Buch lesen: «Nachhaltigkeit interdisziplinär», Seite 2

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Zu der in den Kapiteln zu Betriebswirtschaft, Konsumforschung und Ernährungsgeographie betonten Komplexität von Nachhaltigkeit fügt Melanie Ströbel in ihrem Kapitel zur Tourismusforschung einen weiteren Aspekt hinzu. Während sich viele Organisationen und lokale Destinationen um sanfte Formen des Tourismus bemühen (wie beispielsweise Ökotourismus, community-based tourism oder armutsbekämpfenden pro-poor tourism), ist die genaue Bedeutung von Nachhaltigkeit im Tourismus in der Forschung nach wie vor noch umstritten. Grund dafür ist u. a. die Notwendigkeit, bei der Bewertung von Nachhaltigkeit in diesem Bereich sowohl globale Entwicklungen als auch lokale Gegebenheiten zu beachten und ökonomische, ökologische und soziale Auswirkungen von konkreten Reise-Entscheidungen (wie etwa Wahl des Transportmittels oder Nähe bzw. Distanz der Urlaubsdestination), politischen Vorgaben oder Veränderungen in Betracht zu ziehen und gegeneinander abzuwägen. In ihrer Fallstudie zu Island verdeutlicht Ströbel das Zusammenspiel von vielseitigen positiven und negativen Effekten von Tourismus auf Ökonomie, Umwelt und Gesellschaft, welche die Nachhaltigkeitsdebatte in Wissenschaft und Praxis vor große Herausforderungen stellt.

Globale und lokale Zusammenhänge und Widersprüche stellt auch Tobias Hallers Kapitel aus der Sozialanthropologie in den Vordergrund. Haller verdeutlicht, dass Vorstellungen von Nachhaltigkeit im globalen Norden und im globalen Süden nicht identisch sind und dass die Perspektive der Letzteren gerade angesichts der globalen Dimensionen des Klimawandels ebenso wie der wirtschaftlichen Verflechtungen zwingend in die Nachhaltigkeitsdebatte einfließen muss. Die fehlende Kenntnis spezifischer kultureller Verständnisse von Nachhaltigkeit führt durch Mechanismen der Globalisierung zur Unterminierung und Zerstörung lokaler nachhaltiger Praktiken. Haller zeigt dies anhand von Fallbeispielen zur ehemals nachhaltigen Nutzung von Allmend-Ressourcen in Sambia und Sierra Leone, die durch lokales Wissen und konkrete Regelwerke gewährleistet war, durch koloniale und postkoloniale Prozesse jedoch beeinträchtigt und teilweise ruiniert wurde. Das Kapitel bietet einen neuen Analyserahmen, der auf politischer Ökologie und Institutionenmanagement beruht und es erlaubt, hegemoniale Aspekte des Nachhaltigkeitsbegriffs zu untersuchen und lokale Alternativen zu erforschen.

Wie Haller geht es auch Torsten Meireis in seinem Kapitel zur Ethik zunächst einmal darum, die Rolle von Nachhaltigkeit als etabliertes Leitkonzept zu hinterfragen. Kritisiert Haller aus der Sicht der Sozialanthropologie die Vorherrschaft eines westlichen Verständnisses von Nachhaltigkeit, das andere kulturelle Zugänge ignoriert, so erinnert Meireis daran, dass Nachhaltigkeit ein normatives Konzept ist. Als solches handelt es sich bei Nachhaltigkeit nicht, wie man angesichts der Verbreitung und Konsensfähigkeit des Konzepts meinen könnte, um einen Ist-Zustand oder spezifische und etablierte Handlungsweisen, sondern um eine kontrafaktische Zielbestimmung, deren Umsetzung offen ist und die damit einer ethischen Klärung moralischer Urteilsperspektiven bedarf. Anhand von diversen Fallbeispielen, wie etwa dem ins UNESCO-Welt-Naturerbe aufgenommenen europäischen Urwald im Gebiet von Bialowieza in Polen und Weißrussland, der Feinstaubbelastung in deutschen Städten und den amerikanischen coal rollers, beleuchtet Meireis Konzepte wie moralischen Anthropozentrismus, enge und weite sowie starke und schwache Nachhaltigkeit. Meireis betont die ethische Notwendigkeit einer Berücksichtigung kultureller Dimensionen von Nachhaltigkeit, wobei Kultur nicht als Instrument der Vermittlung von Nachhaltigkeit verstanden werden darf, sondern als Horizont, innerhalb dessen Wertvorstellungen und normative Präferenzen überhaupt erst entwickelt werden können.

Meireis betont abschließend auch die integrativen Leistungen einer Nachhaltigkeitsethik, die Fragestellungen nicht nur interdisziplinär beleuchten, sondern transdisziplinär erschließen kann. Ein ähnlicher Anspruch lässt sich im gesamtgesellschaftlichen Bildungsauftrag erkennen, um den es in Berbeli Wannings Kapitel zu Bildungspolitik und Didaktik geht, das sich mit der konkreten Umsetzung der geforderten Nachhaltigkeit als Bildungskonzept befasst. Wanning behandelt das Konzept „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) in politischer, historischer und systematischer Sicht und spannt einen Bogen zwischen bildungspolitischen Ansätzen (samt deren historischer Entwicklung) und spezifischen didaktischen Maßnahmen. Bildung für nachhaltige Entwicklung wird dabei als ganzheitlicher Prozess verstanden, der in enger Verbindung mit dem Ziel 4 (Quality Education) der Sustainable Development Goals steht. Besondere Aufmerksamkeit widmet Wanning neueren didaktischen Ansätzen des partizipativen, transformativen und globalen Lernens in Bezug auf Umweltbildung und Werteerziehung. Damit wird auch in diesem Kapitel die Wichtigkeit des Prinzips der Teilhabe betont, die Cordula Ott für die Nachhaltigkeitsgouvernanz und Tobias Haller im Rahmen der Sozialanthropologie hervorheben. Als Fallstudie dient Wanning das „globale Lernen“, verstanden als Querschnittsaufgabe, mit der die Globalität unserer Lebensbedingungen vermittelt werden soll. Hierbei verknüpft Wanning die Diskussion von internationalen Entwicklungen mit der Bildungspolitik Deutschlands unter Berücksichtigung von Auswirkungen auf Fächerkanon und Unterricht.

Wie Wanning in ihrem Kapitel hervorhebt, leisten gerade die sprachlich-literarischen Fächer einen wichtigen Beitrag für die Entfaltung des wertorientierten kritischen Bewusstseins, ohne das die Erziehung zur Weltbürgerschaft, auf die Bildung für nachhaltige Entwicklung abzielt, scheitern muss. Bildung für nachhaltige Entwicklung gehört zentral in den Bereich der ‚kulturellen Nachhaltigkeit‘, die in den letzten Jahren ergänzend zu den drei anderen ‚Säulen‘ – der ökonomischen, ökologischen und sozialen – von Seiten der Kulturwissenschaft zunehmend als konstitutive Dimension von Nachhaltigkeit diskutiert wird. Gabriele Rippl stellt die Geschichte sowie die unterschiedlichen Bedeutungen und Definitionen des komplexen Begriffs ‚kulturelle Nachhaltigkeit‘ vor. Sie entfaltet verschiedene (enge und weite) Konzepte von ‚Kultur‘, die dazu beitragen, die Rolle der Kulturwissenschaft in der Debatte um Nachhaltigkeit zu beleuchten. Während im Sinne der UNESCO und ihrer Welterbe-Projekte kulturelle Nachhaltigkeit darin besteht, die kulturelle Diversität, das kulturelle Erbe und regionale kulturelle Vielfalt zu fördern und zu bewahren, beleuchtet Rippl zusätzliche Bedeutungen des Konzepts, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben und eng mit kulturell geprägten Werten, d. h. mit normativen moralischen und ethischen Fragen zusammenhängen. Sie thematisiert exemplarisch verschiedenartigste Medien und Institutionen des kulturellen Gedächtnisses wie Museen, Archive, Bibliotheken und auch Kanones, die kulturspezifische Werte konservieren und tradieren. Letztlich stellt das Kapitel zur Diskussion, ob nicht die Kultur als das eigentliche Fundament für alle Formen der Nachhaltigkeit zu verstehen ist.

Wie Gabriele Rippl, so beleuchtet auch Urte Stobbe in ihrem Kapitel zu den kulturwissenschaftlichen Pflanzenstudien einen Teilbereich der nicht primär textbasierten Kulturwissenschaften. In ihrer Auseinandersetzung mit diesem Gebiet spürt Stobbe den Bezügen zwischen Menschen und Pflanzen nach und legt dar, inwiefern Konzeptionen von Nachhaltigkeit mit menschlichen Vorstellungen von Pflanzen und ihrer symbolischen Bedeutung in Verbindung gebracht werden können. Hierbei konstatiert sie neben Aspekten der Vorsorge und der Verantwortung, die über Pflanzenmetaphorik transportiert werden, auch eine konzeptuelle Nähe des Nachhaltigkeitsgedankens zu Vorstellungen von Kontinuität und Beständigkeit. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Fallbeispiel zu Schildbachs Holzbibliothek in Kassel, das zeigt, wie pflanzliches Material zur Speicherung und Verbreitung von botanischem Wissen eingesetzt und damit auch selbst nachhaltig gesichert wurde. Stobbes literarische Fallbeispiele zeigen ergänzend, wie im frühen 19. Jahrhundert versucht wurde, über Pflanzenbilder Kontinuität in sowohl zwischenmenschlichen als auch intergenerationellen Bereichen zu stiften, und wie nachhaltige Praktiken über Bilder vom Umgang des Menschen mit Pflanzen kulturell begründet und verankert wurden. Aus dem Vorkommen ähnlicher Pflanzenbilder, wie etwa Bäumen als symbolischen Garanten für Fortbestand, zieht Stobbe den Schluss, dass es sich hier um eine anthropologische Konstante handelt.

Wenngleich medial und künstlerisch andersartig präsentiert, speichern und tradieren auch populäre Lieder wahrgenommene ökologische Transformationen, diesbezügliche kollektive Reaktionen und artikulieren oft bildlich-metaphorisch Visionen einer nachhaltigeren Gesellschaft. Aus der Perspektive der Popmusikforschung analysiert Thorsten Philipp das populäre Lied als eine ästhetische Praxis, die menschgemachte ökologische Risiken und diesbezügliche (sozial)ethische Imperative popularisiert und damit in gesellschaftliche Schichten trägt, die für die konventionell-politischen Wege der Nachhaltigkeitskommunikation kaum zugänglich sind. Der Popsong stellt einen vorpolitischen Alltagscode zur Verfügung, der zur Verarbeitung von Umweltkonflikten beitragen kann, indem er gesellschaftliche Konventionen in Frage stellt und umweltpolitisches Handeln affektiv und emotional zu legitimieren sucht. Gleichzeitig fungiert er als massenwirksames Speichermedium, in dem Mensch-Umwelt-Verhältnisse und ihre Verschiebungen narrativ und musikalisch verarbeitet werden. Er vergegenwärtigt Erfahrungen der Vergangenheit, die ohne die musikalische Brücke oftmals längst vergessen wären. Anhand exemplarischer Beispiele, die einen Bogen von der US-amerikanischen Folk-Tradition zum populären Lied in Deutschland spannen, zeichnet Philipp nach, wie Popmusik das ökosoziale Gedächtnis mitgeformt hat. Wie seine Analysen zeigen, sind es dabei maßgeblich die einzelnen ‚Medien‘ des Liedes (Stimme, Körper, Text, Instrumente, Performance etc.), die in ihrem Zusammenwirken, ihren Zwischenräumen, Brechungen und Übergängen zusätzliche Sinndimensionen eröffnen und darin über die sonst gängigen Vehikel politischer Kommunikation hinausgehen.

Der Rekurs auf Texte und entsprechend die Methode der Textinterpretation in den bisher aufgeführten kulturwissenschaftlichen Kapiteln des Kompendiums weisen bereits auf die zentrale Bedeutung hin, die der Literatur als Medium der Tradierung von Werten innerhalb der Kulturwissenschaft zukommt. Wie Hubert Zapf allerdings feststellt, ist der konkrete Bezug der Literatur und der Literaturwissenschaft speziell zur Nachhaltigkeit bisher nur in Ansätzen erörtert worden. Sein Kapitel untersucht den Beitrag dieses Spezialbereichs der Kulturwissenschaft und ihres Gegenstands zur Erforschung und Gestaltung von Nachhaltigkeit als zentralem Thema der Lebens- und Zukunftsgestaltung der heutigen Gesellschaft. Zapf geht davon aus, dass literarische Texte gemäß dem von ihm geprägten kulturökologischen Literaturkonzept gerade in ihrer ästhetisch-imaginativen Transformation von Wirklichkeit nicht nur einen unverzichtbaren Beitrag zum Nachhaltigkeitsdiskurs leisten – der auch mit dem Ansatz des Ecocriticism untersucht wird –, sondern auch selbst eine nachhaltige Form kultureller Praxis darstellen. Wie er an Beispielen der englischsprachigen Literatur zeigt, können imaginative Texte mithilfe dieses Ansatzes in doppelter Weise beschrieben werden: als Kritik dominanter anthropozentrischer Narrative und als eine Form von regenerativer Energie im Haushalt der Kultur, d. h. als Quelle der Kreativität für immer neue Generationen von Leserinnen und Lesern, Autorinnen und Autoren.

Anders als die Literaturwissenschaft beschäftigt sich die Journalismusforschung nicht mit fiktionalen Texten, sondern mit realitätsbezogenen Reportagen, welche die ökologische Krise und die gesellschaftliche Transformation zur Nachhaltigkeit thematisieren und massenmedial kommunizieren. Torsten Schäfer stellt ein im Projekt Grüner Journalismus an der Hochschule Darmstadt entwickeltes, anwendungsbezogenes Verständnis von medialer Nachhaltigkeit vor, das in einem Pyramidenmodell den Ökologiebezug priorisiert, aber auch den Faktor Lebensqualität stark einbezieht. Schäfer plädiert für eine umweltjournalistische Ethik des Erzählens, die auf einer ökologischen Deutung von sozial-ökologischer Nachhaltigkeit basiert. Ausgehend von diesem ethischen Rahmen untersucht und evaluiert das Kapitel Erzählverfahren und Narrative des gegenwärtigen deutschen Klimajournalismus. Die Bestandsaufnahme basiert auf Leitfadeninterviews mit deutschen Klimajournalisten und -journalistinnen, die zur Revision aktueller Schreibpraktiken und zur Diskussion alternativer neuer Verfahren und Formate führen. Deren Entwicklung ist laut Schäfer eine ressortübergreifende Schlüsselaufgabe für einen zukunftsfähigen Nachhaltigkeitsjournalismus, der durchaus im Sinne eines ‚konstruktiven Journalismus‘ konzipiert sein soll.

Komplementär zu Schäfers Untersuchung der inhaltlichen textuellen Ebene journalistischer Massenmedien fragt das abschließende Kapitel aus der Medienwissenschaft nach den Möglichkeiten nachhaltiger Produktion, Nutzung und Entsorgung von Medien. Im Sinne einer materialorientierten Medienökologie beleuchtet Evi Zemanek den in der Medienwissenschaft oftmals ausgeblendeten hohen Material- und Energieverbrauch der Medienindustrie, der mit großer Umweltbelastung und gesundheitsgefährdenden Produktions- und Entsorgungspraktiken verbunden ist. Sie hinterfragt die verbreitete Annahme, dass die Digitalisierung Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung reduziere. Aus dem breiten Spektrum an Speicher-, Informations-, Kommunikations- und Unterhaltungsmedien wählt sie Bücher und Zeitungen aus Papier sowie E-Books bzw. E-Book-Reader, um mithilfe von Life Cycle Assessments den ökologischen Fußabdruck zu vermessen, den unser tägliches Lesen auf Papier und am Bildschirm jeweils hinterlässt. Das Kapitel macht das komplexe Geflecht der zu berücksichtigenden Faktoren sichtbar und vergleicht die konkreten Nachhaltigkeitspotenziale eines Green Publishing und damit eines Green Reading. Dabei wird nicht nur die Verantwortung von Staat und Industrie, sondern auch der individuellen Medienkonsumenten und -konsumentinnen deutlich. Jenseits der Umweltbelastungen sind aber auch die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Lesepraxis und die beim Lesen auf Papier oder am Bildschirm jeweils mehr oder weniger geförderten kognitiven Fähigkeiten zu bedenken, hat man das Ziel einer Transformation zu einer in jeder Hinsicht nachhaltigen Medienkultur vor Augen.

Wie diese Vorstellung der einzelnen Kapitel bereits andeutet, kann man zwischen den Konzepten von Nachhaltigkeit der einzelnen in diesem Kompendium zu Wort kommenden Disziplinen einige Differenzen, aber auch eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten konstatieren. Einige davon seien hier resümiert. So ist zunächst einmal auffällig, mit welcher Hartnäckigkeit unterschiedlichste Disziplinen immer wieder auf dieselben grundlegenden Dokumente rekurrieren und dabei oft historisch zurückgehen bis zu Hans Carl von Carlowitz. Hierbei dürfte es sich um ein Spezifikum der Nachhaltigkeitsdebatte in der deutschsprachigen Forschungskultur handeln, denn obwohl viele der Autorinnen und Autoren dieses Kompendiums auf Englisch publizieren, ist ihnen natürlich neben der anglophonen Forschung auch der deutschsprachige Diskurs geläufig. Forschung aus dem angloamerikanischen Kulturraum verknüpft die Idee der Nachhaltigkeit – im Sinne von sustainability – historisch oft mit Thomas Malthus’ Essay on the Principle of Population (1798) und seiner Konzeption von vorgegebenen planetaren Wachstumsgrenzen oder führt sie alternativ auf die 1980er Jahre, konkret auf den Brundtland-Report zurück.1 Letzterer legt den Akzent auf ‚nachhaltige Entwicklung’ und damit die sozioökonomische Dimension, und er betont besonders das Wachstumsdesiderat für den globalen Süden, will aber natürlich den Zielkonflikt zwischen Entwicklung und Umweltschutz bewältigen. Ähnlich wie im Englischen die Nachhaltigkeit also meistens in der Begriffspaarung von sustainable development vorkommt, liegt der Fall im Französischen, wo man am häufigsten von développement durable spricht, wobei ‚dauerhaft‘ wiederum eine leicht andere Konnotation hat (vgl. dazu Kap. 8/Hamman). Unterschiedliche Sprachkonventionen verweisen auf kulturell geprägte Differenzen im Hinblick auf Nachhaltigkeitsvorstellungen.

Führt man Nachhaltigkeit auf von Carlowitz zurück, bedingt dies nämlich eine andere Sichtweise auf das Konzept. Die ‚nachhaltende Nutzung‘, von der von Carlowitz spricht, stellt von vornherein den Menschen als Agierenden in den Mittelpunkt (im Sinne der Ermöglichung bzw. Verhinderung von Nachhaltigkeit), während etwa der Bezug auf Malthus die spezifische Bedeutung des englischen sustainable hervorhebt, bei dem die Kapazität der Erde praktisch begriffsimmanent mit betont wird. Diese subtilen Bedeutungsunterschiede – wie auch die bei von Carlowitz angelegte Betonung des Aspekts des Gebrauchs („Nutzung“) – haben wohl dazu beigetragen, dass sich die Nachhaltigkeitsdebatte im deutschsprachigen Raum leichter von der Konzentration auf den Umweltschutz gelöst und in Richtung auf eine umfassendere Beschäftigung mit ‚Bewahrung‘ bewegt hat, wie es unterschiedliche disziplinäre Zugänge dieses Kompendiums bezeugen. Besonders deutlich wird dies in den kulturwissenschaftlichen Kapiteln. Aber auch in anderen Kontexten zeigt sich, dass der Begriff ‚nachhaltig‘ (zumindest in der deutschen Version) einen großen Deutungsspielraum bietet, wenn er wechselweise ersetzt wird durch Adjektive wie zukunftsfähig, dauerhaft oder gar ökologisch und umweltfreundlich.

Gleichzeitig kommt es aber gerade durch die wiederholte Berufung auf dieselben Grundlagentexte in den Beiträgen unseres Kompendiums zu überraschenden Ergebnissen und Perspektivwechseln. Nachhaltigkeit wird im öffentlichen Diskurs primär als ein stark auf die Zukunft ausgerichtetes Konzept wahrgenommen. Angesichts dieser Tatsache verblüfft die Erkenntnis umso mehr, die von Detten in seinem Beitrag zur Forstwirtschaft vorstellt: Gerade in dieser ‚Gründungsdisziplin‘ steht Nachhaltigkeit für ein äußerst kompliziertes Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft. Aufgrund der langsamen Wachstums- und Entwicklungsprozesse von Wäldern besteht Nachhaltigkeit in der jeweiligen Gegenwart im Versuch, verschiedene potenzielle Entwicklungen und Risiken abzuschätzen und zu antizipieren. Beurteilt werden kann das Bemühen um Nachhaltigkeit eigentlich immer nur retrospektiv.

Dies deutet bereits auf einen Schluss hin, den alle Kapitel einhellig vertreten: Die Bemessung und Bewertung von Nachhaltigkeit – wie analog auch der Versuch, sich in allen Lebensbereichen nachhaltig zu verhalten – ist von hoher Komplexität gekennzeichnet, da sehr viele Faktoren zu berücksichtigen sind. Für nach schnellen, einfachen Lösungen suchende Leserinnen und Leser ist die Bestandsaufnahme der einzelnen Kapitel in dieser Hinsicht deprimierend: Die Vielschichtigkeit aller Aspekte von Nachhaltigkeit, die komplexe Verknüpfung mit diversen Bereichen, Konstellationen und Zielsetzungen mag gerade angesichts der durch den Klimawandel und dessen Folgeentwicklungen bedingten Zeitnot entmutigend wirken. Deshalb kommt der gesamtgesellschaftlichen ebenso wie der individuellen Ausbildung eines Bewusstseins für die Komplexität der Sachlage und diesbezügliche Handlungsmöglichkeiten eine besonders große Bedeutung zu – was in diesem Kompendium von verschiedenster Seite, von der Betriebswirtschaft und Ernährungsgeographie über die Nachhaltigkeitsgouvernanz, Bildungspolitik und Didaktik bis hin zur Medienwissenschaft, mit Nachdruck hervorgehoben wird. Keineswegs propagieren die Kapitel damit die von Armin Grunwald kritisierte „Privatisierung der Nachhaltigkeit“2. Nachhaltigkeit ist, um mit Grunwald zu sprechen, „eine Sache der Polis“ (ebd.: 181). Individuelle Verantwortung betrifft daher nicht ausschließlich Fragen nachhaltigen Konsums, sondern es geht um Partizipation im Sinne politischer Teilhabe. Die Förderung derselben wird in vielen Kapiteln des Kompendiums als grundlegendes Instrument für Nachhaltigkeit eingefordert. Partizipation bedarf allerdings umfassender Information.

Die akute Problemlage fordert uns zur Entwicklung kreativer Lösungsansätze heraus, und es ist wiederum gerade ihre Komplexität, die in diesem Bereich außergewöhnlich viele interdisziplinäre Projekte auf den Plan gerufen hat, so dass unter diesen Vorzeichen nicht nur Strategien für eine Transformation zur Nachhaltigkeit entwickelt wurden, sondern auch Interdisziplinarität erprobt werden und sich entfalten konnte. Entsprechend sind die einzelnen Beiträge des Kompendiums zwar mit je einer Disziplin oder einem Forschungsbereich überschrieben, tatsächlich aber machen die meisten ihrer Fallbeispiele deutlich, dass eine mehrdimensionale (ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle) Nachhaltigkeit nur mit vereinten Kräften und kombinierten Methoden zu denken und zu erreichen ist – und dass aus der interdisziplinären Zusammenarbeit oft transdisziplinäre Ansätze entstehen (wie die Nachhaltigkeitsforschung). Nicht alle, aber einige der hier versammelten Disziplinen kann man zu den Environmental Humanities zählen, die ihrerseits nicht nur Geisteswissenschaften im engsten Sinne, sondern auch Gesellschaftswissenschaften umfassen und sich als Verbund schon per definitionem interdisziplinärer Forschung verschrieben haben. Aus diesem noch jungen Forschungsfeld kommen wichtige Impulse für die Nachhaltigkeitsforschung.

Wie auf den ersten Blick ersichtlich, ist das vorderste Ziel des Kompendiums die Multiperspektivität, die durch Beiträge aus 21 verschiedenen Disziplinen entsteht. Die Multidisziplinarität geht mit einer geographischen und kulturellen Breite einher, da in den Beiträgen Nachhaltigkeitsprojekte in verschiedensten Ländern diskutiert werden. Es ist zu erwarten, dass einzelne Leserinnen und Leser beim Blick in dieses Kompendium die eine oder andere Disziplin in unserem Reigen vermissen. Sollten dies Philosophie, Psychologie, Theologie, Umweltgeschichte, Politikwissenschaft oder Rechtswissenschaft sein, so liegt dies daran, dass eben diese schon in dem von Ruth Kaufmann und Paul Burger für die Schweizer Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften konzipierten Band Nachhaltige Entwicklung (2007) zu Wort kamen. Anders als unser Kompendium setzt dieser Band den Akzent auf die nachhaltige Entwicklung. Das Fehlen von den für die Nachhaltigkeitsforschung zentralen Beiträgen aus den Umwelt- und Klimawissenschaften u. a. wurde eingangs bereits mit der mengenmäßigen Dominanz von Beiträgen aus diesen Disziplinen begründet. Es bleibt zu hoffen, dass die Nachhaltigkeitsforschung weiterhin floriert und im Zuge dessen weitere Disziplinen mit den hier präsentierten in Dialog treten.

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