweise (Böhme/Schiemann 1997; Cho/Lee 1999). Lebensweltlich betrachtet sie dieselben Gegenstände wie die Naturwissenschaften, aber aus anderer Perspektive. Naturobjekte werden in ihrer gestalthaften, sinnlich-anschaulichen Erscheinung erfasst und systematisiert. Beispiele sind die Naturauffassungen Maurice Merleau-Pontys (1908–1961) und Adolf Portmanns (1897–1982) sowie die an die naturwissenschaftlichen Arbeiten Johann W. von Goethes (1749–1832) anknüpfenden anthroposophischen Ansätze (Beispiele in Böhme/Schiemann 1997). Die Naturphänomenologie thematisiert zudem Gegenstände jenseits der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erfahrung wie das eigene Erleben von Wahrnehmungen, Empfindungen oder Gefühlen. Eine Schlüsselstellung nimmt hierbei die dem Menschen zugehörige, nicht objektivierte Natur, der Leib, ein (→ III.1).

|77|1.2 Praktische Naturphilosophie

Die durch Bevölkerungswachstum und heutige Technologien bewirkten Naturveränderungen sind historisch einmalig. Menschliche Einflussnahmen verändern ökologische Systeme, die ehemals außerhalb ihrer Reichweite lagen (Klima, Artenvielfalt etc.), mit Geschwindigkeiten, die sich signifikant von denen natürlicher Evolutionsprozesse unterscheiden. Mit dieser „Expansion der Macht“ (Hans Jonas, 1903–1993) beginnt die menschliche Gattung über ihre eigenen globalen Lebensbedingungen zu verfügen. Natur wird zum Thema der praktischen Philosophie bzw. menschliches Handeln zum Gegenstand naturphilosophischer Bewertung (programmatisch bei Klaus M. Meyer-Abich, 1936–2018). Als Orientierungsinstanz ist Natur seit der Antike angesehen worden. Sich auf sie zu berufen, erhält jedoch neue Qualität, wenn sie nicht mehr als Voraussetzung, sondern als Resultat menschlichen Handelns gilt.

Während die theoretische Naturphilosophie v.a. auf Methoden der theoretischen Philosophie zurückgreift, stellt sich für die praktische Naturphilosophie grundsätzlich die Frage, in welchem Umfang Theorien der praktischen Philosophie auf den Umgang des Menschen mit der Natur Anwendung finden können (Abschn. 1.2.1). Diese Begründungsproblematik betrifft alle Bereiche der praktischen Naturphilosophie, die sich nach ihren Gegenständen gliedern lassen (1.2.2–3).

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