Buch lesen: «Kindheit in der Schweiz. Erinnerungen», Seite 4

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Um 1930, Obfelden ZH
Fritz Bär, *1919

Im gleichen Sommer hatte ich meinen ersten Job. Keiner, der viel Geld einbrachte, dafür aber gutes Essen. Die Bauern hatten noch wenig mechanische Hilfsmittel, das meiste musste von Hand getan werden. So auch das Abladen des Heus und dessen Verteilen auf dem Boden. Frisches Heu hat ein sehr grosses Volumen, setzt sich schlecht, und der Stock wächst rasch in die Höhe. Um das zu verhindern, musste gestampft werden. Es brauchte also Leute, die solche Arbeiten verrichteten. Das mussten ja keine erwachsenen Männer oder Frauen sein, die waren anderswo nötiger. Ich hatte schon gesehen, dass Schulkinder auf dem Heuboden standen, also wollte ich es auch versuchen. Am späteren Nachmittag, als die Pferde die ersten Fuder in die Scheune zogen, lungerte ich beim grossen Scheunentor herum. Wie so oft auch bei anderen Dingen, getraute ich mich auch jetzt nicht zu fragen. Die einzige Hoffnung war, dass der Bauer, der mich gut kannte, von sich aus darauf kommen würde, was ich wollte.

Am ersten Tag klappte es noch nicht, ich musste es am nächsten noch einmal versuchen. Dann hatte ich Glück. «Willst du Heu stampfen?», wurde ich gefragt. Ja sagen und nach oben klettern war eins. Der Bauer warf das Heu mit der Gabel auf den Boden, dort stand ein Knecht und verteilte es gleichmässig. Immer da, wo ein Haufen Heu hinflog, sprang ich darauf und stampfte fleissig. Ob ich eine grosse Wirkung erzielte, weiss ich nicht. Heute scheint mir, ich sei dazu doch noch etwas leicht gewesen. Was tat es, schwitzen musste ich gleichwohl, der Heustaub biss am ganzen Körper, und mein Herz klopfte vor Anstrengung schneller. Als das letzte Heu abgeladen war, sagte der Bauer: «Fritzli, geh in den Stall und warte dort, bis der Melker fertig ist. Dann kommt ihr zusammen ins Haus.»

Auf diese Einladung hatte ich gewartet, wegen der nahm ich doch den ganzen Chrampf in Kauf. Ins Haus gehen bedeutete, sich mit den Bauersleuten an den Tisch zu setzen. Der Melker war noch an der Arbeit. So schnell konnte er nicht fertig sein, standen doch etwa zwölf Kühe im Stall. Ich schaute ihm interessiert zu, besonders, wenn er eine Kuh ausgemolken hatte und die Milch durch ein Sieb in die Bränte goss. Der zurückgebliebene Schaum wurde in einen grossen Teller geleert, auf den bei der Stalltüre ein paar Katzen warteten.

Ich hatte gehofft, ins Haus gehen zu können, sobald die Melkerei zu Ende sei, aber die Milch musste zuerst noch in die Hütte gebracht werden. Der Melker lud die vollen Milchkannen auf den Wagen, spannte das Ross ein und fuhr weg. Erst nach seiner Rückkehr und nachdem Ross und Wagen versorgt waren, konnten wir zusammen ins Haus gehen. In der grossen Wohnküche hatte die Bäuerin den Tisch schon gedeckt, und nachdem alles Platz genommen hatte, wurde aufgetischt. Es gab Rösti und Apfelstückli. Das war noch nichts Besonderes; das Besondere war der Schinken auf einem Holzbrett, ein grosses Messer daneben. Zuerst verteilte die Bäuerin die Rösti, gab jedem in eine kleine Schale Apfelstückli, und dann schnitt sie vom Schinken dicke, saftige Scheiben ab. Wenn es zu Hause etwas zu verteilen gab, bekamen die Eltern und die grösseren Geschwister immer ein bisschen mehr. Hier bei den Bauersleuten gab es keine Unterschiede.

Nun hatte ich aber ein Problem. Ich hatte keine Ahnung, in welche Hand man die Gabel und das Messer nahm. Daheim hatten wir immer nur eine Gabel oder einen Löffel in der Faust. Als die Bäuerin mein ungeschicktes Hantieren sah, nahm sie meinen Teller und schnitt den Schinken in kleine Stücke. Etwas hat mich dabei aber sehr gereut: Um das Geräuchte hatte es eine dicke, fette braune Speckschicht, wie eine Rinde. Die schnitt die Frau ringsum ab und verfütterte sie den beiden Katzen, die schon lange gebettelt hatten. Wie gerne hätte ich dieses Katzenfutter selber gegessen!

Es war schon beinahe Nacht, als ich nach Hause kam. Meine Mutter hatte sich Sorgen gemacht, wo ich sein könnte. Meine Ausflüge mit dem Regenschirm waren noch nicht vergessen. «In Zukunft sagst du, wo du hingehst», wurde ich ermahnt, aber dann waren doch alle neugierig darauf zu erfahren, wo ich war, was ich getan hatte, und vor allem, was es bei den Bauersleuten zum Nachtessen gegeben hatte. Nach gut einer Woche war das ganze Heu eingebracht, und ich sass am Abend wieder zu Hause am Tisch.

Nach dieser Heuernte war es mit meiner Heustampferei auch schon vorbei. Im nächsten Frühjahr, nach Ostern, war es an mir, Rosi als Zeitungsverträgerin abzulösen. Ich würde also nie vor sechs Uhr abends nach Hause kommen; viel zu spät, um mich vom Bauern wieder anstellen zu lassen. Ich fand einen neuen Job, allerdings erst etwa ein Jahr später. Ich will die Geschichte aber jetzt schon erzählen, weil sie so gut zu meiner vorherigen passt.

Ich ging schon in die dritte Schulklasse, als unter uns Knaben davon gesprochen wurde, dass der Kirchensigrist einen starken Burschen suchte, der immer am Samstagabend beim Glockengeläute helfen könne. In unserem Kirchturm hingen vier Glocken. Mit denen wurde an jedem Wochenende während zwanzig Minuten das Ende der sechs Arbeitstage ausgeläutet und allen Leuten in Erinnerung gerufen, dass morgen Sonntag, der Tag des Herrn, sei. Die Kirche in Obfelden stand so gut in der Mitte der Gemeinde, dass ihr Geläut in jedem Orte und in jedem Haus zu hören war.

Es ist schwer, das Gefühl zu beschreiben, das Menschenherzen ergreifen kann, wenn über dem Land die Abendglocken erklingen, die Frieden und Geborgenheit, Ruhe und auch Dankbarkeit verkünden. An solches dachte ich aber nicht, als ich an einem Samstagabend sehr früh schon vor der Kirche auf den Sigrist wartete. Diesmal lungerte ich nicht herum wie bei meinem früheren Wunsch zum Heustampfen; diesmal stand ich am richtigen Ort, beim Seiteneingang neben dem grossen Kirchenportal, der in den Glockenturm führte. Es klappte ausgezeichnet, der Sigrist sah mich schon, als er den Weg hinauf um den Rank kam. Bei mir angekommen, blieb er einen Moment stehen, schaute mich an und fragte: «Bist du der neue Helfer?» Ich konnte noch immer nicht richtig antworten; dafür nickte ich mit dem Kopf umso heftiger.

Der Sigrist, der mit noch drei anderen Männern gekommen war, öffnete die kleine Türe, und zusammen stiegen wir die hölzernen Treppen hoch, bis zum Seilboden. Von dort aus konnte man über dem Gebälk die vier Glocken hängen sehen. Von jeder baumelte ein starker Strick herab, der unten einen dicken Knoten hatte. Ich bekam die kleinste Glocke zum Läuten. Vor Aufregung wollte ich schon meinen Strick in die Hand nehmen. Der Sigrist nahm ihn mir aber aus der Hand und meinte, zuerst müssten mir ein paar wichtige Dinge erklärt werden: «Das Seil», sagte er, «muss immer angespannt sein, die Hände müssen mit dem Seil mitgehen, und das Ziehen muss gleichmässig erfolgen. Nie, aber auch gar nie, darf das Seil um den Körper gewunden werden; das könnte einen schweren Unfall verursachen.» Ich weiss nicht, ob ich alles richtig verstanden hatte; meine Gedanken waren schon viel weiter, beim Dröhnen, das nun bald oben im Glockenstuhl losgehen würde. Es musste nun noch der Sechsuhrschlag abgewartet werden. Auf die Minute genau schlug es zuerst vier Mal «bim-bam», dann ertönten von der grossen Glocke die sechs schweren, dumpfen Schläge.

Kaum war der sechste erklungen, sagte der Sigrist: «Also los, es ist Zeit.» Ja, und dann kam meine grosse Stunde: Ich durfte mit der kleinsten Glocke beginnen, aber leider noch nicht ganz alleine. Jeder der drei Männer hatte einen Strick in die Hand genommen, den meinen hielt neben mir auch noch der Sigrist. Und der tat die ersten Züge. Erst als das bimmelnde Glöcklein mein Seil in die Höhe zog und ich es ohne jeden Ruck wieder nach unten ziehen konnte, durfte ich alleine läuten. Dann schaute der Sigrist zu den anderen Glöcknern, die einer nach dem andern ihre Glocke zum Schwingen brachten. Jetzt war über uns ein Dröhnen, das den Kirchturm erbeben liess und jeden anderen Laut erstickte. Es waren auch keine Worte nötig, alle waren auf ihre Arbeit konzentriert und wussten genau, was zu tun war. Nur ich wurde etwas übereifrig; ich wollte doch zeigen, dass ich stark genug sei, um mit den anderen mitzuhalten. Der Sigrist war nach draussen gegangen, kam aber nach einer Weile zurück und schrie mir ins Ohr: «Nicht so fest ziehen, Fritzli, man hört ja fast nur noch dein kleines Glöckchen.»

Als die zwanzig Minuten vorbei waren, kam das Ausläuten. In der umgekehrten Reihenfolge als beim Einläuten wurden die einzelnen Glocken zum Verstummen gebracht. Eine Glocke anzuhalten, das war gar nicht so einfach. Jetzt musste das Seil jedesmal gebremst werden, wenn es nach oben gezogen wurde. Erst wenn das Geläute anfing leiser zu werden, erfolgte das vollständige Anhalten, indem das ganze Körpergewicht eingesetzt wurde. Gerade beim Abbremsen war es streng untersagt, ein Seil um den Körper zu schlingen. Der Schwung und das Gewicht der Glocke hätten einen Mann nach oben reissen und verletzen können.

Als auch meine Glocke ganz verstummte, war im Turm eine seltsame, fast unheimliche Stille. Der Kirchturm bebte zwar noch immer ein wenig, und in unseren Ohren klang es noch lange weiter, aber sonst war nichts mehr zu hören, und niemand sprach auch nur ein Wort. Es schien mir eine Andacht ohne Pfarrer und Gebet zu sein. Das Stampfen der schweren Schuhe auf der Holztreppe war dann wie eine Erlösung und für mich das Wissen, dass es jetzt zum Nachtessen gehen würde. Auch hier hatte die Bäuerin den Tisch bereits gedeckt.

Der Sigrist war im Hauptberuf Bauer und beschäftigte auf seinem Hof einen Knecht und eine Magd. Beide setzten sich zu uns, so dass mit den Männern aus dem Glockenturm eine recht grosse Tafelrunde beisammen war. Für so viele Leute wurde nicht gekocht, dafür gab es Brot, Butter, Wurst und Käse. Nehmen konnte man, soviel man mochte, und das war für mich das Wichtigste. Bis zu unserem Auszug aus Bickwil habe ich jeden Samstag meine kleine Glocke geläutet, und das ist eine der schönsten Erinnerungen an die Kinderjahre auf dem Lande.

1947, Lausanne VD
Anne Cuneo, *1936

Es war Anfang Dezember – nichts Besonderes, dass die Bäcker Biscômes anpriesen. Was mich innehalten liess, war das Aushängeschild selber. Ein sorgfältig ausgearbeitetes Schild, von Schülerhand sauber beschriftet und mit Bildern aus der Zeit vor dreissig Jahren verziert. Das Ganze war auf einen ursprünglich weissen, inzwischen aber vergilbten Karton aufgezogen und geschrieben.

Ich blieb trotz scharfer Bise gute fünf Minuten lang am Schaufenster kleben. Dieses Schild … Dieses Schild … Weshalb …?

Und plötzlich sah ich es. Dieses Aushängeschild hatte ich selber gemacht.

Schlagartig kam mir alles in den Sinn.

Ich begriff, weshalb mein Gedächtnis mich im Stich gelassen hatte: um mich zu schützen. Denn augenblicklich stieg in mir eine Mischung aus Leiden und Widersprüchen auf, die mir in der damaligen Zeit sicher schwer zu schaffen gemacht hatte.

Ich erlebte wieder die Hoffnung, Weihnachten würde die täglichen Widrigkeiten meines neuen Lebens zum Verschwinden bringen – als wundersames Geschenk des Himmels. Und gleichzeitig die verzweifelte Gewissheit, dass mein Elend kein Ende nehmen würde.

Ich war kaum einen Monat in der Schweiz. Die französische Sprache kam mir nur stockend und zaghaft über die Lippen. Ich war noch nicht schweizerisch gekleidet, und im kriegsverschonten Lausanne musste meine Ärmlichkeit auffallen. Ich trug einen Mantel, an dem ich ganz besonders hing, weil er meinem Vater gehört hatte. Vor zwei Jahren hatte man ihn für mich verkürzt und zurechtgemacht. Nun war er zu kurz, die Ärmel bedeckten meine Handgelenke nicht mehr. Aber es war Vaters Mantel, und ich legte keinen besonderen Wert darauf, ihn gegen einen anderen zu tauschen. Ich sehe ihn noch, blau mit einem Graustich, dunkler Samtkragen. Getragen vom kleinen Mädchen, das ich damals war, waren die Nähte geplatzt, der Stoff zerrissen und voller Flecken. Trotzdem trug ich ihn während dieses ganzen ersten Winters in Lausanne, weil ich daran hing – und auch, weil mir nie ein anderer angeboten wurde.

Meine Schuhe waren ausgetreten, meine Socken so oft geflickt, dass die gestopften Stellen bis hinauf zu den Knöcheln reichten.

Ich hatte Hunger.

Und eines Tages, auf dem Weg zur Schule, fand ich einen Franken auf dem Trottoir. Im Jahre 1947 und angesichts meines Elends war ein Franken eine hübsche Summe. Ich zögerte keine Sekunde. Das Schlimmste in meinem damaligen Leben war der Hunger: Diesen Franken würde ich verfressen.

Wie ich mich Anfang Dezember eines Nachmittags der Überwachung der Schwestern entzog, weiss ich nicht mehr. Ich beschloss, eine Bäckerei aufzusuchen, so weit entfernt wie möglich, um jede Gefahr zu vermeiden. Während einer guten Stunde irrte ich durch die Oberstadt von Lausanne, bis ich meiner kleinen Bäckerei begegnete. Sie zog mich an wegen der Biscômes im Schaufenster, erhellt von zwei Kerzen, echten Kerzen. Ich trat ein.

Eine junge Frau mit weisser Schürze und kurzem Haar trat aus dem hinteren Teil des Ladens hervor und wischte sich die Hände ab.

«Ja?»

«…»

«Was möchtest du?»

«…»

«Sprichst du Französisch?»

«… ja … ich …»

«Möchtest du etwas essen?»

Es kam mir vor, als wolle sie mir ein Almosen geben. Ich nahm meinen Franken hervor.

«Ich möchte …»

Ich weiss nicht so genau, was für ein Gesicht ich beim Anblick all der Esswaren machte, hungrig wie ich war. Später sagte mir die Bäckerin wiederholt:

«Ich werde das erste Mal, als du hereinkamst, nie vergessen. Ich glaubte, du würdest in Ohnmacht fallen.» Zweifellos machte ich dasselbe Gesicht wie alle andern hungrigen Kinder.

«Da», sagte die Bäckerin und drückte mir einen Bienenstich in die Hand, «es ist Sankt-Niklaus-Tag, und ich schenke allen meinen Kunden etwas. Setz dich dorthin und iss.»

Ich setzte mich. Andere Kunden kamen und gingen, keinem bot sie ein Gebäck an. Als ich mich erhob, meinen Franken immer noch in der Hand, sagte sie mir:

«Weisst du, du solltest dir ein Paar Wollstrümpfe kaufen. Hier ist es nicht wie in Neapel, es ist kalt bei uns.»

«Aber ich möchte noch …»

«Ich will dir sagen, was wir tun werden. Hast du eine schöne Handschrift?»

«Ja.»

«Ich brauche ein Aushängeschild für meine Biscômes und habe keine Zeit, mich darum zu kümmern. Du machst es mir, dafür gebe ich dir zu essen und bezahle deine Arbeit, und mit dem Geld kaufst du dir Strümpfe.»

Das schien mir ehrenhaft, es roch nicht allzusehr nach Almosen. Ich willigte ein. Sie setzte mich in den hinteren Teil des Ladens, ich machte einen Entwurf auf Packpapier, dann schlug ich ihr schüchtern vor, einen schönen Karton zu beschaffen und ihn mit Weihnachtsmännern und anderen Motiven zu schmücken, die an Biscômes erinnern.

«Es lohnt sich wirklich, für solche Sachen eine Künstlerin anzustellen. Mir wäre diese Idee nie gekommen.»

Einen Berliner Pfannkuchen in der Hand, war ich zur Schreibwarenhandlung gegangen. Darauf hatte ich mein ganzes Herz in dieses Schild gelegt – dreissig Jahre später ist das noch deutlich zu sehen.

Die Bäckerin hatte mich mit Esswaren vollgestopft und meine sämtlichen Taschen mit Bisquits gefüllt. Sie hatte mir angeboten, warme Strümpfe zu besorgen, die ich mir verdient hatte, und ich hatte sie dankbar angenommen.

Sie hatte mir eingeschärft, ich solle wiederkommen. Ich könne ihren Säugling hüten. Ich könne ihr weitere Aushängeschilder schreiben: «Frohe Ostern», «Muttertag» … Ihre übrigen Verwände habe ich vergessen. Jedenfalls hatte sie sehr wohl begriffen, dass ich nicht gewillt war, Almosen anzunehmen.

1940er-Jahre, Mels GR
Mädchen

Mit zwölf Jahren musste ich nach Mels an eine Sommerstelle. Ich konnte kein Wort Deutsch. Eine junge Frau aus unserem Dorf, die in Winterthur arbeitete, nahm mich auf die Bitte meiner Mutter hin mit. Ich machte mir keine Reisesorgen, schaute interessiert aus dem Eisenbahnfenster und verliess mich voll und ganz auf meine Reisegefährtin. In Chur stiegen wir um und fuhren weiter. Kurz vor Sargans wies sie mich an, mich zum Aussteigen bereit zu machen, und in Sargans geleitete sie mich aus dem Zug. Sie selber fuhr nach Zürich weiter.

Da stand ich nun, allein und verlassen, mitten in der Fremde und hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich zu gehen hatte. Eigentlich hätte mich ja jemand abholen sollen. Nur – die Gewissheit, dass da niemand auf mich wartete, wurde immer grösser. Schliesslich erbarmte sich ein Mädchen aus Wangs meiner. Wir machten uns auf den Weg nach Mels, zu Fuss natürlich. Dort angekommen, blieben wir vor einem grossen Haus stehen: «So, hier ist es!» Meine Begleiterin verabschiedete sich und ging. Ich nahm mein Herz in beide Hände und stieg zögernd eine lange Treppe hinauf, sah eine Glocke und läutete. Eine Frau kam heraus, staunte, schüttelte den Kopf – was sie redete, verstand ich nicht – und schickte mich auf die andere Seite des Hauses. Dort gab es keine Glocke. Auch das noch! Zaghaft rief ich: «Holla, holla.» – Nach geraumer Zeit kam jemand, und es bestätigte sich, ich war am Ziel.

Meine Aufgabe war, ein Kind zu hüten, den Peterli. Ich musste ihn versorgen und täglich spazieren führen. Ich lebte mich gut ein, es gefiel mir. Eines Tages fragte mich meine Meisterin, ob ich wisse, wo die Apotheke sei. «Ja, ja», behauptete ich und hatte einen Laden im inneren Auge, den ich auf meinen Spaziergängen mit Peterli schon ein paar Mal gesehen hatte, Optik hiess er. Die Frau gab mir einen Zettel, und ich marschierte zuversichtlich los. Als die lachenden Optikerinnen merkten, dass ich weder ortskundig noch deutschkundig war, begleitete mich eine der Brillenfrauen zur Apotheke.

Das zweite Missgeschick passierte mir beim Milchholen. Ich nahm den Peterli mit, stellte ihn vor dem Laden ab und vergass ihn. Als ich heimkam, fragte die Meisterin: «Und wo hast du den Peterli?» – Nie mehr in meinem ganzen Leben habe ich je wieder einen Peterli vor einem Laden vergessen. Allen Schwierigkeiten zum Trotz schrieb ich heim: «Liebe Eltern, es geht mir gut. Heimweh habe ich, glaube ich, keins.»

1950er-Jahre, Klewenalp NW
Tony Ettlin, *1950

Oft plagte mich das Heimweh. Ich sehnte das Ende des Sommers herbei oder mindestens den nächsten Sonntag, wenn die Hoffnung bestand, dass meine Mutter oder vielleicht sogar mein Vater zu Besuch kommen würden. Da es in der Alphütte kein Telefon gab, wussten wir nie genau, ob am Sonntag Besuch zu erwarten war. Ich setzte mich am Sonntagvormittag auf die Bank beim Kreuz und spähte mit dem Feldstecher Richtung Rötenport. Dort führte der Weg von der Bergstation der Klewenalpbahn zu unserer Hütte über eine kleine Krete, und die Wanderer auf dem Weg wurden zum ersten Mal sichtbar. Ich hielt das Fernglas auf den Übergang fixiert und wartete sehnsüchtig darauf, dass die bekannte Gestalt meiner Mutter erscheinen würde. Sobald sich etwas auf dem Weg regte, schlug mein Herz höher, aber dann sank es wieder schwer vor Enttäuschung, wenn ich die Figuren als Älpler auf dem Heimweg von der Messe in der Bergkappelle oder als Sonntagswanderer erkannte.

Wenn Mutter oder Vater bis zum Mittag nicht auftauchten, würden sie heute nicht kommen. Das waren die traurigen Sonntage. Erschienen aber plötzlich die bekannten Gestalten in meinem Feld­stecher, konnte ich es kaum erwarten, bis sie die letzte Wegstrecke zurückgelegt hatten. Die Eltern winkten, als wüssten sie, dass ich auf dem Beobachtungsposten war. Ich winkte zurück, auch wenn sie mich wahrscheinlich nur als kleinen Punkt sehen konnten. Ich folgte ihnen mit dem Fernglas auf dem Weg hinunter zum Tannibiel, wo sie aus meinem Blickfeld verschwanden. Sie würden nun den letzten Aufstieg in Angriff nehmen und in einer Viertelstunde bei mir sein. Ich freute mich auf das Süsse im Rucksack und die Flasche Becken­rieder Orangenmost. Der Sonntagsbesuch meiner Eltern war ein willkommener Anlass, zu erzählen und zu zeigen, was ich die ganze Woche gemacht hatte. Ihre Bewunderung und ihr Lob entschädigten mich für die langen Tage und die wortkarge Einsamkeit mit Walti. Die Ankunft meiner Eltern erfüllte die Alphütte mit Leben. Ich war ihnen ein Stück weit entgegengelaufen und führte sie stolz auf «meine» Alphütte zu. In der Küche packten sie ihre Rucksäcke aus. Sie hatten frisches Brot und Lebensmittel mitgebracht. Sie wussten genau, was Walti und ich in unserem Haushalt brauchen konnten. Wenn etwas ausging oder fehlte, würden sie es in ein oder in zwei Wochen mitbringen. Brauchten wir in der Zwischenzeit dringend etwas, bedeutete das einen einstündigen Fussmarsch nach Klewenalp, wo es einen kleinen Laden mit dem Nötigsten gab. In seltenen Fällen musste Walti «zʼBode». Er fuhr mit der Klewenbahn nach Beckenried, kaufte alles ein, was er brauchte, und kehrte wieder auf die Alp zurück. Das geschah aber höchstens einmal im Sommer. Sonst blieb er die ganze Zeit auf der Alp und lebte von dem, was da war. Meine Augen glänzten, wenn mein Vater und meine Mutter die Rucksäcke auspackten. Was sie mitbrachten, versprach Abwechslung im Speisezettel und kleine Leckereien für zwischendurch. Vor allem aber stellten die feinen Nussgipfel, Birnweggen oder Schnecken die Verbindung zur Bäckerei und meinem Zuhause her.

Kaum war alles ausgepackt und in den Küchenschränken oder im Kühlhaus versorgt, begann meine Mutter mit den Pfannen in der Küche zu hantieren, kochte Älplermagronen, briet Zwiebeln, öffnete eine Büchse Apfelmus. Die Hütte wurde vom Duft der gebratenenen Zwiebeln, dem Rauch aus dem Herd und dem Knistern des Feuers erfüllt. Vater sass mit Walti vor der Hütte, rauchte eine Pfeife oder einen Stumpen, und beide tranken sauren Most aus dickwandigen Gläsern. Vater erzählte Walti die Neuigkeiten aus dem Tal. Es ging um das Wetter, die Ereignisse im Dorf, den Jodelklub oder die lokale Politik. Ich sass bei den Männern, hörte ihnen zu und fühlte mich als einer von ihnen.

Nach dem Essen machten wir einen Rundgang zu den nächstgelegenen Alphütten, wo es Kaffee Träscht oder Kaffee Chrüter aus bauchigen «Beckli» oder Kaffeegläsern gab. Für mich gab es meistens ein «rotes Most» oder Sirupwasser mit einem Schuss Wein. Leider vergingen die Sonntagnachmittage sehr schnell. Gegen Abend machten sich Vater und Mutter wieder auf den Weg Richtung Klewenalp. Ich verfolgte sie mit dem Feldstecher, bis sie beim Rötenport ein letztes Mal winkten und dann verschwanden. Ich war wieder allein mit Walti, und unsere Woche nahm ihren gewohnten Lauf.

An diesen Sonntagabenden überschwemmten mich die Einsamkeit und das Heimweh, und ich wünschte mir nichts lieber, als dass die fünf Ferienwochen bald vorbei sein würden. Zu der stummen Eintönigkeit mit Walti kam noch das Gefühl, von meinen Eltern verlassen zu sein, ausgesetzt, abgeschoben. Das würgte mich in der Kehle und lag wie ein Felsbrocken auf meinem Herzen. Aber Weinen war nicht erlaubt, schliesslich wollte ich ein vollwertiger Älpler sein.

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