Buch lesen: «Kindheit in der Schweiz. Erinnerungen», Seite 2

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1890er-Jahre, Vevey VD
Aline Valangin, *1889

Wenn ich versuche, meine ersten Erinnerungen an Mutter zu finden, so kommen Töne, einzigartige Töne von schöner Süsse – und begleitet von einem ebenso einzigartigen, mir ebenso süssen Geruch. – Mutter.

Um 1919, Regensberg ZH
Gertrud Mosimann, *1916

Ich sitze auf der Schaukel und bekomme dünnen, weissen Brei gelöffelt, darin schwimmen dunkle Flecken. Ich versuche sie mit meinen Fingern herauszuklauben, sie schmecken am besten, es sind Weinbeeren. Es ist schwierig, sie sind schlüpfrig wie Fischchen.

Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen. Ich war damals im «Pilgerbrunnen» und etwa drei Jahre alt. Dass sich viele meiner Erinnerungs-«Bilder» mehr am Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn orientieren als am Sehen, liegt nicht nur an der Art kleiner Kinder: Ich sah schon damals fast nichts.

1940er-Jahre, Zürich
Jeannot Bürgi, *1939

Kindheit ist nicht etwas, woran ich mich als Zeit erinnere. Für mich ist Kindheit Ereignis, eine Folge von Geschichten, einige schön, andere weniger. Hier leicht und luftig, dort schwer und dumpf. Für alles suche ich Wörter, die zur Sache passen, meinem Erlebnis möglichst nahe kommen. Zu meiner Kindheit passt das Wort «Muhheim», es sagt alles aus. In ihm finden sich Gerüche, Töne und Formen. Mein Staunen auch, und wenn man genau hinsieht, findet sich darin sogar meine Angst. Eigentlich finde ich es schade, dass ich diese Kindheit nicht mit meinen ungelenken kindlichen Worten umschreiben kann. Doch die kindlichen Worte habe ich schon lange vergessen, und erzählen kann ich nur das, was mir an Erinnerung geblieben ist.

Vor «Muhheim» gab es noch etwas, für das ich aber kein Wort finde. Es sind hier nur Gerüche, die geblieben sind, Figuren, die aus dem Nebel der Geschichte auftauchen, verschwommene Konturen, Geräusche und Sprachfetzen. Der Duft der würzigen Käseküchlein aus der Küche der Mama Früh oder das Plätschern des Wassers im Brunnen auf dem Bullingerplatz. Ein Drängen, Stossen und Schubsen der Menschen in der Bäckeranlage vor dem Volkshaus. Wars ein Streik, eine 1.-Mai-Feier oder nur ein Volksauflauf, die Sammlung zu einem Demonstrationszug? Überall standen Soldaten herum, Worte schwirrten durch die Luft wie verängstigte Vögel.

1940er-Jahre, Zofingen AG
Ernst Halter, *1938

Sonnenlicht sintert durch Vorhänge ins Zimmer. Ich liege im weissen Gitterbett an der Hinterwand; die Betten meiner Geschwister stehen, etwas abgerückt von den Fenstern, an den Seitenwänden des Raums. Bald wird die Mutter kommen; ich liege still in meiner pochenden Erwartung und blicke auf die Tür ein paar Schritt vom Fussende des Bettchens. Draussen vor den Fenstern läuten Glocken; Sonne und Kirchengeläut sagen: Heut ist Sonntag.

Die Tür öffnet sich. Die Mutter geht quer durchs Zimmer, zieht die Vorhänge zurück, das Licht im Raum wird warm. Sie kommt auf mich zu, beugt sich lächelnd über die weissgestrichenen Holzstäbe des Gitters: Schnuusserli, itz weimer uuf (Flitzerchen, nun wollen wir aufstehen). Hast du gut geschlafen? Sie streichelt mir über beide Wangen, dann klinkt sie das Gitter aus und kippt es weg. Ganz nahe kommt sie, legt ihre Arme um mich und hebt mich hoch. Wir geben uns Küsse. Setzt sie mich auf den Bettrand? Stellt sie mich auf den ­Boden? Mich füllt Atem von Glück, Licht, Geläut. Es flimmert und blendet vor den Fenstern und auf dem Zimmerboden. Aufstehen, Gewaschenwerden, Honigbutterbrot, Kakao, alles miteinander möglichst schnell. In den Garten rennen, in die Sonne, zu den Goldfischen.

1931, Bern
Dora Stettler, *1927

Meine ersten Erinnerungen stammen aus einer Wohnung im Beundenfeldquartier in Bern. Ich war vier Jahre alt, damals im Jahr 1931.

Es muss im späten Frühling gewesen sein. Mama hatte mir eine frische Schürze angezogen, mich zur Türe begleitet und gesagt: «Nun, Kätheli, kannst draussen spielen gehen.»

Ich lief durch den Vorgarten zum Tor. Eine Hauptstrasse führte an unserem Hause vorbei. Nebst den Personenwagen, die an einer Hand abgezählt werden konnten, verkehrten noch der Verkaufswagen der Migros, der Milchwagen sowie der Strassenspritzwagen, dem zur Sommerszeit die Buben in den Badehosen johlend nachsprangen, um sich an einer kühlen Dusche zu erfrischen. Als Verkehrsmittel hatten wir das Tram, das jeweils einen unverkennbar singenden Ton erzeugte, wenn es bei der nahen Haltestelle anhielt oder wegfuhr.

Da stand ich nun am Gartentor und schaute auf die Wiese, die sich uns gegenüber wie ein Teppich ausbreitete. Sie war nicht grün, sondern leuchtete in einem satten Gelb. Der Löwenzahn stand in voller Blüte.

Diese schöne Blumenwiese wollte ich mir näher ansehen. Hüpfend überquerte ich die Strasse und stand am Rande des Feldes. So etwas Strahlendes hatte ich in meinem kleinen Leben noch nie gesehen. Die Wiese kam mir unendlich gross vor.

Voll Begeisterung pflückte ich etliche von diesen gelben Blumen in meine Schürze und brachte sie nach Hause. Mama zeigte sich erfreut darüber, die verfleckte Schürze zog sie mir augenrollend aus und drückte sie in den hölzernen Waschzuber.

1880er-Jahre, Trimmis GR
Paul Thürer, *1878

Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört die romanische Magd Maria Zarn aus dem Nachbardorfe Ems. Wenn mein Bruder Georg und ich ihr etwa davon liefen, so fluchte sie in ihrem verdorbenen Emser Romanisch hinter uns her: «Schmaladias buobs» und fügte auf Deutsch hinzu: «Ihr kaiben Buben tut doch wüster, als es Gott lieb ist.» Romanisch war also die erste Fremdsprache, die ich hörte.

Ich erinnere mich ferner deutlich, dass mein Bruder und ich eines Tages in die «Löser» an der Grenze von Ems gingen, um dort die «Poppi» auszugraben, denn man hatte uns gesagt, dass man die kleinen Kinder aus den Ameisen Haufen heraus hole. Vergeblich durchwühlten wir diese Haufen und liessen uns von den gestörten Ameisen zerbeissen. Als wir nach Hause kamen, lachten uns alle am Tisch aus und sagten, wir seien zu spät gekommen, andere hätten die «Poppi» geholt.

1910er-Jahre, Val d’Anniviers VS
Adeline Favre, *1908

Während der ersten Lebensjahre hatte ich das sogenannte «grosse Weh», die Fallsucht, wobei es sich sehr wahrscheinlich um Epilepsie handelte. Zu jener Zeit hiess die Krankheit bei uns groumal. Im Herbst ging man von Saint-Luc aus zur Kapelle des Thel in Guttet-Bratsch, oberhalb Leuk, wo man die heilige Jungfrau gegen dieses grand mal anrief. Ich erinnere mich, dass mich im Alter von fünf Jahren die ganze Familie begleitete: Papa, Mama, Grossmama … Sie trugen mich abwechselnd. Man wollte mich durch Gebete heilen und nicht zu einem Arzt schicken. Bei uns war jedermann gläubig, und man hatte ein absolutes Vertrauen ins Gebet. Ich weiss nicht, bis zu welchem Alter ich unter dieser Krankheit gelitten habe. Ich spürte es jeweils, wenn ein Anfall kam, und sagte in unserem Dialekt: Yo tito, yo tito … je balance, je balance: «Ich schwanke, ich schwanke.» Und wenn mich niemand hielt, fiel ich zu Boden. Ich habe noch heute einige Narben davon.

Mein Leben als Kind war wie das aller Menschen im Val d’Anniviers: ein Leben unterwegs. Das Jahr unterteilte sich nach dem Verlauf der Feldarbeiten. Weil die Anniviards sowohl Reben in Sierre als auch Kühe auf den Alpen oben hatten, wechselten sie ständig von Ort zu Ort. Gewöhnlich wohnten wir in Saint-Luc. Unser Haus dort war recht geräumig und bequem. Das war sozusagen unser Hauptwohnort. Wenn man in den Reben arbeitete, wohnten wir in Muraz bei Sierre. Mehrmals im Jahr fand der grosse Umzug statt, der jeweils nahezu eine Woche dauerte. Das war ein grosses Durcheinander! Es zog nämlich das ganze Dorf gleichzeitig um: alle Familien, der Pfarrer, der Lehrer, das Vieh und die Kinder. Auf den Wagen packte man die Lebensmittel, die Haustiere, einen Teil der Kleider, und bei der Rückkehr nach Saint-Luc lud man auch noch die Kiste mit dem Schwein, das man am Katharinen-Markt in Sierre gekauft hatte, den Kaffee, den Zucker und das Mehl mit auf. Geschirr, Küchenutensilien und Bettwäsche besass man in doppelter Ausführung, sowohl im Haus in Saint-Luc wie in Muraz.

Die Schule in Sierre begann an Allerheiligen, Anfang November. Die Zeit von da an bis zum Katharinentag (25. November) waren die einzigen Tage im Jahr, wo sich wirklich alle zusammen im Tal unten trafen. Nach dem Katharinen-Markt fuhr man wieder nach Saint-Luc hinauf und blieb dort bis zum Februar. An der Fastnacht zog das ganze Dorf mitsamt der Schule wieder hinunter nach Sierre, wo die Rebarbeiten begannen. Man blieb während der Fastenzeit und bis nach Ostern unten. Im April musste man wegen des Korns, der Kartoffeln und der anderen Feldarbeiten wieder nach Saint-Luc hinauf, wo man den Sommer über bis zur Weinlese blieb. Zwischendurch stieg Papa hie und da für ein bis zwei Tage hinunter, um die Reben zu spritzen oder andere kleine Arbeiten zu verrichten. Wenn er zurückkam, fragten wir ihn oft: Papa quouè v’aï porta? – Plhèing lo chac dè lagné … Papa, qu’est-ce que vous avez apporté de Sierre? – Plein un sac de fatigue: Papa, was haben Sie aus Sierre mitgebracht? – Einen Sack voll Müdigkeit.

Die Schule begann also in Sierre an Allerheiligen und hörte in Saint-Luc im Mai auf. Man ging sechs Monate im Jahr zur Schule. Ich besuchte sie, bis ich vierzehn war. Weil mich Mama im Haushalt brauchte, liess sie sich vom Arzt ein Zeugnis ausstellen, damit ich die Schule verlassen konnte. Ich war übrigens damals schon so gross und körperlich schon so weit entwickelt, dass Mama fand, ich passe nicht mehr in meine Klasse. Zu Hause war ich überall zu gebrauchen, auf dem Feld, im Stall und beim Führen des Maulesels. Damals buk man zweimal im Jahr Brot, im Dezember und im Frühsommer, kurz vor dem Alpaufzug, denn das Brot war auch für die Sennen bestimmt. Der Dorfbackofen wurde während eines ganzen Monats nie kalt. Jede Familie musste ihr Holzkontingent abliefern. Man machte der Reihe nach Hunderte und Aberhunderte von Broten, die man das Jahr über im Speicher aufbewahrte.

Anfang Dezember wurde in Saint-Luc geschlachtet, und zwar Schweine und Kühe. Am Katharinen-Markt kaufte man jeweils kleine Ferkel, die man catsonèt nannte. Sie wurden nicht zusammen mit den älteren Schweinen des Vorjahres gehalten, sondern für sich allein in einem kleinen Holzverschlag, cramoite genannt. Manchmal hielten zwei Haushalte zusammen eine Kuh, und man gab ihr das beste Futter, damit sie am Schlachttag recht schwer war.

Man schlachtete im Ziegenpferch. Jedermann nahm daran teil, aber es waren immer die gleichen Männer, welche die Tiere töteten. Sie spalteten mit einer Axt den Schädel der Kuh zwischen den Hörnern. Die Fleischseiten hängten sie mit einem Flaschenzug an einem Galgen auf. Man hatte Wasser gekocht, um die Kutteln und die Därme zu reinigen, und man stellte Schweinsblutwürste her. Ich träume noch heute davon … Man fügte Reis, Rahm, Lauch und Zwiebeln bei.

Wenn wir, meine Brüder, meine Schwestern und ich, am Sonntag von der Messe kamen, war Papa in der Küche daran, Blutwürste und Fleischsuppe zu kochen. Jedes bekam davon. Das waren Leckerbissen.

Das Fleisch legte man in Saint-Luc in Salz. Dann trocknete man es im Speicher und ass noch im August davon. Man musste es allerdings lange kauen, weil es so hart war … Hie und da hatte das Fleisch auch zèchè, Fleischmilben, die man dann in den Fettaugen der Suppe entdeckte. Jedermann kannte das. Das Einsalzen dauerte übrigens acht Tage.

In meiner Kindheit haben wie nie Fleisch gekauft. Es ist uns nie ausgegangen, obschon wir täglich, ausser Freitag, davon assen.

Das Brot hielten wir sehr in Ehren. Man segnete es, bevor man es anschnitt. Brot durfte man nie mit der Unterseite nach oben auf den Tisch legen.

Unsere Familie besass eine oder zwei Kühe, deren Milch wir an die Hotels verkauften. Wir mussten die èhöèintsè, wie man sie nannte, oft hüten. Das war allerdings vor allem die Aufgabe von Hubert, der auf der Alp den Käse herstellte. Ich wurde dazu bestimmt, mit Papa auf dem Feld zu arbeiten. Ich war robust und arbeitete in den Reben, mähte die Wiesen, führte das Maultier – Papa war stolz auf mich.

Mit dem Grösserwerden übernahm ich mehr und mehr schwere Arbeiten, Männerarbeiten. Von klein auf mussten wir in den Äckern die Erde hinauftragen. Im Val d’Anniviers sind die bebauten Landstücke so steil, dass man regelmässig die Erde vom unteren Ende des Ackers an den oberen Rand hinauftragen musste. Die Kinder trugen so viel sie konnten, eine, zwei, drei Schaufeln voll. Wir waren immer stolz, wenn wir möglichst viel tragen konnten, auch wenn uns oben vor Anstrengung die Zunge heraushing. Papa war sehr lieb, er jagte oder drängte uns nie. Wie man im Dialekt sagt: Fé gotta, gotta, fé la motta … goutte à goutte on fait la tomme: – Steter Tropfen höhlt den Stein.

1950er-Jahre, Klewenalp NW
Tony Ettlin, *1950

Während meiner Schulzeit verbrachte ich zwei oder drei Sommer auf der Alp. Mein Onkel Walti, der Zwillingsbruder meiner Mutter, betrieb die Alp «Biel» auf Klewenalp oberhalb Beckenried. Die Alp hatte schon meinem Grossvater gehört. Die Alphütte war um 1950 herum erbaut worden, nachdem eine Lawine die alte Hütte verschüttet hatte. Es war ein eindrückliches Erlebnis, wenn wir zum Standort der alten Hütte gingen, wo noch Grundmauern standen und klar erkennbar war, wo die Küche, wo der Stall und wo der Wohnraum gewesen war. Die Vorstellung, dass eine Lawine über das Dach hinwegfegen und alles mitreissen und unter sich begraben könnte, während ich in der Hütte wäre, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Oft fragte ich Onkel Walti, ob denn die neue Hütte wirklich an einem sicheren Ort stehe. Seine Erklärungen, warum man die Hütte eine halbe Stunde weiter vorne auf einem offenen Plateau und nicht mehr in diesem Tal baute, beruhigten mich. Allerdings stand in der Nähe der Ruine unserer alten Hütte eine weitere Alphütte, die aus meiner kindlichen Sicht genauso gefährdet war. Wenn wir diese besuchten, war mir nie ganz wohl. Ich erwartete das Donnern der Lawine, die uns unter sich begraben würde, auch wenn es mitten im Sommer war.

Onkel Walti war ein wortkarger, gutmütiger, aber auch etwas verschrobener Dickkopf. Ich glaube, er haderte ständig mit seinem Schicksal und genoss die Arbeit auf der Alp nur halbherzig, obwohl er oft beteuerte, dass er nichts anderes lieber machen würde. Er kämpfte um seinen Platz als Älpler, wenn einer seiner Brüder ihm diesen streitig machen wollte. Aber im Alpalltag wirkte er meistens missmutig und verschlossen, und das irritierte mich als Knirps. Ich wusste nie, ob ich der Grund für seine schlechte, brummelige Laune war. Wenn es vorkam, dass mir ein Missgeschick passierte und ich einen Eimer voll Milch verschüttete, fluchte er kurz, mahnte mich zu mehr Vorsicht und zog sich dann in sein trotziges Schweigen zurück. Ich konnte nicht abschätzen, wann der Zorn über meine Ungeschicklich­keit und die verlorene Milch verraucht war, da sich sein Gemütsausdruck nicht von dem gewohnten Anblick unterschied.

So richtete ich mich in meiner eigenen schweigsamen Welt ein, machte die mir aufgetragene Arbeit, trottete hinter Walti her, half ihm beim Melken, Hagen, Wiesen ausbessern, Steine zusammentragen, Rinder beobachten und heuen an den abschüssigen Hängen des Schwalmis. Tage vergingen, ohne dass wir ein Wort sprachen. Oft beschränkte sich unsere Konversation auf Befehle zu Handreichungen, wie: «Gib mir den Hammer!» – «sʼVreni muss noch gemolken werden.» – «Leg ein paar Scheite ins Feuer!»

Die wenigen Gespräche, an die ich mich erinnern kann, fanden am Abend am Tisch statt. Ich sehe uns beide am massiven Holztisch, der von Schnitten, Brandspuren und Einschlägen gezeichnet war, ein­ander gegenübersitzen, ich auf der Bank an der Wand, Walti auf einem wackligen, selbstgebauten Stuhl. Wir löffelten die Suppe, kauten an einem Stück wochenaltem Brot und blickten vor uns auf den Tisch. Walti fragte mich nach der Schule, ob ich gut mitkäme, was ich denn so lerne, wie die Lehrerin sei. Ich antwortete stockend, froh, dass wir sprachen, aber zu schüchtern, um wirklich von mir zu erzählen. Nach einigen Minuten gingen Walti die Fragen aus, und ich wagte nicht, die meinen zu stellen. Das Gespräch brach ab und wir versanken in unser gemeinsames Schweigen, jeder in seiner Welt, aus der er ausbrechen wollte. Wir suchten nach einem neuen Anfang, aber die Gespräche fanden nur in unseren Köpfen statt. Es schien nichts wichtig genug, um gesagt zu werden.

Ich fühlte mich einsam und unverstanden und war froh, wenn ich allein mit den Geissen, die mir anvertraut waren, auf den Alpweiden herumziehen konnte. Am Abend trieb ich sie zurück in den Stall oder in die Nähe und melkte sie. Das war für mich ein sinnliches Erlebnis.

Ich setzte mich auf dem einbeinigen Hocker, der mit einem Ledergurt um meine Hüfte befestigt war, hinter die Ziege. Ziegen wurden im Gegensatz zu den Kühen von hinten gemolken. Warum weiss ich auch nicht. Walti hatte es mich so gelehrt. Ich hakte mit einem Bein an einem Hinterbein der Ziege ein, damit sie nicht davonlaufen konnte, und griff nach den Zitzen. Die prallgefüllten Zitzen oder «Striche», wie wir sie nannten, lagen warm in meiner Hand. In diesem Alter hatte ich noch keine erotischen Fantasien. Ich fand einfach diese warme, weiche Haut und pralle, runde Form sinnlich. Ich begann die Striche zu massieren, und nach ein paar Bewegungen mit zunehmendem Druck spritzte der erste Strahl in den Eimer. Das zischende Geräusch, das der Strahl beim Aufprall auf das Metall machte, wurde zu einem dumpfen Rauschen, während sich der Kessel füllte und das Euter sich leerte.

Die Ziegenmilch tranken wir selber. Die Kuhmilch verarbeiteten wir zu Butter oder in den ersten Jahren noch zu Käse. Später wurde dann die Käseproduktion in einer Hütte zusammengelegt, und wir trugen die Milch in grossen «Bränten» ungefähr eine halbe Stunde weit, lieferten sie in der Milchhütte ab und schauten dem Käser genau auf die Finger, wenn er in dem abgegriffenen Schulheft die mit einem Holzstab gemessene Menge eintrug.

In der Milchhütte erlebte ich Walti gesprächiger. Er tauschte mit den andern Älplern Neuigkeiten aus. Meistens ging es ums Wetter oder um ein Rind, das erkrankt war oder sich an einen gefährlichen, abschüssigen Ort verstiegen hatte. In diesen Gesprächen kam die Zuneigung zu den Tieren und die Besorgtheit für das Wohl der Herde zum Ausdruck. Die Älpler waren sich der Verantwortung für die ihnen anvertrauten Tiere bewusst und hätten ihr Leben riskiert, um ein Rind von einem steilen Felsband herunterzuholen. Ab und zu sprachen sie auch über Ereignisse in der Welt draussen. Einige hatten einen kleinen Transistorradio in ihrer Hütte. Wir hatten auch einen. Er wurde aber nur am Abend um 19.30 Uhr für die Nachrichten eingeschaltet. Wir sassen mit geneigten Köpfen am Tisch und hörten die trockene Stimme des Nachrichtensprechers von Radio Beromünster. Nach dem Wetterbericht schaltete Walti den Radio wieder aus, um die Batterien zu schonen. Die Gespräche zwischen den Älplern bestanden nur aus kurzen, oft nur halben Sätzen. Einer sprach etwas an, was er am Radio gehört hatte, und sobald er merkte, dass die andern informiert waren, weil sie auch Radio Beromünster gehört hatten, brach er mitten im Satz ab, und alle schwiegen, als ob sie keine Worte verschwenden wollten über etwas, was alle schon wussten. Das Gespräch zur Meinungsbildung oder zum Austausch unterschiedlicher Standpunkte schien den Älplern nicht vertraut. Wozu sollten sie sich eine Meinung bilden über das, was weit draussen in der Welt geschah und sie hier oben auf der Alp nicht betraf? Wenn ich Walti in diesen brüchigen und kargen Gesprächen erlebt hatte, empfand ich unser Schweigen danach noch bedrückender. Ich hatte den Eindruck, es liege an mir. Ich war offensichtlich kein interessanter oder gleichwertiger Gesprächspartner. Zu meiner Einsamkeit kam so noch ein diffuses Schuldgefühl. Ich hielt diese langen Tage nur aus, weil mir die Arbeit gefiel und ich spürte, dass ich nützlich war. Das versöhnte mich mit Walti. Er war froh, dass er die Geissen mir überlassen konnte. Er war auch dankbar, dass ich ihn auf den Melktouren am frühen Morgen begleitete, auch wenn «danke» nicht zu seinem Wortschatz gehörte.

Wir zogen im Morgengrauen mit Kessel, Bränte und Melkstuhl beladen los. In der freien Hand führten wir einen groben Gehstock, der uns im ruppigen Gelände etwas Halt gab. Schweigend stiegen wir über die mit Kuhwegen durchzogenen Hänge hinauf, Tritt für Tritt, in uns versunken, ab und zu einen kurzen Blick auf das Licht werfend, das am Himmel hinter dem Schwalmis aufschien und die Sonne ankündigte. Wir wussten, wo wir die Herde antreffen würden. Die Kühe wussten, wo wir sie suchen würden. Es gab keinen Grund, einander aus dem Weg zu gehen. Wir wollten die Kühe melken, die Kühe wollten gemolken werden.

Sie erwarteten uns am vereinbarten Ort und begrüssten uns mit vertrautem Muhen. Wir stellten die Bränte an einem flachen Ort ab. Es war immer derselbe Ort, wo sich eine Mulde gebildet hatte, in die die gekrümmte Form der Bränte passte und wo ein paar Steine zum Abstützen herumlagen. Wir gingen auf die Kühe zu und machten uns an die Arbeit. Die Kühe mussten nicht angebunden werden. Sie liessen sich geduldig melken und wussten, dass ihnen das Erleichterung verschaffte. Meine Aufgabe war das «Hanteln» oder Vormelken. Ich bearbeitete die Striche, bis sie sich mit Milch gefüllt hatten. Sobald der erste Strahl herausspritzte, war mein Werk getan. Die Kuh war für Waltis kräftigeren Hände vorbereitet. Ich stellte ihm den Eimer hin, und während er molk, begann ich die nächste Kuh vorzubereiten. So arbeiteten wir Hand in Hand, und das Einzige, was sich in das Muhen der Kühe, das Glockengebimmel und die Geräusche des Windes mischte, war ein kurzes «He da!», wenn eine Kuh einen Schritt tat oder einem von uns mit dem Schwanz ins Gesicht schlug, und das regelmässige Zischen des Milchstrahls.

Die Bränte füllte sich, Walti verschloss sie mit dem Holzdeckel, der satt sass und mit ein paar harten Schlägen mit dem Handballen gesichert wurde. Er musste tief in die Hocke gehen, um die Tragriemen aus Leder über die Arme auf die Schultern ziehen zu können. Mit dem Rücken an die Bränte gelehnt, fasste er Stand und stemmte die Bränte mit ca. fünfzig Litern Milch in die Höhe. Mit einem leichten Ruck schob er die Riemen und das Gewicht an den richtigen Ort und machte sich in bedächtigem, gebeugtem Schritt auf den Weg zur Hütte. Ich sammelte die andern Gerätschaften ein, packte meinen Stock und folgte Walti über die holprigen und steinigen Weiden. Aus den Eimern stieg mir der Geruch der frischen Milch in die Nase. Ich hatte meine Rolle, war nützlich, und in der Hütte würde es ein einfaches, gutes Frühstück geben.

Während Walti die Milch im Kühlhaus in einen Steintrog mit kaltem Wasser stellte und die Eimer ausspülte, setzte ich eine verbeulte Pfanne, die innen silbrig blankgeputzt und aussen mit einer Russschicht bedeckt war, auf den Herd. Ich fischte mit einem eisernen Haken die Ringe aus dem Herd, die das Feuer abdeckten, wenn keine Pfanne darauf stand. Mit der richtigen Anzahl Ringe konnte das Loch der Grösse der Pfanne angepasst werden, sodass sie Halt hatte und nicht auf der Glut darunter auflag. Dann öffnete ich die Klappe zum Feuerloch und blies in die Asche. Unter der auffliegenden Aschewolke glimmte der Rest der Glut vom Vorabend auf. Schnell legte ich ein paar Holzspäne auf die Kohle, und schon bald züngelten Flammen nach den Scheiten, die ich auflegte. Ich goss Ziegenmilch in die Pfanne und begann den Tisch zu decken.

Inzwischen war Walti in die Küche gekommen, schnitt von einem unförmigen Laib dicke Scheiben ab und stellte ein Stück Käse auf den Tisch. Er hatte den handgeformten Butterballen aus dem Kühlhaus mitgebracht. In einer Zweikilobüchse stand Vierfruchtkonfitüre auf dem Tisch. Wenn die Milch zu sieden begann, schüttete ich sie in einen grauen Krug mit blauen Rändern und trug ihn in den Wohnraum. Der Duft der siedenden Ziegenmilch verbreitete Wärme im Raum, und von der Küche strahlte das Feuer aus dem Kochherd ab. Schweigend packten wir zu. Beide schmierten Butter auf die Brotscheiben. Walti schnitt sich mit dem Messer ein Stück Käse ab. Ich stocherte mit einem krummen Löffel in der Vierfruchtkonfitüre her­um und schaffte es, aus den Tiefen der Konservendose eine Ladung der süssen Masse auf mein Brot zu transportieren. Die Arbeit an der frischen Luft hatte hungrig gemacht.

Ich trank die Ziegenmilch mit Ovomaltine. Meine Mutter hatte mir eine Büchse in den Rucksack gepackt. Der Schokoladengeschmack verband mich mit dem Frühstück zuhause und weckte je nach Tagesform warme, frohe Gefühle oder Heimweh. Walti rührte einen Teelöffel Nescafé in die Milch und schlürfte die Brühe genussvoll. Ausser den schmatzenden Essgeräuschen war nichts zu hören. Nur aus der Küche tönte es ähnlich. Bärri oder Bimi oder wie auch immer der Hund hiess, der uns Gesellschaft und gute Dienste beim Vieheintreiben leistete, schlürfte seine Milch und seine Brocken aus einem Blechnapf.

Häge mussten geflickt oder neu erstellt werden, Steine zu grossen Haufen oder langen Mauern zusammengetragen werden. Ich fragte mich, woher diese Steine immer wieder kamen. Irgendwann mussten doch alle Alpweiden von den Steinen befreit sein. Mir schien diese Arbeit ein Sisyphusprozess. Am liebsten war mir das Heuen an den steilen Hängen. Wegen des kargen, harten Grases, das in diesen ausgesetzten Höhen wuchs, oder vielleicht auch wegen der Verwegenheit der Älpler, hiess diese Tätigkeit «Wildiheuen».

Walti und ich stiegen mit Sense, Gabel, Rechen und ein paar «Burdi»-Netzen einem schmalen Bergweg folgend gegen den Schwalmis hinauf. Kurz bevor wir den Bergrücken erreicht hatten, legten wir un­se­re Gerätschaften und die Rucksäcke, die unser Mittagessen enthielten, an einem sicheren Ort ab. Der Hang war so steil, dass jeder unachtsam hingeworfene Gegenstand hinunterrollen konnte und über die darun­ter liegende Felswand für immer in der Tiefe verschwunden wäre.

Auch hier hatten wir eine klare Rollenteilung. Walti schnitt mit der Sense das widerspenstige Gras. Ich ging zu dem Platz, an dem er gestern oder vor zwei Tagen gemäht hatte. Mit der Gabel wendete und lockerte ich das trocknende Gras. Ich fuhr mit der Gabel über die Grasnarbe und stiess das halbdürre Gras zu einem Haufen zusammen, den ich mit Schwung in die Luft warf, sodass die Grashalme aufgelockert auf den Boden zurückfielen. Dieser Arbeitsgang hiess «Worben». Dort, wo das Heu schon trocken genug war, rechte ich es zu kleinen Wellen, sogenannten Mahden zusammen. Wenn Walti ein Stück gemäht hatte, holte er die Gabel und verteilte das Gras locker über die gemähte Fläche, sodass die Halme an der Sonne trocknen konnten. Dann legte er eines der mitgebrachten Netze am Hang aus. Er musste es am Boden befestigen, damit es nicht wegrutschte, wenn es mit Heu gefüllt wurde. Er begann, die trockenen Heumahden mit der Gabel zusammenzustossen, und trug das Bündel Heu, das er an der Gabel aufgespiesst hatte, zu dem ausgelegten Netz. Langsam wuchs ein grosser Heuhaufen. Ich war dafür zuständig, dass das Heu im Netz blieb und nicht den Hang hinunterkollerte. Ich stand unterhalb des Netzes und hob den unteren Rand so hoch in die Luft, wie ich konnte. Das war auf die Dauer recht anstrengend, denn der Druck des wachsenden Heuballens, der Burdi, wuchs. Es hing auch von mir ab, ob wir eine grosse oder nur eine mittlere Burdi ins Netz brachten. Wenn Walti sah, dass ich dem Druck nicht mehr standhalten konnte, fasste er das Netz am obern Rand und zog es um die ganze Heuladung zusammen. Während eines Tages schafften wir vier oder fünf dieser Ballen, und dazu war wieder genügend Gras gemäht und gekehrt für die nächsten Tage.

Wenn die Sonne ihren Höchststand erreicht hatte, setzten wir uns ins Gras, packten unsere Rucksäcke aus und assen unser Mittagessen. Meistens waren das eine getrocknete Wurst, ein Landjäger, Brot und ein paar gedörrte Birnen. Zur Abwechslung gab es etwas aus der Büchse, Sardinen im Öl oder in einer Tomatensauce, Corned Beef oder Fleischkäse. Wahrscheinlich war ich immer so hungrig, dass mir alles schmeckte. Wir sassen am Bord, kauten das einfache Mahl, tranken Most oder Sirupwasser und blickten auf unsere Alp hinunter, auf ­Beckenried, den Vierwaldstättersee und die Rigi. Ich fühlte mich erwachsen und gleichwertig.

Einmal stiess ich allerdings an meine Grenzen. Wir waren in einem besonders steilen Stück tätig, als mich die Angst packte. Meine Knie zitterten, der Hang begann sich zu drehen, drohend tat sich der Abgrund vor mir auf. Ich legte den Rechen nieder und ging langsam in die Hocke. Ich versuchte bergauf zu schauen, aber ich konnte mich vor Angst nicht mehr drehen. Jede Bewegung schien mir riskant. Ich könnte rutschen und würde den Hang hinunterkollern auf die Felswand zu, und das wäre mein Ende. Schlotternd sass ich am Boden und hielt mich an den Grasbüscheln fest.

Es ging eine Weile, bis Walti etwas merkte. Er rief: «He, was ist los?» «Ich habe Angst!», presste ich hervor.

Zu meiner Überraschung lachte Walti nicht. Er legte sofort seine Sense nieder und kam mit sicheren Schritten quer über den Steilhang zu mir, nahm mich an der Hand und führte mich zu einem weniger steilen Platz. Seine grobe Hand fühlte sich gut und sicher an. Es war eine der wenigen Körperberührungen zwischen uns. Ich liess mich führen, und die Angst verflog mit jedem Schritt. Nachdem ich einen Schluck Most getrunken und mich mit dem Hang wieder vertraut gemacht hatte, war ich wieder arbeitsfähig. Keiner von uns sprach je wieder davon.

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