Naturphilosophie

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|1|Sektion I: Geschichte und Systematik

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|3|I.0 Einleitung

Myriam Gerhard, Nicole C. Karafyllis, Gerald Hartung und Kristian Köchy

Versteht man ‚Naturphilosophie‘ in weiter Bedeutung als den Versuch einer sinnstiftenden Betrachtung der Natur, dann gibt es keine Epoche der Philosophiegeschichte, in der die Naturphilosophie nicht präsent gewesen wäre. Über viele Jahrhunderte war sie sogar maßgeblich, z.B. mit der antiken Vorstellung vom Kosmos, die noch das Weltbild des Mittelalters prägte. Der Atomismus lässt sich nahezu durchgängig von den Vorsokratikern bis in die jüngste Gegenwart nachweisen, wenn er auch immer wieder in anderen Konstellationen erscheint. Grundkonzeptionen des Naturbegriffs im Römischen Recht sind bis heute in den interdisziplinären Diskursen um das Naturrecht wirksam. Und wenn in der gegenwärtigen Geologie, Biologie und Anthropologie auf eine ‚Naturgeschichte‘ verwiesen wird, so schließt dies langetablierte philosophische Debatten um das Verhältnis von Natur und Geschichte ein. Dabei wurde Natur auch als Schöpfung verstanden – ein Verständnis, das etwa in aktuellen Bemühungen um den Schutz der Biodiversität wieder aufscheint. Überdies leitete und leitet die naturphilosophische Frage nach der Mathematisierung der Natur und ihren Grenzen nicht nur die Philosophie selbst an, sondern auch die Mathematik, die Naturwissenschaften, die Ökonomie, die Mechanik und sogar die junge Informatik.

Die Geschichte der Naturphilosophie ist stets auch ein Versuch ihrer systematischen Bestimmung und Verortung gewesen. Diese Verschränkung von Geschichte und Systematik der Naturphilosophie soll in Sektion I dieses Lehrbuchs deutlich werden. Um einen adäquaten Einstieg in die Naturphilosophie zu bieten, wird im Folgenden eine Auswahl historisch bedingter Konstellationen naturphilosophischen Denkens dargestellt, die von der Antike bis in die Gegenwart führt. Ziel ist es, Einblicke in naturphilosophisches Denken zu bieten, die einen systematischen Aufriss der Naturphilosophie im Kontext ihrer eigenen Geschichte aufzeigen. Dabei treten Machtverhältnisse in und zwischen Disziplinen und Denkrichtungen zu Tage: Es gab einflussreiche Streitigkeiten in der Naturphilosophie, die ausgefochten wurden, wie im 19. Jh. der Materialismus-, der Darwinismus- und der Ignorabimus-Streit. In dasselbe Jahrhundert fällt auch der Beginn des ‚Kampfes‘ um die Naturphilosophie an sich – und es beginnt ihre teilweise Ablösung durch die Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, die sich im 20. Jh. gleichsam manifestiert. In diesem Zeitraum der langen Geschichte der Naturphilosophie spitzt sich die systematische Frage nach ihrem Aufgabenfeld zu: Inwieweit ist ‚Natur‘ noch Gegenstandsbereich der Naturphilosophie? Für die Klärung welcher Fragen kann die Naturphilosophie exklusiv zuständig sein? Parallel wandelt |4|sich die bisherige Naturphilosophie und erscheint in anderem Gewand. Gegenwärtige Strömungen der Naturphilosophie – die nicht alle unbedingt unter dem Namen ‚Naturphilosophie‘ figurieren – beziehen sich auf maßgebliche Konstellationen des philosophischen Nachdenkens über ‚Natur‘ nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Historie. Dabei erzeugt der Blick zurück sowohl eine Identität der Naturphilosophie wie er auch Einblicke in ihre Vielfalt und Vielstimmigkeit freigibt. Entsprechend zeigt der letzte Beitrag dieser Lehrbuchsektion systematische Grenzen und Konturen der Naturphilosophie auf: als Disziplin der Philosophie und im möglichen Wechselspiel mit den Naturwissenschaften, aber auch in Abgrenzung zu diesen.

Die zweifellos existierende Pluralität der naturphilosophischen Konzeptionen ist keineswegs ein Beleg für die Beliebigkeit von Naturphilosophie, sondern vielmehr Indiz für deren Umbrüche, Verdichtungen und Verflüssigungen – und diese Flexibilität ist eine wesentliche Stärke der Naturphilosophie. Um entsprechende Alternativen im Denken und Vorstellen geht es auch in der Darstellung von Konstellationen, die die Geschichte als einen dynamischen, auf die Lösung von jeweils gegenwärtigen Problemen ausgerichteten Prozess begreift; sei es als Geistes-, Ideen-, Wissens- oder Objektgeschichte. Einige Konstellationen erscheinen uns heute aus bestimmten Gründen wichtiger und prägender zu sein als andere: z.B. die Vorstellung einer Naturgeschichte als Entwicklungsgeschichte bzw. Evolution, etwa im Vergleich zu einer Lebenskraft, die alle Natureinheiten durchdringt. Die Wahrnehmung der jeweiligen Wichtigkeit ist aber selbst dem historischen Prozess unterworfen. Von daher gibt es naturphilosophische Positionen der Vergangenheit, die heute eher ein Schattendasein führen, aber vor anderen Problemhorizonten wieder ins Licht treten könnten – gerade auch jenseits der Philosophie.

Mit dieser einführenden Sektion kann weder eine vollständige noch eine repräsentative Geschichte naturphilosophischen Denkens und auch keine erschöpfende systematische Bestimmung der Naturphilosophie geleistet werden. Ziel ist es vielmehr, zentrale Begriffe, Kategorien und Topoi in ihren Relationen zu ‚Natur‘ vorzustellen und mit den zugehörigen Denkerinnen und Denkern in ihren Epochen zu verbinden. Dabei wird die historisch-systematische Perspektive für die nachfolgenden Sektionen „Grundbegriffe der Naturphilosophie“ (Sektion II), „Naturverhältnisse“ (Sektion III) und „Naturphilosophie in der Praxis“ (Sektion IV) aufgespannt. Die Möglichkeiten und Grenzen heutiger Naturphilosophie lassen sich nicht losgelöst von früheren naturphilosophischen Reflexionen betrachten; so die Ansicht der Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Lehrbuchs. Das bedeutet nicht, dass jeder naturphilosophischen Überlegung eine erschöpfende Analyse der Geschichte der Naturphilosophie vorherzugehen habe. Doch die Frage, welche Konzeptionen und Methoden uns als sinnvoll gelten und welche nicht – welchen Sinn und Zweck ‚Natur‘ erfüllt, erfüllen soll und erfüllen kann – ist nur in Ansehung der historischen Entwicklung der Naturphilosophie adäquat zu beantworten.

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|5|I.1.A Kosmos und Universum:
Chaos, Logos, Kosmos

Nicole C. Karafyllis und Stefan Lobenhofer

1. Chaos und Mythos[1]

Der griechische Philosoph Epikur (341–271 v. Chr.) habe sich einst der Philosophie zugewandt, weil ihm sein Lehrer den Ausdruck „Chaos“ bei Hesiod nicht erklären konnte (DL X, 2). Mit dieser Anekdote bringt der Philosophiehistoriker Diogenes Laertius (3. Jh.) im Buch Leben und Meinungen berühmter Philosophen ein gängiges Motiv in die Anschauung: Philosophieren beginnt mit dem Staunen über die Welt (vgl. Aristoteles, Metaphysik I 982b11f.). Begleitet wird das Staunen von der Unzufriedenheit mit bestehenden Deutungsversuchen, von der Suche nach vernünftigen Erklärungen. In der Person Epikurs verbindet Diogenes das Thema des Anfangs der Welt im Chaos mit dem Anfang der Philosophie. Dies geschieht auch bildlich, denn das Staunen begegnet uns mit offenem Mund – und das griechische Wort „Chaos“ meint wörtlich einen klaffenden Schlund oder Abgrund. Beim Aussprechen sagt man wie beim Staunen ein langgezogenes „A“ und „O“, was die Bedeutung lautmalerisch unterstreicht und an Anfang und Ende des griechischen Alphabets erinnert. Aber was am Chaos machte Epikur unzufrieden?

Eine Antwort ist: seine Unermesslichkeit und damit die Schwierigkeit, das Chaos vernünftig zur Sprache zu bringen – und somit zum Logos. Denn das Chaos meint, modern ausgedrückt, die Grenze der Dimension. Über sie wird in Hesiods Mythos jedoch nichts gesagt. Der Dichter Hesiod (ca. 700 v. Chr.) hatte einst die Theogonie geschrieben, ein Epos über die Entstehung der Götterwelt, in der das Chaos den Urzustand des Kosmos darstellt. Hesiod lässt die Musen über den Anfang der Weltentstehung (Kosmogonie) singen:

„Wahrlich, als das Allererste [prṓtista[2]] entstand Chaos und danach

Gaia mit ihrer breiten Brust, ein immer sicherer Sitz für alle Gottheiten,

die den Gipfel des schneebedeckten Olymp bewohnen,

und die finsteren Abgründe in der Tiefe der breitstraßigen Erde,

Und Eros, der Schönste unter den unsterblichen Göttern,

Der Gliederlöser, der bei allen Göttern und Menschen,

Bezwingt den denkenden Sinn [nóon] und den verständigen Willen in ihrer Brust.

|6|Aus Chaos entstanden Erebos und schwarze Nacht [Nýx]

Aus der Nacht dann wieder Äther und Tag [Heméra],

Die sie [= Nýx] gebar schwanger vom Erebos, mit dem sie sich in Liebe verband.

Gaia aber brachte zuerst hervor den mit ihr gleich weiten

Uranos, den gestirnten, dass er sie überall einhülle,

Damit er sei den seligen Göttern ein sicherer Sitz für immer.“[3]

Aus dem Chaos entstehen per Spontangeneration die ersten Gottheiten als Ordnungsinstanzen der Natur: Erde (Gaia → III.9), Liebe (Eros), Nyx (schwarze Nacht) sowie Erebos (unterweltliche Finsternis) und Tartaros, das äußerste Ende der Unterwelt.

Epikurs Unzufriedenheit ist verständlich: Ist das Chaos das „Nichts“? Ist es „etwas“? Wie kann aus dem Nichts überhaupt die Welt bzw. der Kosmos entstehen? Ist die Welt wesentlich materiell oder immateriell aufgebaut? Abgesehen von der letzten Frage, die Epikur zugunsten einer materiellen Welt aus ewigen und unteilbaren „Atomen“ beantwortet sehen wird, haben die Philosophen offenbar seit den Mythen von Homer und Hesiod keine zufriedenstellenden Antworten auf die metaphysischen Fragen geben können. Eingedenk der Grundprobleme vom Sein und seinem Anderen – dem Seienden einerseits, dem Nichts andererseits – besteht dieses vermeintliche Manko auch heute noch. Dies gilt trotz der Fortschritte der neuzeitlichen Physik (→ II.3–II.6; IV.7) und trotz der sog. Chaostheorien, d.h. Theorien der Selbstorganisation (→ II.8), weil diese das Problem der Grenze nicht lösen können und deshalb logisch meistens eine erste Innerlichkeit des Alls (ein Selbst) unterstellen. Jenes Problem wird schon deutlich am Begriff ‚Universum‘, der wörtlich „das in Eins Gekehrte“ bedeutet. Und das Gesagte zum Fortbestand der Problematik gilt ferner trotz der Popularität des Ausdrucks „Medium“ im poststrukturalistischen Philosophieren der Gegenwart, in dem das Chaos seine Spur als Wandelndes ohne Grund hinterlassen hat.

 

Epikur wollte am Anfang seines Philosophierens Hesiods Ausdruck „Chaos“ verstehen, verbarg sich doch dahinter die Frage nach dem Urgrund allen Seins, aber auch die nach dem ewigen Abgrund. Hesiods Sukzessionsmythos von der Weltentstehung als sich abwechselnd zeugende und vernichtende Göttergenerationen macht die zwei gegensätzlichen kosmischen Prinzipien von Liebe und Streit, von Einheit und Differenz erzählerisch verstehbar (→ III.7). Das aus dem Chaos entsprungene Geschwisterpaar Gaia und Eros zeugt Uranos (den Himmel) und Okeanos, den kreisrunden Strom. Damit ist der Horizont als Grenze gebildet. Himmel und Meer umfließen die Erde, die als gebirgige und unterhöhlte Scheibe in einer Weltmitte gedacht ist. Zwei andere Kinder des Chaos, Nyx und Erebos, zeugen die Luft (Aether) und den Tag (Hemera), womit das Dunkle als vorgängig zum Hellen verstehbar wird. Der Kosmos entsteht also schrittweise und ohne das Chaos letztlich zu überwinden oder von der Welt abzulösen.[4] Dabei sind die göttlichen Naturen bereits normativ entlang einer vertikalen Achse von Gut (oben) und Schlecht (unten) geordnet. Eine sich zum Himmel |7|orientierende Oberwelt, die Welt der Schönheit und des Lichts, scheidet sich von der Unterwelt mit ihrer göttlichen Strafe und ewigen Finsternis. Dorthin werden nach dem Kampf der Titanen die Feinde des Zeus verbannt. All dies geschieht lange vor der Schaffung des Menschen.

Die religiöse Strömung der Orphiker liefert eine andere einflussreiche Weltentstehungsgeschichte, die u.a. von Platon (vgl. Philebos 66c) aufgegriffen worden ist. Am Anfang der musikalisch-poetisch („harmonisch“) strukturierten Welt war die Nacht. Darauf entstanden die Zeit (Chronos) und die Zwangsläufigkeit (Ananke), aus denen wiederum Chaos und Aether entstanden. Chronos erschafft im Aether das Weltei, aus dem Phanes (spätantik: Eros) entspringt. Wie immer es auch gewesen sein mag: Die Entstehung der Welt bleibt wörtlich im Dunklen. Dies gilt auch für die zeitlich noch vor Hesiod anzusiedelnden Epen Ilias und Odyssee des Dichters Homer, die vom bereits geordneten Zeus-Kosmos kundtun. Die Götter sind für einzelne Elemente und Naturphänomene zuständig und können sich und die Menschen morphisch wandeln. Dabei ist die göttliche All-Natur nicht scharf von der Natur der einzelnen Götter und Dinge zu trennen. Natur wirkt in Form von göttlichen Über-Naturen und Naturgewalten und ist dabei den Menschen auch Zeichen ihres Schicksals.

Beim Mythos handelt es sich demnach um eine Darlegung religiöser Naturverhältnisse (→ III.8). Weil aber etwa Odysseus mit List (téchnē) die göttliche Natur manchmal zu überwinden vermag und als Individuum frei handelt, wird die Odyssee auch als „Grundtext der europäischen Zivilisation“ und im Sinne aufklärerischen Denkens gesehen (Horkheimer/Adorno 1944/1969), denn der Mythos macht einen Möglichkeitsraum für den Logos auf. So finden sich auch in der heutigen Kosmologie und Elementarteilchenphysik noch symbolische Anklänge an das mythische Chaos: z.B. die Dominanz des Dunkels als hypothetisch angenommene, aber bislang nicht messbare „Dunkle Materie“ (→ II.6); ferner das Weiterbestehen des ursprünglichen „Chaos“ im Kosmos in Form der Mikrowellenhintergrundstrahlung, des ersten Lichts, das relativ kurz nach dem Urknall vor 14 Mrd. Jahren entstanden ist. Und auch bei den physikalischen Aussagen über „Vernichtungsschlachten“ von Materie und Antimaterie am Anfang des Universums mag man an Hesiods Göttergenerationen denken, die sich auf einen einfachen Anfang (Singularität) zurückführen lassen, selbst wenn er heute nicht als Chaos, sondern als Punkt gedacht wird.

Mythos und Logos bilden verschiedene Weisen des Erklärens und Verstehens (→ III.6), die parallel existieren. Es gibt keine lineare Fortschrittsgeschichte des Denkens, wonach der Mythos durch den Logos eindeutig abgelöst worden wäre. So wird noch lange nach Hesiod das Chaos bevorzugt dichterisch in die Anschauung gebracht. Und auch, wenn der Ausdruck schon im Griechischen als Gegensatz zur geordneten Welt des Kosmos verstanden wurde, wird er doch erst durch den römischen Dichter Ovid (43 v. Chr.–ca. 17 n. Chr.) explizit als Zustand der Unordnung oder Verwirrung (lat.: confusio) besungen (Metamorphosen I, 5–9).

Der Frage nach dem Chaos ausweichen und auf jegliche Metaphysik verzichten zu wollen ist verführerisch, hat aber Konsequenzen. Mit dem Hellenisten Epikur ist bereits ein Denker aufgetreten, der sich von seiner jugendlichen Frage nach dem Chaos ganz verabschiedet und stattdessen die Materie als ungeschaffen und ewig erachtet. |8|Er postuliert die in einem unendlichen Raum unendlich vielen, sich bewegenden „Atome“ (s. Schmidt 2007: 91–118). Dies mutet heute modern an (→ II.7), bedeutete aber für Epikur, auch den griechischen Göttern, die ihn nicht interessierten, eine teilweise materielle Natur zuschreiben zu müssen und somit die Theologie in seine Physik einzugliedern (s. Sedley 2007). Einen umgekehrten Weg beschritt das Christentum. Im lateinischen Kontext wird spätestens seit dem Kirchenvater Aurelius Augustinus (354–430) die Frage nach dem anfänglichen Urgrund in den starren Gegensatz von Form und Materie gezwängt, den es so im griechischen Denken nicht gibt. Er stellt das Chaos gemäß neuplatonisch-christlichem Weltbild als geschaffene Urmaterie dar und belegt es mit den Attributen „confusa et informis“ (zusammengemischt und ungestaltet). Nach Augustinus entstand der Kosmos nicht in der Zeit, sondern durch Gottes Schöpfung mit der Zeit (lat.: cum tempore). ‚Physik‘ wird in eine sog. Natürliche Theologie eingegliedert. So kann man eingedenk der biblischen Schöpfungserzählung der großen Provokation ausweichen, die das mythische Chaos bietet: dass es eine Zeit gegeben haben könnte, in der Gott noch nicht war (weiterführend Lobenhofer 2019).

Für die Philosophie hingegen bietet Hesiods „Chaos“ Anlass zum Aufbruch, um über die Natur von Raum und Zeit und über die Strukturen des Kosmos nachzudenken. Die nun in Abschnitt 2 zu erläuternden Vorsokratiker verbinden die Unklarheit des anfänglichen Grundes mit der Frage nach dem Logos im Rahmen naturphilosophischer Betrachtungen,[5] was für das aristotelische Denken (Abschn. 3 u. 4) erkenntnisleitend wird. Aristoteles wird die Existenz des Chaos zurückweisen, aber auch die eines Schöpfergottes. Die Philosophie trifft damit in ihrem Anfang eine wegweisende Entscheidung: Mit ihrem Ziel, „alles verständlich zu machen“, postuliert sie auch, „dass die Naturvorgänge verständlich sind. […] Sie ist daher gehalten, sich nach dieser Annahme zu richten, sei sie nun wahr oder nicht. Sie ist eine verzweifelte Hoffnung. Aber soweit der Naturprozess verständlich ist, ist der Naturprozess mit dem Vernunftprozess identisch“ (Peirce [1890] 1991: 133).

2. Der Kosmos: Die Vorsokratiker und Konfuzius

Mit dem Begriff ‚Logos‘ wird auf vernunftgemäße Begründungen verwiesen, die auf theologische und mythologische Elemente verzichten sollen. Ziel ist eine auf die Einheit der Vernunft (noûs) abhebende Allgemeingültigkeit der Aussage. Auf die Frage, wann der schlagwortartige Umbruch vom „Mythos zum Logos“ stattfindet, ist die etablierte Antwort: im 6. Jh. vor Christus mit dem Auftreten der Vorsokratiker. Gemeint sind diejenigen griechischen Philosophen und ihre Schulen, die vor der mit Sokrates (469–399 v. Chr.) einsetzenden und durch Platon und Aristoteles fortgeführten klassisch-griechischen „attischen“ Philosophie über eine vernunftgemäße Begründung der Welt nachdachten. Paradigmatisch für die vorsokratische Naturphilosophie ist die Aussage Heraklits (um 520–um 460 v. Chr.): Der Kosmos bzw. das Weltgefüge |9|ist dasselbe für alle Dinge und wurde weder von einem Menschen noch von einem Gott hervorgebracht, sondern es war immer und ist und wird sein (DK 22 B30). Die Feststellung der Ewigkeit des Kosmos markiert den Übergang von der Kosmogonie zur Kosmologie.

Angesichts der bildhaften Deutungen der Welt und der zahlreichen Götterkulte stellen die Vorsokratiker kritische Fragen und betreiben Naturforschung. Den ältesten von ihnen, Thales von Milet (um 624–um 548 v. Chr.), haben Sonnenfinsternisse beschäftigt, in Folge dessen auch die Zeitmessung und kalendarische Ordnung (DL I, 23–27). Erdbeben erklärt er nicht mehr mit dem Wirken Poseidons, sondern begründet: Die Welt schwimmt als Scheibe auf dem Wasser und gerät so bisweilen in Erschütterung. Thales behauptet einen materiellen Anfang der Welt mit dem Wasser als Urgrund (archḗ), der insofern noch mit dem Mythos verträglich ist, als Homer in der Ilias den Gott Okeanos als Ursprung von allem erachtete. Eine Abkehr von göttlichen Über-Naturen der Dinge macht ein Fragment des Xenophanes von Kolophon (um 570–um 475 v. Chr.) deutlich. Er versteht den Regenbogen nicht mehr als Göttin Iris, d.h. nicht mehr analog, sondern als logisch erklärbare Naturerscheinung: „Und was sie Iris benennen, auch das ist seiner Natur nach nur eine Wolke, purpurn und hellrot und gelbgrün zu schauen“ (DK 21 B32).

In mancherlei Hinsicht markieren die Vorsokratiker und ihre später mit dem Titel Perì phýseos (Über die Natur) bezeichneten Schriften nicht nur den Beginn der Naturphilosophie, sondern den der sog. westlichen Philosophie überhaupt. Allerdings führen viele ihrer Grundannahmen nach Persien, nach Babylonien und ins Alte Ägypten (Burkert 2008), weshalb die Philosophie auch im Mittleren Osten, in Indien oder in Nordafrika (vgl. Graness 2016) entstanden sein könnte.

Mit u.a. den folgenden Fragen streben die Vorsokratiker vernunftbegründete Erkenntnis an:

 Ist der Kosmos ewig oder hat er einen Anfang in Zeit und Raum?

 Gibt es ursächliche Prinzipien bzw. einen anfänglichen Urgrund (archḗ), aus dem der Kosmos entstanden ist (z.B. das Wasser bei Thales, DK 11 A12, oder die „dicke Luft“, aḗr, bei Anaximenes, DK 13 A7)?

 Gibt es etwas dem Kosmos Entgegengesetztes, wie das „Nichts“, oder etwas anderes Unbestimmbares, Grenzenloses (etwa das ápeiron bei Anaximander, DK 12 B1)?

 Ist der Weltprozess linear oder zyklisch zu denken (letzteres z.B. explizit bei Heraklit und Empedokles)?

 Was sind die Elemente des Kosmos, inwieweit sind sie teilbar und mischbar? Gibt es ein ewiges, diskretes Unteilbares (átomos), aus dem die Welt aufgebaut ist (wie die Atomisten Leukipp und Demokrit behaupten, DK 67 A14)?

 Gibt es ein Element, das prinzipiell am wichtigsten ist, weil es alles Werden und Vergehen unterhält (z.B. das Feuer bei Heraklit)?

 In welchen Formen oder Prozessen wirken die Elemente im Kosmos? Kann man mit den Mischungen aus Erde, Feuer, Wasser, Luft den Wandel, aber auch die Konkretheit der Natur hinreichend beschreiben (vgl. Empedokles’ Vier-Elemente-Lehre, DK 31 B21)?

|10|Mit dem Naturdenken und -beobachten der Vorsokratiker wird eine antike Naturwissenschaft möglich, weil Maßaussagen entstehen, die Prinzipienaussagen befördern (wie später bei Aristoteles). Als frühe Leitwissenschaften für die Etablierung theoretischer Naturverhältnisse (→ III.3) gelten Mathematik, Astronomie, Musik und Medizin (Diätetik). Mit ihnen entstehen zahlenbasierte und regelgeleitete Naturverhältnisse (→ I.3), die praktisch nutzbar gemacht werden und den Instrumentenbau anleiten. Dies meint sowohl Musikinstrumente, deren Töne auf Basis der nach einfachen Zahlenverhältnissen geordneten Intervalle kosmische Harmonie veranschaulichen können (Schule der Pythagoreer), als auch Messinstrumente, z.B. für die Navigation auf See, für die Feldvermessung und für die Erfassung der Zeit. Den Vorsokratikern geht es zwar auch um einheitsstiftende Begriffe von Natur und Welt im Sinne einer All-Natur („die Natur“), v.a. aber um die Bestimmbarkeit von Naturen der Dinge („Natur von etwas“), z.B. der Lebewesen oder der Elemente. Dabei wird der eigentliche Begriff für Natur, phýsis (von phýein für: wachsen lassen) – der nah am Irdischen und Beseelten bzw. Lebendigen steht und damit an dem von Demokrit so bezeichneten „Mikrokosmos“ Mensch (DK 68 B34) – mit dem übergeordneten kosmischen Geschehen, dem später sog. Makrokosmos, in Übereinstimmung zu bringen versucht. Natur als Physis meint keine statische Naturbeschaffenheit, etwa eine stoffliche oder atomare, sondern eine „Eigenwüchsigkeit“, die vor dem „unauffälligen Hintergrund“ des Kosmos „auflebt“ (Buchheim 1994: 93). Sie ist wesentlich dynamisch. Zu ihrem Verständnis muss man sich mit den Grundprinzipien des Kosmos auseinandersetzen.

 

Die in Abschnitt 1 gestellten Fragen bezüglich des Chaos, d.h. die nach Seiendem, Nichts und Grenze, sind dafür erkenntnisleitend. Zusammen mit Thales und Anaximenes ist es der aus Milet stammende Anaximander (um 610–546 v. Chr.), der den Aufbruch der ionischen Naturphilosophie markiert. Er soll auch als erster die geordnete Welt mit „Kosmos“ bezeichnet haben. Ihr Gegenteil, das er „Apeiron“ nennt, bestimmt er wie folgt:

„Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das grenzenlos-Unbestimmbare). Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.“ (DK 12 B1)

Das Apeiron ist das Maßlose und Unermessliche, das selbst weder Raum noch Zeit ist (→ II.4). Thomas Buchheim (1994: 61) begründet, dass das ‚Apeiron‘ Anaximanders dem ‚Chaos‘ Hesiods ähnelt, insofern beide Begriffe auf Grenzziehungen verweisen, die nicht Grenzen von oder an etwas sind. Das selbst undimensionierte Apeiron eröffnet eine Dimension, in der die werdenden und vergehenden Dinge sich nach Rechtsverhältnissen („Schuldigkeit“) gegenseitig bedingen. Anaximander postuliert mit dem Apeiron, anders als Thales mit dem Wasser, einen immateriellen Urgrund. Die Erde stellt er sich als einen in einer Sphäre, d.h. in einer Kugelgestalt, unbewegt schwebenden Zylinder vor. Er geht von drei Himmeln oder Sphären aus (um Sterne, Mond und Sonne), womit nach der Überlieferung des Aristoteles-Schülers Eudemos von Rhodos der „logos von Größen und Distanzen“ in die Philosophie eingebracht wurde (Burkert 2008: 71). Anaximenes (ca. 585–528 v. Chr.) korrigiert die Darstellung |11|dahingehend, dass der Mond näher an der Erde ist als die Sterne. Für Anaximander ist das irdisch vorrangige Element das Wasser, aus dem alles Leben entsteht, während das kosmisch wichtigste Element das Feuer ist, das als ein äußerster Ring die Hüllen der Welt umgibt. Feuer und Wasser ergeben schon am Anfang des Kosmos Maßverhältnisse von heiß/kalt und trocken/feucht, die auch auf der Erde wirken und Werden und Vergehen gleichsam ‚machen‘. Das Werden geschieht ausgehend von einem zentralen Urkeim (gónimon) des Kosmos, der ein zeugender Gegenbereich zum dimensionierenden Apeiron ist. Anaximander hat noch kein Materiekonzept, versucht aber das stoffliche „Woraus“ (etwas entsteht) zu fassen, das er in der Weltmitte ansiedelt.

Heraklit von Ephesos will die All-Einheit der Welt begründen, indem er sie mit der Idee eines allumfassenden und alldurchdringenden Weltgesetzes (Logos) verbindet (Reckermann 2011: 60–68). Demnach gilt: hén pánta, „eins ist alles“. Im Logos ist Gegensätzliches vereint wie etwa, dass Natur sowohl ist als auch wird, d.h. nicht ist. Die prozessuale Identität von Einheit und Gegensatz ist in Heraklits Flussfragmenten überliefert, z.B. in der berühmten Aussage, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann. Grundsätzlich steht der Logos als eine Form des Denkens allen Menschen offen. Aber gleichzeitig betont Heraklit, dass obwohl der Logos ewig ist und immer gilt, die Menschen ihn nicht verstehen (DK 22 B1; vgl. entsprechend Platon, Timaios 51e). Die verschränkte Einheit von Gegensätzen bringt er sprachlich durch bewusste Doppeldeutigkeit zum Ausdruck, weshalb er von Georg W.F. Hegel (1770–1831) als Vordenker der Dialektik und spekulativen Naturphilosophie gefeiert werden wird: „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen“ (Hegel [1833] 1986, Bd. 18: 320). Für Heraklit ist die Naturbeobachtung Grund der logischen Vernunfterkenntnis, das Erkennen der Naturgemäßheit steht in Verbindung mit der Weisheit bzw. dem umfassenden Bescheid-Wissen (sophía) über die Verhältnisse (DK 22 B112). Damit grenzt Heraklit den Erkenntnisweg der Philosophen ab von dem üblichen Meinen „der Vielen“ – eine typische Attitüde der Vorsokratiker. Auf der kosmologischen Ebene entspricht dem Logos das Weltfeuer, das alles anfacht und sich stets nach anderem verzehrt. Das Feuer ist ein umfassendes, auch erkenntnistheoretisch wirksames Wandlungsprinzip.

Heraklits Sicht, dass man zum Verständnis eines sich im stetigen Wandel befindenden Seins, d.h. des Werdens, ein Nicht-Sein voraussetzen müsse, findet eine Gegenposition erstens in der Schule des Parmenides von Elea (um 510–um 450 v. Chr.). Dieser zufolge gibt es nur ein ewiges und wahres Sein (DK 28 B6), während das Werden eine Scheinwirklichkeit darstellt – eine Position, die Platon maßgeblich beeinflusst hat. Zweitens sind es die Atomisten mit Demokrit (um 460–um 370 v. Chr.), die das Konzept der Leere (kenós) an die Stelle des Nicht-Seins setzen, weshalb ihrer Ansicht nach ein leerer Raum („Vakuum“ → II.4) existieren müsse.

Wie für Parmenides ist es auch für Empedokles (um 485–425 v. Chr.) unmöglich, dass aus Nicht-Seiendem etwas entsteht und ebenso, dass Seiendes völlig verschwindet (DK 31 B12). Empedokles nimmt ein ewiges Sein der Natur an, das auf vier Wurzelgestalten (rhizṓmata) beruht, welche geflechtartig miteinander verwoben sind: Feuer, Wasser, Erde, Luft (DK 31 B6). Damit hat er dem Begriff nach die vier Elemente gedacht, das Wort „Elemente“ (stoicheîa) schreibt ihm erst Aristoteles zu. Die Elemente |12|des Empedokles mischen und trennen sich gemäß den Prinzipien von Liebe und Streit, wie er im Lehrgedicht Über die Natur schreibt (Primavesi 2008). Die durch Wechselseitigkeit bestimmbaren Elemente interagieren nicht wie beim Wettkampf, sondern wie beim Tauschhandel: Jeder Tauschpartner gibt und nimmt etwas, jeder tut und erleidet etwas. Die Elemente sind stofflich gedachte Grundverhältnisse. Der Kosmos und mit ihm die Natur hat somit nicht einen Ursprung, sondern Vielursprünglichkeit. Ein Anklang an das ursprüngliche Chaos findet sich dahingehend, dass am Anfang der Welt die vier göttlichen Grundstoffe nur als „Nebeneinander des Mehreren“, d.h. ungeordnet, vorlagen. Die Liebe (éros) verband sie dann miteinander, aber machte sie gleichzeitig sterblich (Reckermann 2011: 180, Anm. 131). Im Physischen sind die vier Grundstofflichkeiten zyklisch als Werden und Vergehen gedacht, d.h. die Ursprünge kehren immer wieder zu sich zurück und fangen wieder neu an, Mischungen zu bilden. „Mischung“ hat hier eine doppelte Bedeutung: „Werden des Vielen zu Einem und Werden des Einen zu Vielem“ (ebd.: 75). Der Wechsel dieses Seins ist ewig und unbewegt (DK 31 B17). Empedokles’ Vier-Elemente-Lehre beeinflusst die Alchemie und Medizin (Vier-Säfte-Lehre) bis ins Mittelalter und zuvorderst die Naturphilosophie des Aristoteles (s.u.).

Zeitlich parallel zu den Vorsokratikern entwickelt sich im Klassischen China durch Konfuzius (551–479 v. Chr.) eine philosophische Lehre (Konfuzianismus), die fernöstlichen Philosophien bis heute zugrunde liegt. Für Konfuzius ist der Himmel (chin. Tian) das oberste Prinzip der Welt. Der Himmel hat eine eigene metaphysische Wesenheit, die als Weltgesetz für kosmische Harmonie sorgt und den Menschen ihre Sitten und Tugenden vorgibt. Dieser Gedanke wird auch im Daodeking (chin. Dao für: Weltgesetz; De für: Weg) durch Laozi (ca. 3–6. Jh. v.Chr.) und entsprechend im Daoismus wirksam.[6] Das Dao folgt seiner eigenen Natur (chin. Ziran, wörtlich: von selbst so sein) und ist wesentlich einfach, spontan und wortlos. Mensch, Erde, Himmel und Dao werden im Zusammenspiel ihrer Naturen als harmonische All-Einheit konzipiert, die spirituell zugänglich ist. Später entwickelt sich dies unter Einschluss vorkonfuzianischer Denkweisen zu verschiedenen Lehren von Yin und Yang, den zwei bipolaren Prinzipien oder Kräften, welche sich gegenseitig ergänzen und die sich stets wandelnden Naturen (‚von etwas‘) der All-Einheit hervorbringen. Im Gegensatz zur westlichen Lehre von den vier Elementen beruhen fernöstliche Philosophien auf der Maßgabe von fünf Elementen (Wu Xing), die als Kräfte kosmischen Wandlungsprozessen entsprechen: Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Allerdings begleitet auch die abendländische Geschichte das Spiel mit einem fünften Element bzw. einer Quintessenz; zuvorderst bei der Suche nach einer außerirdisch angesiedelten Qualität von ‚luftigem‘ Licht (aithḗr) oder ‚beseeltem Atem‘ (pneûma), das/der bis auf die Erde durchscheint und der kosmischen Macht der Nacht als ewigem Dunkel entgegengesetzt ist (Böhme/Böhme 1996: 143–145). In der aktuellen Kosmologie wird die Quintessenz als Energiedichte eines sich zeitlich langsam entwickelnden Skalarfeldes diskutiert, um gleichsam Licht in den sog. „dunklen Sektor“ des Universums zu bringen.