Naturphilosophie

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2. Antike: Kosmische Ordnung als Rechtsgrund

In der griechischen Antike entwickelt sich zum einen das verbindliche Recht aus Konfliktlösungsgewohnheiten (Reichardt 2003), zum anderen entstehen theoretische Begründungen für Rechtsgeltung. Dabei ist die Natur als kosmologische Ordnung das zentrale Kriterium. So gilt zunächst v.a. vielen Sophisten das Recht des Stärkeren als natürlich, das gesetzliche Recht hingegen als naturwidriges Instrument der Schwachen. Diese Richtung des Naturrechts knüpft an die triebhafte Natur der Menschen an und kann „existentielles Naturrecht“ genannt werden, im Unterschied zum „ideellen“, das an die Vernunftnatur der Menschen anknüpft (Welzel 1951: 11). Platon und Aristoteles bemühen sich in diesem zweiten Sinn um eine Legitimation der rechtlich geordneten Polis. Aristoteles leitet aus den natürlichen Erfordernissen der Selbsterhaltung die rechtlichen und politischen Institutionen als natürliche Mittel ab: Familie, Haushalt, Dorf und Stadt, aber auch die Sklaverei, die eine natürliche Ungleichheit der Menschen in wechselseitigen Nutzen übertrage. Insgesamt gilt die Naturordnung als in sich zweckmäßige Ordnung (Teleologie), innerhalb derer das Handeln sich einordnen muss.

Im Unterschied zu Aristoteles, der die Normativität des Handelns nicht aus vorgeordneten Begriffen, sondern aus der Reflexion auf die Erfahrung des Handelns begründen will, hatte Platon (428/427–348/347 v. Chr.) die Normen aus der Idee des Guten begründet. Diese freilich verdankt sich auch Naturanalogien, denn die gute Ordnung des Staates wird in Analogie zu einem biologischen Organismus und dessen Ordnung durch die Seele als Ordnungsprinzip bestimmt. Während Aristoteles das Handeln als einen vom theoretischen Erkennen systematisch getrennten Gegenstandsbereich bestimmt (s. z.B. Nikomachische Ethik I 1094b12–27 u. VI 1141a16–b3), folgte für Platon die Ordnung des Handelns aus einer Ordnung theoretisch erkennbarer Ideen. Diese Ideen sind freilich keine Phantome, sondern ihrerseits Produkte philosophischer Reflexion. Für Aristoteles (384–322 v. Chr.) allerdings sind sie abstrakte Begriffe, deren Beziehung zu den empirischen Handlungen nicht eindeutig bestimmbar ist. Deshalb bleibt es bei Aristoteles bei der Erörterung einer unter jeweils gegebenen Umständen bestmöglichen Rechtsverfassung, während Platon durchaus eine relativ genau entwickelte Idealverfassung entwirft.

Mit der Auflösung der Polis im makedonischen, dann im römischen Reich verliert der Einzelne seine Mitwirkungskompetenz und sieht sich mit fremden politischen Mächten konfrontiert. In der universalen Ordnung der Natur sehen die Stoiker nun die Grundlage der Freiheit des Einzelnen und legen damit den philosophischen Grund |44|für den christlichen Begriff des Individuums. Auch Begriffe wie ewiges, natürliches und zeitliches Gesetz sowie der Begriff einer universalen Menschheit stammen hierher.

Ausgehend vom Apostel Paulus (5–64) und den Kirchenvätern, v.a. Augustinus (354–430), knüpft die christliche Rechtslehre neben der Stoa zunächst an die platonische Tradition an, und das betrifft auch den Naturbegriff. Allerdings wird die organisch-teleologische Ordnung des Naturganzen nun mit dem Willen Gottes in Verbindung gebracht. Das menschliche Handeln erhält damit eine moralische Bedeutung. Ein Rechtsverstoß ist nicht nur eine Störung der natürlichen Ordnung, sondern eine Sünde.

3. Mittelalter: Göttliche Ordnung als Rechtsgrund

Wenn Gott zugleich Gesetzgeber der Naturordnung und der moralischen Ordnung ist, lässt sich zumindest theoretisch an der Vereinbarkeit von Natur und Handeln festhalten. Thomas von Aquin (1224/25–1274) hat das als Gesetzeshierarchie festgehalten: An der Spitze steht das ewige Gesetz. Dabei handelt es sich um die Idee der Totalität der Weltordnung im göttlichen Geist. Diese Vorstellung ist der normative und zugleich kausale Grund aller Ordnung in der Welt. Das ewige Gesetz wird offenbart im Naturgesetz. Mit ‚Naturgesetz‘ ist nicht der moderne Begriff eines wissenschaftlichen Gesetzes, sondern die gesetzmäßige Ordnung der Natur selbst gemeint. Und an unterster Stelle steht das menschliche Gesetz, das Recht, das Menschen sich selbst geben. Damit es nicht aus der Ordnung herausfällt, muss der Gesetzgeber sich am ewigen Gesetz und an den geoffenbarten Geboten (dem positiven göttlichen Recht) orientieren.

Der theologisch interpretierte Platonismus bietet aber noch ein zusätzliches Naturprinzip des Rechts an: Alle Naturprozesse zielen auf ein Gutes. Deshalb gilt, dass das Gute zu erstreben, das Schlechte oder Böse aber zu vermeiden ist. Dies soll die natürliche Richtschnur der Gesetzgebung sein. Sie soll auf das bonum commune, das gemeinsame Gute, gerichtet sein. In der säkularen Rechtspraxis ist dieses Prinzip das überlieferte gute alte Recht. Die Autorität des Althergebrachten beruft sich zwar nicht direkt auf die Naturordnung, behandelt aber das Überlieferte wie eine mit der Zeit verfestigte, jetzt nicht mehr folgenlos zu durchbrechende Ordnung zweiter Natur. Für die Entwicklung dieser Praktiken zu staatlichem Recht ist das naturrechtlich begründete Kirchenrecht (kanonisches Recht) lange Vorbild. Zum Beispiel wird der Grundsatz, dass Verträge einzuhalten seien (pacta sunt servanda) zuerst im Kirchenrecht formuliert. Heute regelt das staatliche Recht den Geltungsbereich kanonischen Rechts.

Im Verlauf des Mittelalters kommt es zu gravierenden Veränderungen in der Sozialstruktur. Antike Vorstellungen werden überwunden, die menschliche Arbeit wird nicht mehr nur als Strafe für die Erbsünde, sondern als eigenständige Leistung zur Orientierung in der Welt und zur Beherrschung der Natur verstanden. Damit hängt die Entwicklung von Städten zusammen, die zu Gewerbe- und Handelszentren werden. Der veränderte Bedarf bringt Veränderungen in der Landwirtschaft mit sich. Diese wirtschaftlichen Veränderungen erfordern neue Rechtsformen. Es kommt zu einer intensiven Rezeption des römischen Rechts, die ungefähr mit der Wiederentdeckung |45|des lange Zeit vergessenen Werks des Aristoteles zusammenfällt. Insbesondere die Aristotelische Konzentration auf die Erkenntnis des Einzelnen, des Erfahrungsobjekts, wirkt subversiv auf den neuplatonischen Naturbegriff des Mittelalters. Vom Einzelnen aus ist eine absolute rationale Ordnung nicht unbedingt zu erkennen. Die Willkür wird zum vorherrschenden Prinzip; auch Gottes Wille gilt bei Duns Scotus (1266–1308) oder Wilhelm von Ockham (ca. 1287–1349) nicht mehr als bloße Funktion seiner Vernunft, sondern als absolute Macht. Er kann, wenn er will, die bestehende Ordnung jederzeit durch eine andere ersetzen. Mit dieser These fällt einerseits die gesamte Ordnungsgewissheit des Mittelalters in sich zusammen; andererseits sind damit Voraussetzungen für den modernen individuellen Subjektbegriff und für die Wandelbarkeit sozialer Normen geschaffen.

4. Neuzeit: Menschliche Ordnungen als Rechtsgrund

Das Prinzip der Neuzeit ist nicht mehr die universale Ordnung, sondern das individuelle Subjekt. Das gilt auch für die Naturordnung: Menschen erkennen Natur nicht mehr vorrangig durch begriffliche Ableitungen aus allgemeinen Prinzipien, sondern durch konkrete experimentelle Eingriffe (→ III.3; III.4). Wird das Individuum Rechtssubjekt, dann muss seine Handlungsfähigkeit rechtlich garantiert sein: Es muss sein Eigentum geschützt sein, und es müssen das Leben, die Unversehrtheit und die Freizügigkeit geschützt sein. Der zunehmende Kontakt mit fremden Völkern unterschiedlicher Kultur und Zivilisation verschärft das Problem: In der spanischen Spätscholastik des 16. Jhs. wird aus der allgemeinen Natur der Menschen begründet, dass z.B. auch die Freiheit und das Eigentum der indigenen Bevölkerung rechtlich geschützt seien. Diese Theorien entstehen als naturrechtliche Reflexion des Kolonialismus und sind insofern ambivalent: Sie bestimmen die Kolonialisierung als rechtlichen Vorgang, setzen aber dadurch dem faktischen Vorgehen auch erhebliche Grenzen. Das betrifft ebenso den neuzeitlichen Umgang mit der Sklaverei. Dass sie natürlich sei, lehnt bereits Thomas von Aquin ab, der sie als für beide Seiten nützlich dennoch verteidigt. Dennoch gilt sie lange weiter als rechtlich möglich, z.B. durch Selbstverkauf oder durch Kriegsgefangenschaft.

Die Legitimation des Rechts gründet jetzt darin, dass Menschen von Natur aus bestimmte Rechte, jetzt als subjektive Ansprüche verstanden, zukommen. Wenn allerdings die Willkürfreiheit des Einzelnen zum Prinzip wird, treten die Menschen in Konkurrenz zueinander. Das zeigt auch die Erfahrung der frühen Neuzeit sehr deutlich. Daraus entsteht für das Programm einer rationalen Rechtsbegründung das Problem, dass die Interessenvertreter um die Deutungshoheit dessen, was rational sei, in Streit geraten.

Die politischen Rechtstheorien dieser Zeit sind daher auf der einen Seite an der Sicherung individueller Rechte interessiert und auf der anderen Seite an der Stabilität von Herrschaft, um die Kollisionen der Individuen im Griff zu behalten. Diese beiden Seiten sind für die politische Entwicklung der Neuzeit bestimmend (Neumann 1937). Prototypisch ist das am Verhältnis von Thomas Hobbes (1588–1679) und John Locke |46|(1632–1704) zu sehen. Hobbes zieht aus dem Interessenkonflikt die pragmatische Konsequenz, wie einst die Sophisten, das Interesse selbst zur natürlichen Rechtsquelle zu machen. Das Individuum habe ein unbedingtes Recht auf Selbsterhaltung, das zu allen Übergriffen auf alles und jeden berechtige. Zugleich wird aber aus der sozialen Natur begründet, dass es sinnvoll sei, von diesem Recht so wenig wie möglich Gebrauch zu machen, sondern sich mit den anderen zu verständigen. Dies läuft auf einen Vertrag hinaus, in dem alle ihre natürlichen Rechte aufgeben und einem einzigen übertragen, der dadurch die gesamte Macht innehat. Dadurch wird die Unsicherheit des Naturzustandes, in dem potenziell jeder gegen jeden kämpft, überwunden und in eine stabile Herrschaftsform überführt (s. Hobbes 1651). Hobbes steht damit exemplarisch für die Tendenz des neuzeitlichen Naturrechts zum Absolutismus (Tuck [1979] 2012). Methodisch folgt Hobbes der neuzeitlichen Naturforschung darin, den Untersuchungsgegenstand in seine Elemente zu zergliedern, um von deren Natur aus die Form des Ganzen zu verstehen. Das ist auch die systematische Funktion der Naturzustandstheorien im neuzeitlichen Naturrecht.

 

Auf der anderen Seite leitet Locke aus der Natur der Menschen ab, dass sie ihre Freiheit niemals abgeben können und dass deshalb jede politische Herrschaft nur durch Zustimmung eingesetzt werden kann und von dieser Zustimmung auch abhängig bleibt. Daraus folgt, dass die Bürger eine Reihe von Rechten behalten, die sie Hobbes’ Theorie zufolge im Akt der Einsetzung des Souveräns abgeben mussten und nur im Rahmen der Genehmigung des Herrschers wahrnehmen konnten. Neben dem Schutz des Eigentums und der daraus folgenden Legitimation von Herrschermacht gehört bei Locke auch der Schutz vor Machtmissbrauch (Widerstandsrecht) zu den natürlichen Rechten. Auch wendet Locke sich gegen die Sklaverei durch Selbstverkauf; nicht jedoch gegen die aus Kriegsgefangenschaft. Sklaverei sei denkbar als fortdauernder partikularer Kriegszustand innerhalb des allgemeinen Friedens.

Insgesamt legt Hobbes seinem ‚existentiellen‘ Naturrecht einen eher pragmatischen Begriff des Individuums zugrunde, Locke hingegen greift ‚ideell‘ auf Motive der theologischen Rechtslehre zurück: Der Mensch ist von Gott als freies Wesen geschaffen. Bei beiden ist aber der wesentliche Punkt des Naturrechts die Lehre, dass Menschen überhaupt natürliche und deshalb unveräußerliche Rechte haben, und das ist der Grundgedanke von Menschenrechten. Lockes Überlegungen wirken damit auf die Unabhängigkeitserklärung der USA (1776), die der französischen Menschenrechtserklärung (1789) als Vorbild dient.

Der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit, existenziellem und ideellem Naturrecht wird bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) insofern überwunden, als er den Begriff des Naturzustandes und damit den der menschlichen Natur neu fasst: Der Mensch ist nicht feindselig und egoistisch, sondern hilfsbereit und mitleidvoll. Feindschaft entsteht erst durch die Zivilisation (→ IV.6). Weil die menschliche Natur an sich gut ist, wird überhaupt erst im Unterschied zur faktischen kollektiven Willensbildung (volonté de tous) ein objektiv allgemeiner Wille (volonté générale) denkbar. Daraus entwickelt Immanuel Kant (1724–1804) später den Begriff der Gesetzmäßigkeit des Wollens im kategorischen Imperativ. Auch Kant kommt es auf die Verbindung von Glückseligkeit und Moral an, also auf die Verbindung der existenziellen, |47|triebhaft-leiblichen und der ideellen, geistigen Seite der menschlichen Natur, wenngleich dies bei ihm problematisch bleibt. Solange Moral ideell bleibt, soll das erzwingbare Recht Vernunft in die wirklichen Verhältnisse bringen. Johann G. Fichte (1762–1814) und Georg W.F. Hegel (1770–1831) wollen diesen Gegensatz von Moral und Recht mit dem Begriff der Sittlichkeit überwinden, in dem individuelle und objektive vernünftige Handlungsbestimmungen miteinander und auch mit den materiellen Bedingungen des Handelns koinzidieren. Das Recht bedarf dann keines Zwanges mehr und ist von der Moral nicht zu unterscheiden.

Obwohl der Mensch immer weiter in den Mittelpunkt des Naturrechtsdenkens tritt, bleibt seine Einbindung in eine göttliche Schöpfungsordnung der letzte Anker der Legitimation des Rechts (Haakonssen [1996] 2012). Das liegt daran, dass die Normativität des Rechts ja einen Zustand fordert, der nicht real ist: Der vernünftige, gerechte Zustand ist ein Ideal, zu dem die Menschheit sich nur allmählich hin entwickeln kann. Daher bindet die Philosophie der Aufklärung Recht an Geschichte, an Fortschritt. Der Begriff geschichtlichen Fortschritts (→ I.5) ist aber nur dann ein verbindlicher Begriff, wenn seine Erfüllung garantiert ist. Diese Garantie leistet bei den Materialisten eine deterministische Naturordnung (auch des Handelns) und bei den Rationalisten die göttliche Vorsehung. Diese findet sich noch bei Kant, der aber statt von Vorsehung von einer Absicht der Natur spricht, und bei Hegel, bei dem Geschichte als zielstrebige Selbst-Entfaltung der Vernunft in der Welt vorgestellt wird (s. weiterführend Siep et al. 2012).

Dennoch wird allmählich erkannt, dass der Allgemeinheitsanspruch von Recht nur durch die Vernunft, an der alle Menschen teilhaben, gewährleistet werden kann. Bei Kant und Hegel ist von Natur im Zusammenhang des Rechts kaum noch die Rede, aber viel von Vernunft. Zwar gelten auch die früheren normativen Naturordnungen als vernünftig, aber jetzt löst sich die Vernunft von ihrer Verankerung in Natur. Die Rechtsordnung bildet eine zweite Natur, die aus der vernünftigen menschlichen Freiheit hervorgeht. Recht dient dann der Sicherung und Ausgestaltung menschlicher Freiheit unter der Bedingung der Gleichheit. Freiheit und Gleichheit sind von Anfang an zentrale Begriffe der bürgerlichen Gesellschaft, die sich gegen den Feudalismus absetzt. Das Recht ist das entscheidende Instrument hierbei. Bei Kant und auch bei Hegel bedeutet der Begriff der Freiheit aber nicht mehr Willkürfreiheit, sondern Autonomie, vernünftige Selbstbestimmung. Unter dieser Voraussetzung lässt sich aber z.B. das exklusive Privateigentum nicht mehr bruchlos begründen, und die Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft, insb. jene im Zusammenhang von Armut und Reichtum, führen im Vernunftrecht zu Schwierigkeiten und Fragen, die weder aus dem formellen Recht noch aus dem Naturrecht beantwortet werden können (→ III.5).

5. Moderne: Rechtserzeugung als Rechtsgrund

Im 19. Jh. kommt es erneut zu gravierenden Veränderungen der Sozialstruktur. Die feudale Ständeordnung weicht endgültig einer bürgerlichen Ordnung, in der alle Einzelnen gleich berechtigt werden. Im Zuge der Industrialisierung und |48|Ökonomisierung der Gesellschaft bilden sich Parteien und Interessengruppen, die Einfluss auf die politische Macht und auf die Entwicklung des Rechts nehmen. Die Vorstellung universaler Machbarkeit, die mit der wechselseitig beschleunigten Entwicklung von Naturwissenschaften und Technik einhergeht, ersetzt die Vorstellung einer vorgegebenen natürlichen Ordnung. Natur wird zur Verfügungsmasse menschlicher Interessen, und insb. auch die zweite Natur, d.h. die institutionalisierte gesellschaftliche, politische und rechtliche Ordnung. Die Gesetzgebung wird zunehmend deliberativ. Recht kann wechseln wie die partikularen Interessen untereinander wechseln und in der Zeit sich wandeln. Auch eine ordnende Kraft der Vernunft wird nicht mehr gesehen. Der gleichzeitig wachsende Bedarf an verbindlich gültigen Gesetzen führt zu einer umfassenden Kodifizierung des geltenden Rechts, die das Naturrecht weitgehend ablöst (Wieacker 2016). Dem Naturrecht tritt ein positivistisches Rechtsverständnis gegenüber, demzufolge jedes wirkliche und wirksame Recht Rechtskraft hat.

Karl Marx (1818–1883) erkennt hinter dieser Positivität (dem Gesetztsein) des Rechts seine gesellschaftliche Funktion. Das historisch gegebene Recht ist ein Instrument zur Interessenkoordination in der kapitalistischen Gesellschaft, in der die Menschen nicht frei, sondern pseudo-natürlichen Sachzwängen unterworfen sind. Das um seine naturrechtliche Verve gebrachte positivistische bürgerliche Recht ordnet nur diese Sachzwänge. Deren Nicht-Natürlichkeit ist bei Marx die Voraussetzung ihrer Veränderbarkeit.

Das Naturrecht, so der Positivist Hans Kelsen (1881–1973), konnte nur deshalb aus der Natur Recht ableiten, weil es von der falschen Voraussetzung ausgegangen sei, dass die Naturordnung eine göttliche Anordnung, also normativ sei (Kelsen [1960] 2000: 80). Das Naturgesetz beschreibt aber faktische Funktionszusammenhänge (→ II.7), wogegen die Aussagen der Rechtswissenschaft (Rechtssätze) Funktionszusammenhänge im Modus des Sollens beschreiben. Die Wissenschaft selbst schreibt aber keine Normen vor; das tut nur der Gesetzgeber.

Die Naturrechtsdiskussion flammt in Deutschland nach dem Ende des Dritten Reiches noch einmal auf. Gustav Radbruch (1878–1949) vertritt die These, dass der Rechtspositivismus den deutschen Juristenstand gegenüber dem Führerprinzip „wehrlos“ (Radbruch 1946) gemacht habe. Erst später, nach dem Abklingen des Schocks, konnte erkannt werden, dass nicht bloß der Positivismus, sondern mindestens ebenso ein naturrechtlich aufgeladener Führer- und Volkskult der Grund gewesen war.

Die folgende Naturrechtsdiskussion berief sich auf theologische, existenzialistische oder ontologische Gründe, selten auch auf den Vernunftbegriff Kants (Kühl 1984), konnte sich aber letztlich nicht gegen das positivistische Rechtsverständnis durchsetzen. Zwar wird auch heute, besonders im Bereich der Menschenrechte, also im Staats- und Völkerrecht, gelegentlich an Naturrechtsinhalte unter dem Titel ‚überpositives Recht‘ appelliert; das ist aber der logischen Form nach nur ein Konstrukt, das durch die Negation des Positiven (nicht positiv, sondern über-positiv) entsteht und dessen Geltungsgrund – Natur oder etwas Anderes – nicht weiter benannt werden kann.

Die moderne Rechtstheorie reagiert auf den faktischen Positivismus. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns (1927–1998) versteht sich selbst als nicht-normative Theorie, als Beobachterposition. Theorie erzeugt kein Recht und beeinflusst es auch nicht. |49|Recht wird erzeugt durch Verfahren, die selbst rechtlich geregelt sind (Gesetzgebung, Rechtsanwendung, Verträge usw.): So erzeuge das Recht sich fortwährend selbst, es wird zum autopoetischen System erklärt, zu einem System, das sich durch Anwendung immanenter Regeln auf Gegenstände in seiner Umgebung (Systemumwelt) bezieht und diese dadurch zu Rechtsgegenständen macht. Außerhalb des Rechts gibt es kein Recht und innerhalb des Rechts gibt es nichts Anderes als Recht. Das Rechtsdenken hat sich insofern von der Normativität, die aus dem Naturrechtsdenken überliefert war, abgekoppelt.

Auch Jürgen Habermas (geb. 1929) lehnt den objektiven Begründungsanspruch des Naturrechts, auch des Vernunftrechts, ab, fürchtet aber ebenso die Konsequenz eines sich verselbständigenden Rechtssystems. Er schlägt vor, Rechtsgeltung an intersubjektive Rechtfertigungsdiskurse zurückzubinden, ohne freilich deren Verlässlichkeit begründen zu können.

Das Zurücktreten reflektierter und normativer menschlicher Subjektivität aus dem Rechtsverständnis hat viele Facetten; die krasseste ist die neo-naturalistische Auffassung von der menschlichen Natur, die sich in den letzten Jahren durchsetzt: Menschen seien durch ihre Physis determiniert (→ III.9), ihr Geist bestehe aus neurophysiologischen Reaktionen im Gehirn und im Nervensystem, und es gebe keine Freiheit des Willens. Der Naturalismus im Recht geht nun davon aus, dass Menschen zwar keinen freien Willen haben, aber dennoch für Handlungen verantwortlich gemacht werden können. Das läuft auf den Unterschied hinaus, dass Handlungen zwar durch wissenschaftliche Analyse letztlich als determiniert ausgewiesen werden könnten, dass sie aber in der alltäglichen Erfahrungsperspektive als selbstbestimmt und frei wahrgenommen werden. Deshalb lässt sich in diesem Erfahrungsraum das Handeln auch durch Sanktionen steuern. Das positivistische Rechtsverständnis sieht dementsprechend die Aufgabe des Rechts nicht mehr im Schutz von Rechtsgütern wie Freiheit, Eigentum oder Leben, sondern im Schutz der Normgeltung selbst. Das Recht beschützt um des gesellschaftlichen Friedens Willen sich selbst und darf, ja muss zu diesem Zweck den faktischen Normverletzer symbolisch bestrafen, auch wenn theoretisch unklar bliebe, ob es Schuldfähigkeit überhaupt gibt. In einer Gesellschaft, in der die Menschen weitgehend durch Sachzwänge beherrscht werden und faktisch die Kontrolle über ihr Leben verlieren, liegt ein solches Rechtsverständnis nahe.

Der zugrunde gelegte Naturbegriff ist allerdings, bei aller neurophysiologischen Subtilität, mechanistisch, wogegen der Naturbegriff im Naturrecht ein organisch-teleologischer gewesen ist. Positivismus und Naturalismus tendieren deshalb dazu, den Gegensatz im Verhältnis von Natur und Recht zur Natur hin aufzulösen: Rechtsverbindlichkeit wird wie Naturdeterminismus angesehen. Was eine Analogie war, tendiert zur Identifikation.

Zu Beginn waren zwei Elemente im Verhältnis von Natur und Recht benannt worden: Analogie und Entgegensetzung. In den positivistischen und naturalistischen Strömungen wird dieses Verhältnis auf das Element der Analogie verkürzt. Das andere Element, der Unterschied zwischen Naturgesetz und Rechtsgesetz, war aber die notwendige Bedingung dafür, die Normativität des Rechts nicht nur zu beschreiben, |50|sondern an sie die begründete Forderung zu richten, der vernünftigen menschlichen Freiheit gerecht zu werden.