Hartmann von Aue

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2.2.2.2. Die drei Fassungen des ‚Armen Heinrich‘



FassungFassungsdivergenzEine vergleichbare Situation finden wir auch in der Überlieferung des ‚Armen Heinrich‘ (→ Verzeichnis der Handschriften und Fragmente). Obwohl es sich um einen mit 1500 Versen relativ kurzen Text handelt, können wir heute noch mindestens

drei völlig verschiedene Fassungen

 nachvollziehen – bei nur drei vollständigen Handschriften und drei Fragmenten. Wieder ist es v.a. das Ende der Erzählung, das die größten Abweichungen bietet. Doch anders als beim ‚Iwein‘ sind auch an anderen Stellen grundlegende konzeptuelle Unterschiede zu beobachten. Die uns erhaltenen Fassungen vermengen unterschiedliche Erzählschemata und hybridisieren sie zu einer Einheit (Warning 2004). Das erschwert die gattungstypologische Einordnung dieses kleinepischen Textes, der zwischen LegendeLegende, Märchen und Exempel steht. Ich versuche, die Situation knapp zu umreißen; im Ergebnis kann man auch hier, wie beim ‚Iwein‘, nicht mehr von

einem

 autornahen Text sprechen, sondern nur noch von nebeneinander existierenden Fassungen. Der Text der

Handschrift A

(die Handschrift ist 1870 in StraßburgÜberlieferung verbrannt, jedoch durch frühere Abschriften vollständig rekonstruierbar) aus dem 14. Jahrhundert galt bis in jüngste Zeit als der Hartmann am nächsten stehende. Hier heiratet HeinrichHeinrich (‚Armer Heinrich‘) nach seiner wunderbaren Genesung am Ende die MeierstochterMeierstochter (‚Armer Heinrich‘). Wegen des Standesunterschiedes (ein Ritter heiratet eigentlich kein Bauernmädchen) ist das allerdings ein ‚Märchenschluss‘ mit einem alle zufriedenstellenden Happy End.



FassungFassungsdivergenzDemgegenüber steht

Fassung B

, repräsentiert durch zwei Handschriften (Ba → Abb. 2.4. und Bb), von denen die eine nachweislich eine ziemlich getreue Abschrift der anderen (z.T. sogar durch den gleichen Schreiber) ist; sie hängen also sehr eng miteinander zusammen. Hier gibt es zwar auch einen glücklichen, aber keinen so märchenhaften Ausgang: Nach Gesundung und freudiger Rückkehr heiraten HeinrichHeinrich (‚Armer Heinrich‘) und die MeierstochterMeierstochter (‚Armer Heinrich‘) nicht, sondern gehen ins Kloster – nach dem abgewendeten Opfertod des Mädchens und der wundersamen Heilung Heinrichs wollen sie sich aus der Welt zurückziehen und auf diese Weise neben dem körperlichen auch ihr Seelenheil gewinnen. Ein solcher

moniage

, ein Rückzug der Protagonisten ins Kloster, ist ein durchaus konventioneller, aber eher geistlicher Schluss. Zu dieser Grundkonzeption passen auch weitere, tiefgreifende Änderungen, die B gegenüber A aufweist: Die wichtigste ist das Alter des Mädchens, das zu Beginn der Handlung in A erst 8 Jahre alt ist, in B jedoch immerhin schon 12. Wenn es drei Jahre später beschließt, sich für Heinrich zu opfern, ist es in A immer noch ein unmündiges Kind, das freilich bereits rhetorisch brillant und theologisch überzeugend argumentieren kann – dieses wenig wirklichkeitsnahe Verhalten passt in gewisser Weise zum Märchenschluss von A. In Fassung B ist das Mädchen dagegen bereits 15 Jahre alt, im heiratsfähigen Alter und reifer; ihre Beziehung zu Heinrich trägt zudem deutlich erotischere Züge. Umstellungen und Erweiterungen gegenüber A, v.a. in der Argumentation, mit der die MeierstochterMeierstochter (‚Armer Heinrich‘) ihre Eltern von ihrem Opferwillen überzeugt, lassen sie eigenständiger erscheinen und zielen darauf ab, mit ihrem Opfer nicht nur Heinrich zu retten, sondern zugleich auchÜberlieferung das eigene Seelenheil zu gewinnen (vgl. Schiewer 2002). In dieser nur knapp umrissenen Konstellation ist ein geistlicher Schluss nur folgerichtig und fügt sich in die Gesamtkonzeption von B ein.



2.4.



Beginn des ‚Armen Heinrich‘ in Handschrift Ba (erstes Viertel des 14. Jahrhunderts).



Bezieht man zu diesen Überlegungen nun auch noch den ÜberlieferungskontextÜberlieferungskontext mit ein, so bilden die beiden Fassungen auch hier ein eigenständiges Profil aus. Im Gegensatz zu den beiden ältesten ‚Iwein‘-Handschriften, die nur diesen einen, freilich auch wesentlich längeren Text enthalten, findet sich der deutlich kürzere ‚Arme Heinrich‘, soweit sich das noch nachweisen lässt, stets im Verbund mit anderen Texten. Es handelt sich um Sammelhandschriften, die hauptsächlich kurze bis kürzeste Werke (bis hin zu Sinnsprüchen), dies jedoch in großer Anzahl, beinhalten; zum überwiegenden Teil Mären- und Exempeldichtungen. Handschrift A umfasste 27 solcher Texte, die beiden Handschriften der Fassung B enthalten sogar weit über 200. Vergleicht man die anderen Texte der jeweiligen Handschriften inhaltlich miteinander, so lässt sich zumindest ein Trend erkennen: Die Mehrheit der kurzen Erzählungen und Sprüche in A sind eher komisch bis derb, zugespitzt formuliert bieten sie vor allen Dingen unkomplizierte, launige Unterhaltung. Das ‚Happy End‘ mit Märchenschluss passt gut in Überlieferungeinen solchen Zusammenhang. Umgekehrt beinhalten die beiden Handschriften der B-Fassung auch sonst überwiegend Texte mit einer geistlich-religiösen Komponente. Insbesondere diejenigen in der unmittelbaren Umgebung des ‚Armen Heinrich‘, also die vor und nach dieser Erzählung stehenden Texte, sind dezidiert religiös konnotiert. In eine solche Reihe wiederum fügt sich gerade der geistliche Schluss von B hervorragend ein, der dagegen neben den anderen Texten von A regelrecht deplatziert wirken würde (Hammer/Kössinger 2012:160–162). A bietet die problematischere, weil unrealistische Fassung, während der religiöse Anspruch in B wohl eher den literarischen Konventionen entsprochen haben dürfte; beide Fassungen stimmen mit der Schwerpunktsetzung ihres jeweiligen Überlieferungskontextes überein.



FassungFassungsdivergenzVerkompliziert wird die Lage durch den Fund von Fragmenten, die 1965 bei Restaurierungsarbeiten an der Orgel der Klosterkirche Benediktbeuern aufgetaucht sind: Insgesamt 11 Pergamentstreifen einer Handschrift waren zur Abdichtung in die Orgelpfeifen eingeklebt, der Erhaltungszustand des Pergaments ist dadurch ziemlich schlecht. Da sie der Länge nach zerschnitten sind, lassen sich vielfach nur noch die Versanfänge oder -schlüsse der enthaltenen Texte erkennen; erst kriminaltechnische Methoden konnten die Lesbarkeit einiger Abschnitte wieder entscheidend herstellen. Zufällig jedoch sind in diesem

mit E bezeichneten Fragment

 sowohl der Anfang als auch der Schluss des ‚Armen Heinrich‘ erhalten (der Anfang vollständig, der Schluss über die Versanfänge rekonstruierbar), während der Text in der Mitte weitgehend verloren ist (→ Abb. 2.5.). Aus dem wenigen, was erhalten ist, lassen sich weitreichende Schlüsse ziehen: Hier liegt offenbar eine Fassung vor, die sich von den bisherigen gründlich unterscheidet; u.a. fehlt der Prolog, in dem sich Hartmann als Autor nennt. Gekürzt ist aber auch der Schluss: Gegenüber A und B endet der Text von E nicht mit Heirat oder

moniage

, sondern schon viel früher, nämlich mit der wunderbaren Heilung und der Rückkehr von HeinrichHeinrich (‚Armer Heinrich‘) und Überlieferungder MeierstochterMeierstochter (‚Armer Heinrich‘), deren weiteres Schicksal offen bleibt.



Abb. 2.5.



Zwei der elf Teile von Fragment E des ‚Armen Heinrich‘ (um 1300).



FassungFassungsdivergenzDa die Entstehungszeit dieser Handschrift aus paläographischen Gründen noch ans Ende des 13. Jahrhunderts zurückreicht, scheint es sich nicht um eine v.a. für das Spätmittelalter typische KurzfassungFassungKurzfassung zu handeln, wie sie beispielsweise mit der ‚Iwein‘-Handschrift z vorliegt (s.o.). Da man außerdem anhand der erhaltenen Versanfänge sowie der Blattgrößen in etwa den ursprünglichen Gesamtumfang des Textes von E errechnen kann, lässt sich feststellen, dass die wesentlichen Kürzungen v.a. den Prolog und eben das Ende betroffen haben, der Textbestand ansonsten aber offenbar nicht wesentlich kürzer gewesen sein dürfte. Das legt den Schluss nahe, dass es sich bei E nicht einfach um eine gekürzte Fassung handelt, sondern um eine Textform, die der des religiösen Exempels nahesteht (Hammer/Kössinger 2012:158f.). Dazu würde die Anonymität des Textes passen (die Autornennung fällt ja mit dem Prolog weg), v.a. aber der rasche Abschluss der Handlung, der dann den Akzent ganz auf die gnadenvolle Heilung setzt und sich für das weitere Schicksal der Protagonisten nicht interessiert. Dass der Text jedenfalls für didaktische Zwecke geeignet war, zeigt die Aufnahme des Stoffes in lateinische ExempelsammlungenBreslauer Exempelkollektionen (Mertens 2004:939–941), wo der Erzählstoff vom Armen Heinrich als exemplarische Geschichte dargeboten wird, um Gottes Gnade und Barmherzigkeit unter Beweis zu stellen, welche den sündigen Menschen vom Aussatz (der dann weniger im wörtlichen denn im übertragenen Sinne zu sehen ist) heilen kann.



FassungFassungsdivergenzDie Überlieferung von ‚Iwein‘ und ‚Armer Heinrich‘ könnte also unterschiedlicher nicht sein. Der Artusroman ist in zahlreichen Handschriften erhalten, der kurze, legenden- oder Überlieferungexempelhafte ‚Arme Heinrich‘ dagegen nur in drei vollständigen Handschriften. Dennoch zeigt sich ein vergleichbares Bild, denn beide Texte präsentieren sich in ganz unterschiedlichen Fassungen, die insbesondere im Erzählschluss ausgesprochen prägnant voneinander abweichen. Welche Fassung nun das ‚Original‘ Fassungautorisierte F.von Hartmann ist, wäre dabei erneut die falsche Frage. Man kann nur aus der Rezipientenperspektive argumentieren: Offensichtlich lassen sich gerade an den Schluss des ‚Iwein‘ seit jeher ganz unterschiedliche

Interpretationsangebote

 anschließen, und zwar bis ins Spätmittelalter hinein, was das Bewusstsein für und die Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen der handelnden Figuren unterstreicht. Es gibt daher keinen ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ Schluss; die beiden Fassungen existieren praktisch von Beginn an nebeneinander.

 



FassungFassungsdivergenzÄhnlich sieht es beim ‚Armen Heinrich‘ aus, nur dass die geringere Zahl der erhaltenen Überlieferungsträger hier für Unsicherheiten sorgt. Dennoch zeigt sich zumindest, dass am und mit dem Text gearbeitet worden ist, der grundsätzlich offen für Veränderungen und unterschiedliche Interpretationsmodelle war. Verbunden bleiben alle Texte dennoch stets mit dem Namen Hartmann von Aue, dessen schöpferische Tätigkeit damit für die Rezipienten hinter jeder Fassung steht; lediglich die an religiöse Exempel angelehnte und ohne Autornennung überlieferte Fassung E des ‚Armen Heinrich‘ bildet hier eine Ausnahme und zeigt dadurch, wie sich die Übernahme in andere Erzählgenres regelrecht verselbständigt: Da sich der Stoff für Exempeldichtungen eignet, wird der Kern der Erzählung innerhalb derartiger Kontexte losgelöst vom Autor weitertradiert – erst recht erweist sich darin die prinzipielle

Offenheit

 mittelalterlicher Textualität, die unabhängig von Konzepten wie dem des Autors und des Originals‘ von ‚echt‘ oder ‚falsch‘ funktioniert.





2.2.3. Lückenhafte Überlieferung: Der ‚Ereck‘



Ganz anders stellt sich die Situation beim ersten Artusroman in deutscher Sprache, dem ‚Ereck‘, dar. Hartmanns mutmaßlich erstes Werk wird in der Literatur des 13. Jahrhunderts immer wieder erwähnt, so in Wolframs ‚Parzival‘Wolfram von Eschenbach‚Parzival‘ (mit Hartmann als Autor verbunden) oder dem ‚Welschen Gast‘ des Thomasin von ZerklæreThomasin von Zerklære, ‚Welscher Gast‘, einem Lehrgedicht für höfische Tugenden und Verhaltensweisen (vgl. Wolf 2008:26 und 258f.). Entgegen dieser offensichtlichen Präsenz im literarischen ÜberlieferungBewusstsein ist die Überlieferungslage aber denkbar schlecht: Neben ein paar Fragmenten aus dem 13. und 14. Jahrhundert finden wir den gesamten Text überhaupt nur

in einer einzigen Handschrift (A)

, und nicht einmal dort ist er vollständig erhalten. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Handschrift erst

Anfang des 16. Jahrhunderts

angefertigt worden ist, also über drei Jahrhunderte nach der Entstehung des ‚Ereck‘: Das sogenannte Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch (benannt nach dem früheren Aufbewahrungsort Ambras in Österreich) wurde von niemand Geringerem als Kaiser Maximilian I.Maximilian I. in Auftrag gegeben. Maximilian war begeistert vom Mittelalter, präsentierte sich oftmals selbst als Ritter und hing so einem für ihn selbst schon längst vergangenen Zeitalter nach, das er idealisierte und als ‚letzter Ritter‘ bisweilen offenbar auch nachzuleben versuchte. Dementsprechend war er auch an der Literatur dieser Zeit interessiert (vgl. Müller 1982), und so beauftragte er den Zollschreiber Hans RiedRied, Hans, sich auf die Suche nach alten Handschriften zu machen und diese in einem großen, repräsentativen Codex abzuschreiben. Von 1504–1516 war Ried mit dieser Arbeit beschäftigt, wobei es offenbar nicht ganz einfach war, von allen Texten brauchbare Manuskripte aufzutreiben.



Abb. 2.6.



Überschrift zur ‚Mantel‘-Erzählung Überlieferungmit Ankündigung des ‚Ereck‘ im Ambraser Heldenbuch (A) (mittlere Spalte unten, vgl. Abb. 2.7.).



Das

Ambraser Heldenbuch

Ambraser Heldenbuch ist für die Literaturwissenschaft von unschätzbarem Wert, da es nicht weniger als 15 Texte enthält, die ansonsten gar nicht oder nur in wenigen Fragmenten überliefert sind. Von Hartmanns Werken enthält es neben dem ‚Ereck‘ auch den ‚Iwein‘ sowie die ‚Klage‘ und ein weiteres minnedidaktisches Werk, das ‚zweite Büchlein‘‚Zweites Büchlein‘, das zur Abfassungszeit des Codex offenbar ebenfalls Hartmann von Aue zugeschrieben wurde. Die beiden minnetheoretischen Stücke sind gerahmt von den beiden Artusromanen ‚Iwein‘ und ‚Ereck‘, was darauf schließen lässt, dass hier gezielt ein ganzer Block aus dem Hartmann-Œuvre aufgeschrieben werden sollte, und zwar allesamt Werke, in denen über das Thema der höfischen Minne reflektiert wird. Hans RiedRied, Hans hat die Texte aus seinen wohl sehr alten, aber nicht immer vollständigen VorlagenVorlage mit kalligraphischer Genauigkeit abgeschrieben, allerdings sprachlich modernisiert: Die mittelhochdeutsche Sprache seiner meist aus dem 13. Jahrhundert Überlieferungstammenden Texte überträgt er ausnahmslos in die frühneuhochdeutsche, Tiroler Mundart seiner Zeit. Wir finden Hartmanns ‚Ereck‘ daher nur in der Sprache des frühen 16. Jahrhunderts wieder, und da wir bis auf wenige Bruchstücke keine anderen Textzeugen mehr besitzen, ist es praktisch unmöglich, das mittelhochdeutsche ‚Original‘ Hartmanns wiederherzustellen – wenngleich fast alle Ausgaben anhand sprachlicher und stilistischer Vergleiche mit anderen Werken Hartmanns eine Rückübersetzung ins Mittelhochdeutsche unternommen haben. Das Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch ist daher in erster Linie ein

Rezeptionszeugnis

; anders als beim ‚Iwein‘ ist es für den ‚Ereck‘ und die ‚Klage‘ allerdings auch

das einzige Überlieferungszeugnis

.1



Doch die Schwierigkeit einer über 300 Jahre jüngeren, sprachlich stark veränderten Textfassung ist nicht die einzige. Hinzu kommt nämlich das Problem, dass die

Überlieferung des ‚Ereck‘ im Ambraser Heldenbuch

Ambraser Heldenbuch

an zwei Stellen

scheinbar

 unvollständig

oder zumindest gestört ist, einmal gleich am

Anfang

 und ein weiteres Mal

in der Mitte

 der Handlung. Besonders problematisch ist die erste Stelle: Geht man nach den ‚üblichen‘ Konventionen der höfischen Romane sowie nach der französischen Vorlage ChrétiensChrétien de Troyes, so wäre auch für den ‚Ereck‘ ein Prolog zu erwarten, in dem der Autor sich nennt und den Stoff seiner Erzählung vorstellt, die dann, ähnlich wie bei Chrétien, mit der Hirschjagd von König ArtusArtus beginnt. Der Text im Ambraser Heldenbuch beginnt mit einer längeren Überschrift, in der es zuletzt heißt, man erfahre nun ‚besonders von Ereck und seiner Frau einen Großteil und eine schöne Lektüre‘ (

Súnderlich von Erick und seiner hausfrauen ein tail ain schön lesen

→ Abb. 2.6. und 2.7.). Allerdings setzt erst einmal eine ganz andere Handlung ein, es geht nämlich um einen

Mantel

‚Der Mantel‘, der an den Artushof für eine Tugendprobe gebracht wird, um die Treue der dortigen Frauen zu testen. Diese schwankhafte ErzählungÜberlieferung hat ebenfalls eine französische Vorlage Vorlagefranzösische (‚Du mantel mautaillé‘); ‚Du mantel mautaillé‘eine mittelhochdeutsche Version ist allerdings einzig hier, im Ambraser Heldenbuch, überliefert.2 Nach fast tausend Versen, inmitten der Handlung, ja mitten im Satz und in der Handschrift durch nichts – kein anderes Layout, keine Überschrift, nicht einmal einen Absatz – gekennzeichnet, geht der Text dann unmittelbar in die ‚Ereck‘-Handlung über, wie wir sie von Chrétien her kennen: Plötzlich handelt die Erzählung vom Ausritt der Königin in Begleitung Erecks, während die bei Chrétien zuvor erzählte Hirschjagd der Artusritter nicht vorkommt, jedoch für das Verständnis der nachfolgenden Szenen vorausgesetzt werden muss (→ Abb. 2.8. und 2.9.).



Wie kommt es zu dieser merkwürdigen Kombination zweier so unterschiedlicher Erzählhandlungen mit zwei französischen Vorlagen, von denen nur Schauplatz und Personal übereinstimmen? Für sich betrachtet sieht es so aus, als ob es sich um zwei differierende Texte handelt, wobei von dem einen, dem recht kurzen ‚Mantel‘‚Der Mantel‘, der Schluss, von dem anderen, dem ‚Ereck‘, wiederum der Anfang fehlt; beide gehen ziemlich unvermittelt ineinander über und erscheinen in der Handschrift als ein gemeinsamer Text. Die philologische Forschung hat hierfür verschiedene Erklärungen beigebracht. Die einfachste wäre sicherlich, von einer Überlieferungspanne auszugehen: Hans RiedRied, Hans könnte, so die Vermutung, bereits eine fehlerhafte Vorlage verwendet haben, bei der mehrfach ein Blatt verlorengegangen sei (schließlich gibt es noch eine zweite Lücke im ‚Ereck‘). Das erste Blatt wäre dann genau an der Stelle ausgefallen, an der das Ende der ‚Mantel‘- und der Anfang der ‚Ereck‘-Erzählung gestanden hätten; Ried habe die Lücke womöglich nicht einmal bemerkt, sondern stur den Text der Handschrift kopiert (so z.B. Honemann 1999). Diese Erklärung greift freilich zu kurz. Hans Ried war ein ausgesprochen sorgfältiger Schreiber, der zwar manche für ihn fremdgewordene Ausdrücke des Mittelhochdeutschen nicht mehr verstanden und falsch umgesetzt hat, dem jedoch ein solcher Überlieferungsfehler durchaus aufgefallen sein müsste. Das zeigen nicht Überlieferungnur die älteren ‚Ereck‘-Fragmente K und V (dazu Scholz 2000), sondern auch Vergleiche mit anderen Texten des Ambraser HeldenbuchesAmbraser Heldenbuch, von denen noch andere, z.T. deutlich ältere Handschriften vorliegen (vgl. Thornton 1962, Fuchs-Jolie u.a. 2013:697f.).



Abb. 2.7.



Beginn des ‚Mantel‘ mit Ankündigung des ‚Ereck‘ im Ambraser Heldenbuch (A) (Detail).



Abb. 2.8.



Beginn der ‚Ereck‘-Handlung im im ÜberlieferungAmbraser Heldenbuch (A) (mittlere Spalte unten, D-Initiale, vgl. Abb. 2.9.).



Abb. 2.9.



Beginn der ‚Ereck‘-Handlung im Ambraser Heldenbuch (A) (Detail).



Der Befund ist also differenzierter zu bewerten. So ist anzunehmen, dass dem Text, ebenso wie seiner französischen Vorlage Vorlagefranzösischeund Hartmanns zweitem Artusroman ‚Iwein‘ ursprünglich ein Prolog vorausging, und anzunehmen ist auch, dass er die Hirschjagd ähnlich darstellte wie Chrétien. Es ist daher wahrscheinlich, dass es sich bei der eigenwilligen Verbindung von ‚Mantel‘-Handlung‚Der Mantel‘ und ‚Ereck‘ um eine

spätere Bearbeitungsstufe

 handelt, wobei der für seine Verhältnisse recht umfangreiche Prolog des ‚Mantel‘ gar als ein ‚Ersatz‘ für einen ‚Ereck‘-Prolog fungiert haben könnte (so Bumke 2006:11f.). Die bei der Verbindung Überlieferungauftretenden Unstimmigkeiten scheinen für das Spätmittelalter kein Problem gewesen zu sein: Selbst in den Augen eines so sorgfältigen Schreibers wie Hans RiedRied, Hans stellte der ‚Ereck‘ mit dem ‚Mantel‘-Anfang offenbar einen einzigen Gesamttext dar. Und mit großer Sicherheit hat Ried den Text so, wie er ihn abgeschrieben hat, bereits in seiner Vorlage als zusammengehörend vorgefunden. Dass die beiden Handlungsstränge zumindest nicht zufällig durch eine unglückliche Überlieferungspanne zusammengeklammert wurden, legen auch inhaltliche Korrespondenzen nahe: Am Ende der Mantelprobe, die die Treue der Frauen am Artushof erweisen soll, treten nämlich EreckErec und EniteEnite auf (in der französischen Version kommen die beiden dagegen gar nicht vor). Enite besteht die Probe bis auf einen kleinen Schönheitsfehler, erweist sich also als die treueste unter den Frauen am Hof – nicht einmal Königin GinoverGinover hatte bis dahin überzeugt! Kurz darauf setzt dann, wenngleich abrupt und übergangslos, die ‚Ereck‘-Handlung ein, in der die Treue Enites zu ihrem Mann ja eines der zentralen Themen ist. Die Geschehnisse um den Mantel und Enites Rolle darin werden auf diese Weise erst verständlich, wenn man rückblickend die des ‚Ereck‘ hinzunimmt, der damit beinahe wie eine Art ‚Prequel‘ für die ‚Mantel‘-Handlung erscheint.



Dies und weitere Korrespondenzen (vgl. dazu Hess 2011:170–175, Hammer 2015:434–444) lassen darauf schließen, dass die ‚Mantel‘-Handlung‚Der Mantel‘ möglicherweise planvoll mit der des ‚Ereck‘ verschmolzen wurde. Über die Gründe kann man nur spekulieren: Ist der Beginn von Hartmanns ‚Ereck‘ irgendwann verlorengegangen und dann von einem findigen Kompilator mit der ‚Mantel‘-Erzählung verbunden worden? Allerdings vermutet man aus sprachlichen Gründen, dass die Vorlage, die Hans RiedRied, Hans verwendet hat, möglicherweise noch ins 13. Jahrhundert zurückreicht – es wäre aber eher unwahrscheinlich, dass schon zu einem derart frühen Zeitpunkt ein Teil des Textes nicht mehr greifbar ist. Hat man gar den vorhandenen Anfang bewusst ersetzt, etwa, weil er nicht zu gefallen wusste? Auch das kann mangels weiterer Textzeugen weder überprüft noch bewiesen Überlieferungwerden. Ebenso muss unklar bleiben, ob der ‚Mantel‘ ursprünglich ein selbständiger mittelhochdeutscher Text nach französischer Vorlage Vorlagefranzösischewar, der erst später mit dem ‚Ereck‘ verbunden wurde, oder ob die Handlung lediglich als Folie diente, um eine neue oder andere Version eines ‚Ereck‘-Beginns herzustellen. Die unterschiedlichen Schlussfassungen des ‚Iwein‘ zeigen allerdings, dass solche Spekulationen reizvoll, aber wenig zielführend sind. Besitzen wir im Falle des ‚Iwein‘ verschiedene, gewissermaßen miteinander konkurrierende Fassungen, so haben wir beim ‚Ereck‘ den noch problematischeren Fall, nur einen einzigen, zumal sehr späten Überlieferungszeugen zu besitzen. Vieles mag sich im Laufe der Zeit vom ‚ursprünglichen‘ Text verändert haben – so werden an einigen Stellen, wie etwa dem umfangreichen Namenkatalog bei der Hochzeitsfeier, spätere Zusätze vermutet. Das aber lässt sich nicht rekonstruieren, was die Frage nach dem ‚Original‘ erst recht obsolet macht. Auch wenn mithin einiges dafür spricht, dass der Text des Ambraser HeldenbuchesAmbraser Heldenbuch eine bereits bearbeitete Fassung von Hartmanns ‚Ereck‘ darstellt: Es bleibt uns nur übrig, diesen als Rezeptionszeugnis der frühen Neuzeit in seiner vorliegenden Gestalt ernst zu nehmen.

 



FassungFassungsdivergenzDie ohnehin problematische ‚Ereck‘-Überlieferung wird durch die Fragmente noch weiter verschärft. Der

im Ambraser Heldenbuch

 erhaltene Text weist an mindestens einer weiteren Stelle

noch eine Lücke

 auf: Vor Erecks zweiter Begegnung mit der Artusgesellschaft gibt ein erneuter Sprung in der Handlung (auch im Vergleich mit ChrétienChrétien de Troyes) zu erkennen, dass hier offensichtlich etwas fehlt, denn plötzlich finden sich die Leser_innen in einem Gespräch zwischen EreckErec und KeieKeie, ohne dass deren Zusammentreffen vorher geschildert worden wäre (HaEk 5616f./HaEr 4629f.). Auch diese handlungslogische Lücke ist in der Handschrift durch nichts gekennzeichnet. Mit dem Fund von

zwei nicht ganz vollständigen Pergament-Doppelblättern

 in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel

konnte die Lücke

 allerdings

fast vollständig geschlossen

 werden: Das

Fragment

 (nach dem Fundort Wolfenbüttel mit der

Sigle W

 bezeichnet) stammt noch aus dem 13. Jahrhundert und enthält über 300 Verse von Hartmanns ‚Ereck‘, die fast genau an der Stelle einsetzen, an der die etwa 80 Verse im Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch fehlen, weshalb sie recht gut zu deren Rekonstruktion verwendet werden können. Allerdings weicht der Text von W in vielerlei Hinsicht von dem des Ambraser Heldenbuches ab. Abgesehen davon, dass es sich nicht um Frühneuhochdeutsch, sondern um ein Mittelochdeutsch des 13. Jahrhunderts handelt, weist die Schreibsprache von W Überlieferungmitteldeutsche Merkmale mit niederdeutschen Einflüssen auf – auch hier war also ein Schreiber am Werk, der Hartmanns Werk nach den Gegebenheiten seiner eigenen Sprache aufgeschrieben hat (vgl. Klein 2007).



FassungFassungsdivergenzDie Wolfenbütteler Fragmente bieten einen Text von Hartmanns ‚Ereck‘, der nicht nur sprachlich, sondern auch gestalterisch anderen Kriterien unterworfen ist als der viel später entstandene des Ambraser HeldenbuchesAmbraser Heldenbuch. Im Jahr 1978 sind in Wolfenbüttel weitere Fragmente dieser Handschrift aufgetaucht: ein Pergamentblatt, das in schmale Streifen zerschnitten wurde, um den Einband einer anderen Handschrift zu verstärken. Beim Zusammensetzen der einzelnen Streifen konnte man feststellen, dass sie vom selben Schreiber und derselben Handschrift stammen wie die beiden bereits bekannten Wolfenbütteler Blätter. Auch sie beinhalten, soweit man das bei diesem zerschnittenen Blatt noch erkennen kann, Teile der ‚Ereck‘-Handlung. Der hier gefundene Text gibt eine Szene aus dem Kampf zwischen Ereck und GifuraisGifurais wieder, in der Handlung also unweit der Stelle, an der die zuerst entdeckten Wolfenbütteler Fragmente einsetzen. Doch hat die hier geschilderte Szene überhaupt keine Parallele im Ambraser Heldenbuch, sondern ist viel stärker an die französische Vorlage Vorlagefranzösischeangelehnt. Dieser verwirrende Befund deutet darauf hin, dass es im 13. Jahrhundert offenbar noch eine weitere (aufgrund der Schreibsprache wohl hauptsächlich im mitteldeutschen Bereich kursierende) Version des ‚Ereck‘ neben der Hartmanns von Aue gegeben haben muss. Diese These wird durch die jüngst entdeckten

Fragmente aus dem Kloster Zwettl

 (

Z

) gestützt: Auch hier handelt es sich um insgesamt 11 kleine Papierschnipsel, die zur Verstärkung von barocken Einbänden in Bücher geklebt und erst bei der Restaurierung freigelegt und 2002 (das letzte erst 2013) bekannt wurden (→