Buch lesen: «Nachhaltigkeit interdisziplinär», Seite 8

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Nachhaltigkeit vs. nachhaltige Entwicklung: Übertragung und Rückübertragung

Nachdem der Nachhaltigkeitsbegriff über 200 Jahre hinweg im Wesentlichen in der Forst- und Fischereiwirtschaft eine Rolle spielte und dann auch auf steuerliche Abschreibungsmechanismen bezogen wurde (Grunwald/Kopfmüller 2006: 16), ergab sein Einzug in die internationale Umweltpolitik eine entscheidende Zäsur. Im Jahr 1972 wird die Nachhaltigkeit im Bericht Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome erstmals an prominenter Stelle erwähnt und in der Folge der ersten großen UN-Umweltkonferenz von 1972 im Rahmen des dort gegründeten Umweltprogramms zu einem der zentralen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen erklärt. Nach dem Brundtland-Bericht Unsere gemeinsame Zukunft aus dem Jahr 1987 ist es dann insbesondere die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992, die den Begriff der Nachhaltigkeit in das Konzept der nachhaltigen Entwicklung überführt und in der Agenda 21 konkretisiert:

Nachhaltige Entwicklung bedingt zwar nachhaltige Naturnutzung, beinhaltet darüber hinaus aber auch eine wirtschaftliche und gesellschaftliche (d. h. soziale, kulturelle, entwicklungspolitische usw.) Entwicklung, welche in umfassender Weise die Bedürfnisse der gegenwärtig lebenden Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. (Höltermann/Oesten 2001: 44)

Auch wenn die Begriffe „nachhaltige Entwicklung“ und „Nachhaltigkeit“ häufig synonym verwendet werden und eine ungebrochene Linie der Kontinuität zumindest implizit gezogen wird: Forstliche Nachhaltigkeit ist klar gegen die ungleich umfassendere und komplexere „nachhaltige Entwicklung“ abzugrenzen, die über den Aspekt der Naturnutzung hinaus auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung umfasst. In neueren Veröffentlichungen zur Nachhaltigkeit wird der Kern des Konzepts außerhalb des engeren forstlichen Kontextes als ethisches Leitbild der Zukunftsverantwortung im Sinne einer intragenerativ-globalen und intergenerativen Gerechtigkeit gesehen (Grunwald 2004: 314). Im Rahmen des Begriffs der nachhaltigen Entwicklung mit den drei Säulen einer ökologischen, ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeit hat sich der gesamtgesellschaftliche Nachhaltigkeitsdiskurs damit in der weitest denkbaren Weise vom ursprünglich auf die Nachhaltigkeit der Holzerzeugung zielenden, ökonomischen Begriffsverständnis von Carlowitz entfernt.

Der gesamtgesellschaftliche Diskurs um nachhaltige Entwicklung führte zu einer Rückübertragung des Nachhaltigkeitsbegriffs in den Forstbereich und seine Fachsprache. Das seit dem Brundtland-Report etablierte Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit ist nun auch im Forstbereich zu einem Standarddenkmodell geworden und findet sich nicht nur in sämtlichen Zielsystemen von Landesforstverwaltungen, kommunalen oder privaten Forstbetrieben, sondern grundiert auch die strategische Kommunikation und Rhetorik.5 Daher ist es schwierig, für die zurückliegende Dekade von einem verbindenden Grundverständnis einer spezifisch ‚forstlichen Nachhaltigkeit‘ zu sprechen.

Im Rückblick wird erkennbar, dass in der Geschichte der Verwendung des Nachhaltigkeitsbegriffs in der Forstwirtschaft und außerhalb nicht einfach nur ein Wandel von Kriterien bzw. mit dem Begriff verbundenen Ansprüchen zu erkennen ist, sondern eine Addition immer neuer Bedeutungsebenen stattgefunden hat, der Begriff durch diese Ausweitung zum Universalprinzip geworden ist und damit jeglicher Definition (verstanden als „Begrenzung“) enthoben wurde. In den dadurch entstandenen Freiräumen, so könnte man mit einer Umbewertung als sog. „Grenzbegriff“ oder „Grenzkonzept“6 einwenden, hat der Begriff der Nachhaltigkeit erst seine wahre, nunmehr globale Bestimmung gefunden und gewährleistet, dass mehr denn je über eine zukunftsorientierte und -fähige Ressourcennutzung gesprochen und diskutiert wird.

3.2Fallbeispiele und Praktiken: Von Hiebsätzen bis zur Klimaanpassung
Forstliche Nachhaltigkeit: Verwendungsweisen und Funktionen

Für die Verwendung des Nachhaltigkeitsbegriffs in der Forstwirtschaft in Geschichte und Gegenwart bedeutet die beschriebene Entgrenzung und Ausweitung v. a. auf unterschiedlichste komplementäre, aber auch konkurrierende Ziele (z. B. Holzerzeugung, Sicherung der Erholungsfunktion der Wälder sowie den Erhalt der natürlichen Ressourcen zur Sicherung seiner Schutzwirkungen, etwa für Biodiversität, Wasserqualität oder Klima), dass der Charakter dieses Begriffs als eines Fachterminus nur noch für seltene Einzelfälle besteht.

Im Sinne eines Kriteriums oder einer Eigenschaft („nachhaltige Forstwirtschaft“) zur Beschreibung einer bestimmten vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Wirtschaftsweise bezeichnet der Begriff scheinbar einen festen Bedeutungskern, der freilich mit einer Vielzahl von erläuternden operationalen Kriterien und Indikatoren paraphrasiert werden muss, um tatsächlich als Orientierungskriterium (etwa im Rahmen strategischer Planungen) gelten zu können. Als definierter Indikator ist die Nachhaltigkeit etwa in Form sog. „Formelweiser“ wirksam, die als Hilfsmittel zur Bestimmung bzw. Festlegung von sog. Hiebsätzen (= vorgegebene durchschnittliche jährliche Nutzungsmenge an Holz, bezogen auf 1 ha Waldfläche) im Rahmen der im obligatorischen Zehn-Jahres-Turnus durchgeführten „Forsteinrichtung“ (= Forstplanungsverfahren) berechnet werden – im allerdings denkbar engsten forstlichen Bedeutungsrahmen. Der Hiebsatz als „nachhaltiges Produktionspotenzial“ bei der Waldbewirtschaftung ist, wie oben erwähnt, jedoch nicht das alleinige Kriterium bei der nachhaltigen Bewirtschaftung von Wäldern: Neben der Frage nach Holzmengen und -qualitäten sind z. B. Fragen der Widerstandskraft gegen Schadinsekten („Stabilität“), des Beitrags zum Schutz des Bodens, der Biodiversität oder des Klimas von zentraler Bedeutung und entsprechende Leistungen werden gesellschaftlich stark nachgefragt.

Dass der Wald sich im Rahmen einer der Nachhaltigkeit (des Holzertrags) verpflichteten, wissenschaftlich bzw. von staatlichen Verwaltungen systematisch betriebenen Forstwirtschaft oftmals ungeplanten Krisen und Kalamitäten ausgesetzt sah, ist gut dokumentiert und oft beschrieben worden. Dass Preußen (vgl. Küster 1998: 185 ff.) in Zeiten großen Holzbedarfs im Deutschland nach dem Wiener Kongress 1815 (und vor der Ära der fossilen Kohle, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend Holz und Holzkohle als Energieträger ersetzte) mit großem Aufwand und auf großen Flächen Fichtenaufforstungen anlegte, um wirtschaftliche Unabhängigkeit und Profit zu erzielen, ist ein klassisches Beispiel dafür, wie wenig eine auf einzelne Aspekte gerichtete Waldbewirtschaftung den umfassenden Ansprüchen an den Wald und den vielfältigen ökologischen Risiken gerecht werden kann. Es zeigt, wie seinerzeit unvorhersehbare Entwicklungen erst im Rückblick unsere heutige Einschätzung der „tatsächlichen Nachhaltigkeit“ von Forstwirtschaft bestimmen: Weit verbreitete Bodenversauerungen, Schädlingsbefall, Sturmschäden und enttäuschte Ertragshoffnungen zeugten von Problemen, die im Vorhinein kein Forstplaner im Blick hatte.7 Und noch etwas zeigt sich mit Blick auf die Waldbewirtschaftung im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland: Eine sich dann erst nach den großen Aufforstungswellen entwickelnde, auf größere Arten- und Strukturvielfalt setzende, sich im Rückblick als „stabiler“ und in diesem Sinne „nachhaltiger“ erweisende Forstwirtschaft konnte erst in dem Moment Erfolg haben, als viele Wirtschaftszweige die Rohstoffe des Waldes nicht mehr in der Menge brauchten wie zuvor und als der wirtschaftliche Druck auf die Wälder nachließ (Küster 1998: 195). Hier zeigt sich zugleich das bereits beschriebene Problem der Ungewissheit bzw. der Ignoranz angesichts eines extrem langfristigen Entscheidungshorizonts – das Kriterium bzw. der Anspruch der „Nachhaltigkeit“ soll heutiges Handeln leiten, obwohl die „tatsächliche Nachhaltigkeit“ („Hier wurde nachhaltig/nicht nachhaltig gewirtschaftet“) erst morgen, d. h. in einem Nachhinein von i. d. R. mehr als hundert Jahren beurteilt werden kann (Detten 2013: 54; Detten/Oesten 2013). Da sich über diese Zeiträume hinweg niemals mit Gewissheit sagen lässt, welcher Anteil am zugeschriebenen Erfolg oder Misserfolg der Entwicklungen sich tatsächlich einem plangemäßen forstlichen Handeln zuschreiben lässt bzw. welcher Anteil anderen Einflussvariablen („äußeren Umständen“) zugeschrieben werden muss, sind es allein retrospektive, rückwärtsgerichtete Interpretationen und sinnstiftende Erzählungen, die als nachträgliche Erklärungen für vergangene Vorgänge und Erfahrungen auch für die Zukunft einen handlungsleitenden Referenzcharakter beanspruchen können (siehe dazu Weick 1995: 27 ff.).

Dass unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten getroffene Entscheidungen auch aufgrund von technologischen Entwicklungen rückblickend als „nicht nachhaltig“ im Sinne der ursprünglich verfolgten erwerbswirtschaftlichen Ziele zu beurteilen sind, kann das von Oesten und Roeder (2012: 149) beschriebene Beispiel der Eichenschälwälder in Mittelbaden zeigen: Mit dem Ziel, Eichenrinde zu gewinnen, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in bäuerlichen Wäldern Mittelbadens mit staatlicher Unterstützung der teure Umbau von Wäldern in Eichenwälder gefördert. Die Entwicklung künstlicher Gerbstoffe und der technologische Fortschritt in der chemischen Industrie ließen allerdings den Markt für Eichenrinde ab ca. 1880 nahezu völlig zusammenbrechen und alle Investitionen, die in Erwartung hoher Erträge in den Waldumbau getätigt wurden, wertlos werden. Eine besondere Pointe hierbei ist es, dass die bis heute weitgehend ertragsschwachen Wälder inzwischen unter Naturschutzgesichtspunkten als sehr wertvoll erachtet werden. Beide unvorhergesehenen Entwicklungen, der Markteinbruch wie die spätere naturschutzfachliche Wertschätzung, konnten nicht vorausgesehen werden und sind prototypische Ereignisse, die die problematische Langfristigkeit der Waldwirtschaft kennzeichnen: Sie machen die Antwort auf die Frage, ob die ursprüngliche Entscheidung für die Eichenschälwälder als „nachhaltig“ oder „nicht-nachhaltig“ zu bewerten ist, zu einer Frage des zeitlichen (und auch inhaltlich-normativen) Standpunkts.

Im Sinne eines ethischen Postulats formuliert der Nachhaltigkeitsbegriff das Problem der angestrebten zukünftigen Gegenwart8 und bezeichnet einen Anspruch darauf, die forstliche Bewirtschaftung der Wälder an klaren moralischen Prinzipien zu orientieren – die sich in schwacher oder starker Weise formulieren lassen (Ott/Döring 2004). Erneut muss hier jedoch das Nachhaltigkeitsprinzip als ethisches Prinzip durch eine Vielzahl von weiteren ethischen Kriterien oder Prinzipien gestützt werden und etwa auf eine Güterlehre oder eine differenzierte Gerechtigkeitstheorie verweisen (Christen 2008), will es nicht leer oder beliebig werden, sondern in der (forst)politischen Debatte Zustimmung erzielen. Dies geschieht allerdings in forstlichen Debatten so gut wie niemals – die Begründungszusammenhänge werden auch in kontroversen Debatten nicht expliziert, und im Rahmen von Leitbildern oder den seit vielen Jahren obligatorischen Nachhaltigkeitsberichten der Länderforstverwaltungen hat sich die formelhafte Wendung durchgesetzt, dass „ökologische, soziale und ökonomische Ziele im Staatswald gleichrangig umgesetzt“ werden – ein entsprechend „ausgewogenes Kennzahlensystem“ illustriert die Zielerreichung.9

Jenseits eines konkreten Verwendungskontexts kann man Nachhaltigkeitsdiskurse in einem sehr viel allgemeineren Sinne als Krisendiskurse verstehen,10 die in bestimmten historischen Situationen aktiviert wurden und werden und über die Bewältigungsstrategien in speziellen historischen Konstellationen ausgehandelt oder legitimiert werden sollen. Das Beispiel Carlowitz’ im Rahmen zeitgenössischer Holznot-Debatten11 wurde bereits angesprochen: Zahlreiche Studien haben hier herausgearbeitet, welche wichtige Rolle der Nachhaltigkeitsbegriff in der Forstgeschichte zur Rechtfertigung der Durchsetzung staatlicher und auch privater Ansprüche hinsichtlich der Verfügungsrechte über die Nutzung von Wäldern gespielt hat.

Ein aktuelles Beispiel für die Schwierigkeit, eine echte „Strategie der Nachhaltigkeit“ als „zukunftsfähig im langfristigen Sinne“ schon vorausschauend zu bestimmen, ist der Umgang mit dem Klimawandel: Dieser wird den Einschätzungen von Forstwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie von Forstpraktikerinnen und -praktikern zufolge als Einschnitt in den bisherigen Umgang mit Wäldern wahrgenommen und es werden allerorten entsprechend deutliche, langfristig wirksame Gegen- bzw. Anpassungsmaßnahmen propagiert. Was genau allerdings solche Anpassungsstrategien erfordert, mit welchen Baumarten und waldbaulichen Verfahren unsere Wälder zu gestalten sind, ist ungewiss und oftmals unter Expertinnen und Experten umstritten. Klima- und Waldwachstumsmodelle gibt es viele – ebenso jedoch gibt es viele Risiken, die mit einer Umsetzung jeder dieser (unterschiedlichen) propagierten Waldumbaustrategien verbunden sind. Zum einen sind da die gewaltigen Kosten eines flächenhaften Umbaus, zum anderen sind mit dem Umbau beträchtliche Risiken (z. B. der tatsächlichen „Klimastabilität“ oder des Ertrags) verbunden – und die Szenarien, mit denen allein man auf ein mit so großen Unsicherheiten behaftetes Phänomen wie das des Klimawandels („Wie entwickeln sich die Wachstumsbedingungen infolge des Klimawandels in den nächsten 100 Jahren?“) reagieren kann, weisen in verschiedene Richtungen, so dass die Risiken des „Weitermachens wie bisher“ auf beträchtliche Risiken einer „falschen Anpassung“ treffen. Auch hier wird sich erst im Nachhinein herausstellen, welche heute getroffenen Maßnahmen sich als tatsächlich „nachhaltig“ im Sinne einer Klimaanpassung erwiesen haben.

Achtet man einerseits auf die Stellen in Waldnutzungsdebatten, an denen die Leitvorstellung der Nachhaltigkeit wichtig wird, und andererseits auf die spezielle Wirkung, die die Verwendung des Nachhaltigkeitsbegriffs dabei erzeugt, so lässt sich folgendes Bild skizzieren:

Zunächst ist da die positive Vorstellung eines nachhaltigen Umgangs mit dem Wald, die auf Beruhigung, Stetigkeit, Gleichgewicht und Balance und die Versöhnung von Gegensätzen (Substanz und Produktivität, Erhalt und Wachstum, Ökonomie und Ökologie und Soziales, Gegenwart und Zukunft etc.) sowie auf den Erhalt der Fülle und die Bewahrung von Potenzialität gerichtet ist. Sie wird v. a. dann aktualisiert, wenn der Problematik der langfristigen Bewirtschaftung von Waldökosystemen unter Bedingungen von Komplexität, Unsicherheit, Risiko, Ambiguität, Kontingenz und Nutzungskonflikten mit Planungen und optimistischen Zukunftskonzepten begegnet werden muss. Die Rhetorik der Nachhaltigkeit wirkt kompensatorisch: Sie verlagert gegenwärtige Zielsetzungs- und Entscheidungsprobleme in die Zukunft,12 sie verdeckt Unsicherheit und Nicht-Wissen und ermöglicht einen Ebenenwechsel von einem sachlichen hin zu einem moralischen Diskurs und harmonisiert Ziel- und Interessenkonflikte im Rahmen einer universalen Zustimmungsfähigkeit.

Kritik an Nachhaltigkeitsverwendungen und -diskursen

Im forstlichen Fachbereich wurde viel Kritik an der Nachhaltigkeitsrhetorik geübt: an der Verwendung der Nachhaltigkeit als universal verwendbare Projektionsfläche, deren Gebrauch von schlechtem Gewissen entlastet, an dem meist fehlenden Bezug zu konkreten Interessen und Sachzwängen, zu konkreten sozialen Beziehungen und politischen Entscheidungsprozessen. Eine inhaltlich-konzeptionelle bzw. erkenntnistheoretisch fundierte Kritik ist weitaus seltener anzutreffen, ergibt sich aus dem bisher Gesagten allerdings zum einen aus der Vorstellung der Balance zwischen Gesellschaft und Umwelt, welche mit der Theorie komplexer und dynamischer Systeme nicht in Einklang zu bringen ist (moderne Gesellschaften als entropische/ungeordnete Systeme). Zum anderen – so wurde bereits deutlich – bleibt der Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Langfristigkeit der Bewirtschaftung von Wäldern und der Tatsache der irreduziblen Unsicherheit im Umgang mit Komplexität und Dynamik sozio-ökologischer Systeme mit nicht-modellierbaren Interdependenzen bestehen. Eine weitere Ebene der inhaltlichen Kritik betrifft den Steuerungsoptimismus, der mit dem Gebrauch des Nachhaltigkeitsbegriffs zumeist verbunden ist. Dem wird entgegengehalten, dass Nachhaltigkeit in Bezug auf das Ziel einer langfristigen Handlungsstrategie als ein nur in begrenzter Weise gerichteter Prozess des Suchens und Lernens verstanden werden kann (Grunwald/Kopfmüller 2006: 12). Seltener wird mit Blick auf die Forstwirtschaft bzw. forstliche Nachhaltigkeit eine andernorts13 laut gewordene Kritik der Nachhaltigkeit als Ideologie geübt, die vom Leerformelvorwurf ausgeht.

3.3Fazit: Nachhaltigkeit als Praxis

Versucht man, aus dem Befund der Polyvalenz und Wandelbarkeit der forstlichen Nachhaltigkeit als im Kern ethisches Postulat der Gerechtigkeit, Langfristigkeit und Ressourcenschonung, aus einer Betrachtung der Verwendungsweisen und Funktionen des Nachhaltigkeitsbegriffs in forstlichen Debatten sowie aus der sich damit verbundenen Kritik ein Fazit zu ziehen, so hat man es mit einem widersprüchlichen, gleichermaßen problematischen wie wirkmächtigen Begriff zu tun. Was sich verbietet, ist die naive, auf die selbsterklärende Form und den Konsens aller Beteiligten vertrauende Verwendung oder Lesart des Begriffs. Es besteht stattdessen die Notwendigkeit, von Nachhaltigkeiten auszugehen und für jeden Kontext zu ermitteln, welche Bedeutung und welche Funktion der Nachhaltigkeit beigemessen wird. Nachhaltigkeit ist stets, so lehrt die Geschichte und Gegenwart ihres Gebrauchs, ein Indikator für tieferliegende Denkmuster und Grundannahmen und damit auch ein Indikator (und potenzieller Katalysator) dafür, dass sich grundsätzliche Fragen nach Gerechtigkeit, Macht, Freiheit oder dem Umgang mit Unsicherheit stellen. Dass eine konzeptionelle und rhetorische Entgrenzung des Begriffs zu seiner Entleerung führen muss, macht eine Re- oder Dekonstruktion umso wichtiger. Die Strategie, Komplexität, Zukunftsungewissheit und soziale Undurchschaubarkeit mit Hilfe einer kompensierenden Nachhaltigkeitsrhetorik auf die normative Ebene zu verlagern, in die Zukunft zu verschieben oder in harmonische Utopien zu überführen, mag verbreitet sein: Gerade die auf Langfristigkeit ausgerichtete Forstwirtschaft ist aber ein paradigmatisches Beispiel dafür, dass Nachhaltigkeit ein (gesellschaftlich bzw. politisch auszuhandelnder) Gegenwartsbegriff bleibt und nicht als Zukunftsstrategie im engeren Sinne bedeutsam ist: Er spiegelt die Vorstellungen von einer gegenwärtigen Zukunft und klärt daher zuallererst über die eigenen Wahrnehmungen, Bewertungen und das vorhandene Wissen auf, das sich allerdings erst künftig als wertvoll oder zu begrenzt erweisen wird.

Welche Zukunft aber hat der Nachhaltigkeitsbegriff selbst? Wo mit dem Begriff, wie gesehen, Utopien und langfristiger Gestaltungs- und Planungsoptimismus transportiert werden, werden angesichts einer für die letzte Dekade zu verzeichnenden wachsenden Sensibilität für Unsicherheit, Risiko und Kontingenz in unserer Risikogesellschaft alternative Konzepte wichtig. Auch wenn hierzu gerade im Forstbereich noch keine gesicherten Studien vorliegen, so markiert die wachsende Konjunktur von Konzepten wie Robustheit, Elastizität oder v. a. Resilienz einen Übergang vom Nachhaltigkeitsdenken und seinem Fokus auf Langfriststrategien, dauerhafte Verfahren und Lösungen hin zu stärker reaktiven Regelungen eines permanenten Ausnahmezustands. Mit der Vorstellung der sog. „Klimaplastizität“ von Wäldern (d. h. der Vorstellung, man könne Wälder begründen, die sich dem unvorhersehbaren Klimawandel selbstständig und dynamisch anpassen können) hat die Debatte um den Klimawandel dafür gesorgt, dass ein solcher Paradigmenwechsel auch in der Forstwirtschaft spekuliert werden darf.

Zukunft will in Gestalt der Wälder von morgen, die bereits heute anzulegen sind (vgl. das o. g. Beispiel des Ziels, „klimastabile Wälder“ für morgen zu begründen), permanent entworfen und gestaltet werden. Dass es vor diesem Hintergrund zu kurz gegriffen wäre, Nachhaltigkeit allein als ein „Kind der Krise“ (s. o.) zu verstehen, zeigt ein abschließender Blick in die Geschichte der praktischen Waldwirtschaft. Nachhaltigkeit steht hier als Leitbild eines „reflektierten Umgangs mit Nichtwissen“ und „Handlungsanleitung unter dem Vorrang der schlechten Prognose“ (Karafyllis 2002: 273): Die die Waldwirtschaft regelnden Forst- oder Waldgesetze bzw. die damit verbundenen Regelordnungen (z. B. das Verbot von Kahlschlägen, strenge Auflagen beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln oder auch die Verpflichtung zu einer aufwändigen Planung der Waldwirtschaft im Zehn-Jahres-Turnus) legen Waldbesitzerinnen und Waldbesitzern vielerlei Schranken auf. Bei genauerer Betrachtung kreist diese „Sozialpflichtigkeit“ des Eigentums stets um die Frage, wie ein wie immer geartetes Nutzenpotenzial des Waldes gerade angesichts vielfältiger Risiken und Ungewissheiten und eines großen Bereiches an Nichtwissen zu erhalten ist. Diese explizit nachhaltigkeitsorientierten Regelordnungen sind in ihrem Kern Ausdruck von Bemühungen, angesichts von lokalen Besonderheiten, zeitlichen Schwankungen und der Erfahrungen stetigen Wandels Wälder zunächst zu erhalten und gegenüber neuen Bedingungen anpassungsfähig zu gestalten.14

In Waldwirtschaft und Forstplanung zeigt sich in exemplarischer Weise der Widerspruch zwischen Langfriststrategien und irreduzibler Unsicherheit. Der forstliche Anspruch, Wälder nachhaltig, d. h. vor allem langfristig zielgerecht steuern zu können, ist also mit Vorsicht zu betrachten. Geschichte und Gegenwart der Waldbewirtschaftung zeigen, dass Nachhaltigkeit im Sinne des fortwährenden Erhalts vor allem bedeutet, dass mit dem Unvorhergesehenen gerechnet werden muss. Forstliche Nachhaltigkeit in diesem Sinne ist die über Jahrhunderte erworbene Fähigkeit, sich darauf so gut es geht einzustellen – durch Flexibilität, die Streuung von Risiken, durch Vielfalt und das Vertrauen in die Widerstandkraft und Regenerationskraft der Natur – und nicht zuletzt durch eine Rhetorik der Nachhaltigkeit, die den Wald in den guten Händen der Forstwirtschaft weiß.

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