Hartmann von Aue

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1.2. ‚Höfische‘ Dichtung. Hartmann und der literaturgeschichtliche Kontext

Somit verweist das von Hartmann entworfene ritterliche Selbstbild auktoriale Selbstdarstellungin den Raum einer neu entstehenden und an der klerikalen Schriftkultur partizipierenden Form literarischer SchriftlichkeitSchriftlichkeit. Denn der gelehrte Ritter ist ja nicht zuletzt ein Ritter, der den Anspruch geistlicher Bildung ins Weltliche transponiert und so als Ausdruck für ein neues Selbst- und Kunstbewusstsein volkssprachlicher Dichtung verstanden werden kann. Der gelehrte Ritter, der über Lesekompetenzen und Bildungswissen verfügt, wird zum Repräsentanten und Protagonisten ‚höfischer‘ Dichtung. Diese Dichtung mit ihrer Schwerpunktsetzung auf profane, lebensweltliche Gegenstände (Ritterschaft, Liebe, Abenteuer) markiert eine literaturgeschichtliche Zäsur. Zwar gab es auch schon zuvor eine volkssprachliche Schriftlichkeit; diese aber diente Mönchen und Geistlichen fast ausschließlich dazu, den weniger Lateinkundigen Glaubenstexte und christlich-heilsgeschichtliche Inhalte nahezubringen. Ab Mitte des 12. Jahrhunderts begann dann eine kleine kulturelle Elite innerhalb des Laienadels Einfluss auf die literarische Produktion zu nehmen. Der Literaturbetrieb, der wahrscheinlich an den großen Fürstenhöfen sein neues Zentrum fand, wurde nun von ganz anderen Faktoren bestimmt als zuvor in den Klöstern. HofkulturDas Urteil und die Wünsche des Publikums dürften die literarischen Werke geprägt haben, aber die zentrale Instanz war der adlige Gönner, der die Tätigkeit der Autoren finanzierteAuftraggeberAuftragsdichtung. Ohne dessen Bereitstellung von literarischen Vorlagen, Schreib- und Beschreibstoffen sowie materieller Entlohnung ist die Entstehung der ‚höfischen‘ Literaturhöfische Dichtung nicht denkbar. Gleichwohl findet sich im Werk Hartmanns von Aue kein einziger Name eines Gönners. Ausgerechnet der bedeutendste ‚höfische‘ Autor des 12. Jahrhunderts verzichtet darauf, seinem Finanzier die Ehre zu erweisen und ihn namentlich zu erwähnen. Dies ist umso erstaunlicher, als nahezu unser gesamtes Wissen über die Gönnertätigkeit von Adligen den literarischen Texten selbst entnommen werden muss, da historische Quellen weitestgehend fehlen.

Im folgenden Abschnitt werden die bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen für diesen tiefgreifenden kulturellen Wandel dargestellt und das Werk Hartmanns von Aue in die literarische Entwicklung bis um 1200 eingeordnet. Dafür wird zunächst einmal die Frage erörtert, wer in der mittelalterlichen Gesellschaft überhaupt lesen und schreiben konnte und wie wir uns die Rezeption der neu entstehenden ‚höfischen‘ Literaturhöfische Dichtung vorzustellen haben (1.2.1.). Anschließend wird die Bedeutung der großen Fürstenhöfe für die Verbreitung der neuen literarischen Formen erörtert (1.2.2.) und die Vorreiterrolle der Romania skizziert (1.2.3.). Die deutschen Adeligen orientieren sich nämlich an der HofkulturHofkultur, die in verschiedenen Regionen des heutigen Frankreich schon in der ersten Jahrhunderthälfte entstanden war. Volkssprachliche Literatur war ein zentraler Bestandteil dieser romanischen HofkulturHofkultur und wurde ab ca. 1160 in der deutschen Dichtung adaptiert. Die deutschen Autoren übernahmen ausgewählte lyrische Subtypen und übersetzten Romane – so auch Hartmann von Aue, der zwei Artusromane Chrétiens de TroyesChrétien de Troyes ins Deutsche übersetzte, daneben aber auch auf einheimische und lateinische literarische Traditionen zurückgriff (1.2.4.).

1.2.1. Die klerikale Schriftkultur und der Bildungshorizont adliger Laien

SchriftlichkeitSchriftlichkeit hatte im Mittelalter, also vor der Erfindung des Buchdrucks, einen ganz anderen Stellenwert als in der Moderne. Sie war eine knappe kulturelle Ressource, einerseits bedingt durch die enormen Kosten des Beschreibstoffs Pergament (→ Kap. 2.), andererseits durch den geringen Bildungsgrad innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft. Nur eine kleine kulturelle und gesellschaftliche Elite verfügte über die finanziellen Mittel und Bildungsressourcen, an der Schriftlichkeit zu partizipieren. Lesen und schreiben lernte man in der Regel an Kathedral- und Klosterschulen. Bildung, klerikaleDie in lateinischer Sprache ausgebildeten Schüler waren für eine geistliche Laufbahn vorgesehen. Die Verkehrssprache im pragmatischen Schrifttum – in der Theologie, in der Verwaltung, im Recht, in der Wissenschaft usw. – war im 12. und 13. Jahrhundert nahezu ausschließlich Latein. Volkssprachliche Texte stellen nur einen Randbereich innerhalb der mittelalterlichen SchriftlichkeitSchriftlichkeit dar. Die Autoren umfangreicher Erzähltexte haben höchstwahrscheinlich eine klerikale Ausbildung erhalten und eine Lateinschule besucht, da sich sonst ihre umfangreichen Kenntnisse in Rhetorik, Theologie, Naturkunde usw. kaum erklären lassen. Zudem speisen sie in die volkssprachige Dichtung gelehrtes Wissen ein, das aus den lateinischen Text- und Bildungstraditionen stammt (Reuvekamp 2013). Als Rezipienten volkssprachiger Erzähltexte kommen in erster Linie Laienadelige infrage, die nicht für eine geistliche Laufbahn bestimmt und des Lateins nicht mächtig waren. Wie man sich konkret die Rezeption der volkssprachlichen Literatur vorstellen muss, ist in der Forschung umstritten. Die meisten Mediävisten gehen davon aus, dass Erzähltexte den laienadeligen Analphabeten vorgelesen wurden (Green 1994)Vortrags--praxis. Zeugnisse für eine solche Vorlesesituation sind aber spärlich und begegnen nur in der Literatur selbst. Wenn eine Lesung in der Dichtung als Motiv begegnet, dann sind es nicht schulgebildete Geistliche, die den Text an eine analphabete laienadelige Zuhörerschaft vermitteln, sondern (zumeist weibliche) Einzelpersonen aus dem Laienadel selbst. Charakteristisch für eine solche Lesung ist eine Stelle im ‚Iwein‘ Hartmanns, wo ein Mädchen ihren hochadeligen Eltern etwas auf Französisch vorliest:

unde vor in beiden saz ein magt,

diu vil wol, ist mir gesagt,

wälsch lesen kunde:

diu kurzte in die stunde.

ouch mohte sî ein lachen

lîhte an in gemachen:

ez dûhte sî guot swaz sî las,

wand sî ir beider tohter was. (HaIw 6455–6462)

Vor ihnen beiden saß ein Mädchen, die sehr gut, wie mir erzählt wurde, französisch lesen konnte. Die vertrieb ihnen die Zeit. Zudem konnte sie die beiden sehr leicht zum Lachen bringen: Was auch immer sie vorlas, gefiel ihnen, denn sie war ihrer beider Tochter.

Lesekundige Laienadelige begegnen allenthalben in der volkssprachlichen Literatur. Daraus ist gegen die Mehrheitsmeinung in der Mediävistik geschlossen worden, dass Lese- und Schreibkenntnisse im Laienadel weit verbreitet gewesen sein mussten (Scholz 1980, Ernst 1997). Die Divergenz der wissenschaftlichen Annahmen gründet in der schlechten Quellenlage, die es verunmöglicht, sich ein genaues Bild zu machen. Wenn man geneigt ist, den literarischen Zeugnissen über Lese- und Schreibfähigkeiten von Laien Erkenntniswert für die historische Wirklichkeit zuzugestehen, so bleibt dennoch das Dilemma, dass sich diese Zeugnisse widersprechen: Neben solchen, die den schriftliterarisch gebildeten Laienadeligen fokussieren, finden sich Texte, in denen Laien der Schrift verständnislos gegenüberstehen und auf die Hilfe klerikaler Vermittler angewiesen sind (Reuvekamp-Felber 2003). Vortrags--praxis HofkulturAm plausibelsten erscheint die Annahme, dass innerhalb der Gruppe des weitgehend schriftunkundigen Adels eine kleine kulturelle Elite existierte, die sich durch Lese- sowie Schreibkenntnisse auszeichnete und literarische Texte in Lesungen oder in privater Lektüre rezipierte. Denn auch für die private Lektüre von Literatur bietet die mittelalterliche Dichtung einige wenige Zeugnisse. Ein instruktives Beispiel begegnet in der Kurzerzählung ‚Der Welt Lohn‘ Konrads von WürzburgKonrad von Würzburg, ‚Der Welt Lohn‘ (nach 1250). Der Protagonist sitzt zu Beginn der Erzählung zu Hause und liest in einem Buch:

Sus saz der hôchgelobte

in einer kemenâten,

mit fröuden wol berâten,

und hæte ein buoch in sîner hant,

dar an er âventiure vant

von der minne geschriben.

dar obe hæte er dô vertriben

den tag unz ûf die vesperzît;

sîn fröude was vil harte wît

von süezer rede die er las. (KoWL 52–61)

Einst saß der Hochgerühmte glückselig in einem Zimmer und hielt ein Buch in seiner Hand, worin er Liebesgeschichten fand. Damit hatte er sich den ganzen Tag bis zum Abend vertrieben. Er hatte sehr große Freude an den köstlichen Erzählungen, die er las.

1.2.2. Weltliche Dichtung am Adelshof

Anders als moderne Literatur ist mittelalterliche volkssprachige epische Dichtung ab der Mitte des 12. Jahrhunderts AuftragsdichtungAuftragsdichtung. In der Regel waren es Mitglieder des Adels, die als AuftraggeberAuftraggeber weltlicher Literatur in Erscheinung traten. Da die politische und kulturelle Organisation des Adels mit den (Fürsten-)Höfen als HerrschaftszentrenHerrschaft / feudale (Rechts-)OrdnungHofkultur verbunden ist und die mediävistische Forschung dort auch die Produktion, Rezeption und Distribution der Dichtungen verankert, spricht man literaturgeschichtlich auch von der Periode der höfischen Dichtunghöfische Dichtung. Der Begriff ‚höfisch‘ verweist dabei einerseits räumlich auf den Betriebsort von Literatur, eben den Adelshof, andererseits aber auch auf die spezifische Ausprägung der Literatur dieser Periode: Die Werthaltung und thematischen Interessen der adligen Hofmitglieder schlagen sich in den Texten nieder. HofkulturVor der Mitte des 12. Jahrhunderts war volkssprachige Dichtung nahezu ausschließlich von religiösen oder heilsgeschichtlichen Themen geprägt und gehörte überwiegend in den klösterlichen Bereich. Ihr Zweck war zumeist die Festigung des Glaubens sowie die Belehrung über die Natur und die Historie. Dies änderte sich mit dem zunehmenden Einfluss adliger Laien auf die Literaturproduktion: Weltliche Themen wie Liebe, Sexualität, Ritterschaft, Gewalt, Herrschaft usw. prägten fortan – genauso wie ein christlicher Wertehorizont, rhetorische Darstellungsverfahren und gelehrt-lateinisches Wissen – einen erheblichen Teil der volkssprachigen Dichtung (auch wenn die vornehmlich religiöse Literatur weiterhin ihren festen Platz im Kanon besaß). Allerdings sollte man sich hüten, nur den Fürstenhof und seine Repräsentanten als Motor dieser neuen literaturgeschichtlichen Entwicklung anzusehen. Als Rezipienten der neuen ‚höfischen‘ Dichtunghöfische Dichtung Hofkultursind auch Kleriker und sogar Mönche wahrscheinlich. Dies legt jedenfalls eine Anekdote nahe, die der Abt und Zisterziensermönch Caesarius von HeisterbachCaesarius von Heisterbach, ‚Dialogus Miraculorum‘ in seinem in die 20er Jahre des 13. Jahrhunderts zu datierenden ‚Dialogus Miraculorum‘ erzählt. Darin berichtet er, dass beinahe alle seiner Mitbrüder im Kloster Heisterbach während seiner Predigt in tiefen Schlaf fallen. Als er aber mit lauter Stimme das Wort ‚Artus‘ ertönen lässt, wachen alle auf, schauen aufmerksam hoch und brennen vor Lust und Begierde, eine Geschichte von König Artus zu hören. Dies nimmt er zum Anlass, die Mönche mit einem Augenzwinkern zu tadeln:

 

Videte, fratres, miseriam magnam. Quando locutus sum de Deo, dormitastis; mox ut verba levitatis inserui, evigilantes erectis auribus omnes auscultare coepistis. (CHD, Bd. 1:205)

Brüder, schaut dieses große Elend! Wenn ich von Gott spreche, schlaft ihr. Sobald ich aber leichtfertige Worte äußere, so wacht ihr auf und fangt alle an, mit gespitzten Ohren zu lauschen.

Egal, ob diese Anekdote auf einer historischen Begebenheit fußt oder fingiert ist: Sie zeigt, dass die ‚höfische‘ Dichtunghöfische Dichtung, deren zentrales Sujet die Geschichten über König Artus sind, nicht nur beim Laienadel an den (Fürsten-)Höfen en vogue waren. Der Begriff ‚höfische‘ Dichtung ist also eine Verlegenheitslösung zur Bezeichnung eines bestimmten, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts neu aufkommenden Typs von Literatur, der von einer kleinen kulturellen Elite gefördert wurde, die nicht ausschließlich an den Adelshöfen zu finden warHofkultur (Johnson 1999:10).

1.2.3. Literaturgeschichtliche Linien I: Die Anfänge höfischer Dichtung im deutschsprachigen Raum

Die Neuorientierung des Literaturbetriebs fiel mit einem tiefgreifenden kulturellen Umbruch im Regnum Teutonicum zusammen. Der Adel, der die Herrschaft über die deutschen Territorien ausübte, orientierte sich bereits ab der Mitte des 11. Jahrhunderts – aber nun im 12. Jahrhundert verstärkt – in seinen kulturellen Ausdrucksformen an seinen französischen Standesgenossen.Hofkultur RomaniaDie französische Sachkultur, die sich in der Architektur, der Mode, den Sitten, im Essen, im Waffenhandwerk usw. ausdrückte, war im Reich en vogue und beeinflusste den deutschen Adel massiv. höfische RepräsentationAuch die mittelalterliche deutsche Sprache (mittelhochdeutsch und mittelniederdeutsch) spiegelt den kulturellen Einfluss Frankreichs in dieser Zeit: Viele französische Wörter gelangten ins Deutsche. Für das 12. Jahrhundert hat man 350, für das 13. Jahrhundert 700 französische Lehnwörter wie Turnier/turnoi, tanzen/danser usw. nachgewiesen. Was in unserer heutigen Zeit die Anglizismen sind, waren im 12. Jahrhundert die Französismen. Hofkultur RomaniaDoch nicht nur französische Kleidungsstücke, Anstandsregeln, Baustile und Lehnwörter fanden durch den Kulturkontakt ihren Weg ins Reich, sondern ab Mitte des 12. Jahrhunderts eben auch literarische Texte, die von adligen Werthaltungen und Interessen geprägt waren (Bumke 1990). Am Beginn dieses Literaturtransfers standen zum einen antike historische StoffeAntikenroman, deren mittelalterliche französische Neudichtungen in der Germania adaptiert wurden. So wurde um 1150/60 der ‚Roman d’Alexandre‘ Alberics von BisinzoAlberic von Bisinzo, ‚Roman d’Alexandre‘, der die Geschichte Alexanders des Großen erzählt, von einem Geistlichen namens Lamprecht Lamprecht, ‚Alexanderroman‘in deutscher Sprache retextualisiert, um 1180/85 folgte dann der ‚Eneasroman‘ Heinrichs von VeldekeHeinrich von Veldeke‚Eneasroman‘, eine Adaptation des anonymen französischen ‚Roman d’Eneas‘‚Roman d’Eneas‘. Stoffliche Grundlage beider Romane ist die ‚Aeneis‘ VergilsVergil, ‚Aeneis‘, die von den Abenteuern und Irrfahrten des Trojaflüchtlings Aeneas erzählt, der auf Geheiß der Götter das brennende Troja mit seinem Gefolge verlässt, in Italien ansässig wird und dort eine Herrschaft begründet, die schließlich das (genealogische) Fundament des späteren Römischen Reiches darstellt. Zum anderen begegnen Texte, die von Begebenheiten der eigenen, mittelalterlichen Geschichte erzählen: So um 1170 das ‚Rolandslied‘ des Pfaffen KonradKonrad, ‚Rolandslied‘, das auf die anonyme französische ‚Chanson de Roland‘ ‚Chanson de Roland‘zurückgeht und vom Spanienfeldzug und der militärischen Niederlage Karls des Großen erzählt, sowie wohl auf einheimische mündliche Traditionen zurückgehende (pseudo-)historische Epen wie ‚König Rother‘‚König Rother‘, der die (kriegerische) Brautwerbungsfahrt des Großvaters Karls des Großen imaginiert, oder ‚Herzog Ernst‘‚Herzog Ernst‘, der von der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Kaiser Otto und dem Titelhelden sowie von dessen Abenteuern im Exil im Orient erzählt. Allen diesen Texten ist gemeinsam, dass sie historisch-politische oder auch religiös-heilsgeschichtliche Fragen in den Vordergrund stellen: nach (idealer) Herrschaft, der Reichsgeschichte, dem Kreuzzug, der Auseinandersetzung mit dem Islam usw.

Solche thematischen Akzentuierungen von Krieg, Herrschaft und Religion erfuhren im ‚Eneasroman‘ Heinrichs von VeldekeHeinrich von Veldeke‚Eneasroman‘ eine für die weitere deutsche Literaturgeschichte spezifische Erweiterung, da der Protagonist Eneas am Ende des Romans seiner späteren Ehefrau und großen Liebe, Lavinia, begegnet. Bereits der anonyme französische Autor hat das römische Staatsepos VergilsVergil, ‚Aeneis‘ über weite Strecken in einen Liebesroman verwandelt. Er hat die Abenteuer des Trojaflüchtlings gekürzt und die politischen Motive zurückgedrängt, aber dafür die beiden Liebesepisoden mit Dido und Lavinia stark ausgebaut. Veldeke ist seiner Vorlage in dieser Umakzentuierung gefolgt und kann damit für die deutsche Literaturgeschichte als Neuerer gelten, der erstmals die emotionale und erotische Beziehung zweier Menschen zum Thema der epischen Literatur macht – und dies mit all ihren möglichen Folgen: höfische Liebedem drohenden Selbstverlust, der reflexiven Infragestellung der eigenen emotionalen Stabilität, den Unwägbarkeiten, Unsicherheiten, dem Leid, aber auch dem Glück. In der Nachfolge Veldekes war die Liebe oft das Hauptthema deutschsprachiger Dichtung. So ist es nicht verwunderlich, dass Gottfried von StraßburgGottfried von Straßburg‚Tristan‘ in seinem epochalen Liebes- und Abenteuerroman ‚Tristan‘ um 1210 in Heinrich von Veldeke, der auch als Liebeslyriker in Erscheinung trat, den Ursprung meisterlicher Dichtkunst und das Vorbild zeitgenössischer Autoren sieht:

von Veldeken Heinrîch

der sprach ûz vollen sinnen;

wie wol sanc er von minnen!

wie schône er sînen sin besneit!

Ich wæne, er sîne wîsheit

ûz Pêgases urspringe nam,

von dem diu wîsheit elliu kam.

ine hân sîn selbe niht gesehen;

nû hœre ich aber die besten jehen,

die, die bî sînen jâren

und sît her meister wâren,

die selben gebent im einen prîs:

er inpfete daz êrste rîs

in tiutischer zungen:

dâ von sît este ersprungen,

von den die bluomen kâmen,

dâ sî die spæhe ûz nâmen

der meisterlîchen vünde;

und ist diu selbe künde

sô wîten gebreitet,

sô manege wîs zeleitet,

daz alle, die nu sprechent,

daz die den wunsch dâ brechent

von bluomen und von rîsen

an worten unde an wîsen. (GoTr 4726–4750)

Heinrich von Veldeke dichtete mit großem Sachverstand. Wie gut er von der Liebe sang! Wie schön er den Sinn herausarbeitete! Ich vermute, dass er seine Weisheit aus der Quelle des Pegasus schöpfte, von wo alle Weisheit stammte. Ich habe ihn selbst nicht mehr kennengelernt, aber ich höre jetzt noch die Besten sagen, die zu seiner Zeit und danach Meister (der Dichtkunst) waren, dass sie ihm einen Verdienst zurechnen: Er pflanzte den ersten Baum in deutscher Sprache. Aus diesem entsprangen seither Äste, aus denen jene Blumen hervorsprossen, aus denen die Dichter nach ihm die Kunst der meisterlichen Ideen herausbrachen. Dieses Wissen (über Heinrich) hat sich so weit verbreitet und in so viele Richtungen zerstreut, dass alle, die heutzutage dichten, ihre Kreativität im Umgang mit Worten und Melodien von seinen Blumen und Ästen hernehmen.

1.2.4. Literaturgeschichtliche Linien II: Hartmann von Aue als Dichter

Nicht zu Unrecht kann man Heinrich von VeldekeHeinrich von Veldeke‚Eneasroman‘ als den eigentlichen Erfinder des deutschsprachigen ‚höfischen‘ Romanshöfische Dichtung ansehen (Johnson 1999:231). Sowohl an seiner Darstellungstechnik von Artefakten, Personen und deren inneren Zuständen als auch an seiner sprachlichen Formkunst, die sich an der lateinischen RhetorikRhetorik und Poetik orientiert, schließen nachfolgende deutschsprachige Autoren an. Das gilt auch für Hartmann von Aue, den man dennoch ebenfalls als Neuerer in der deutschen Literaturgeschichte ansehen kann. Mit dem ‚Erec(k)‘ dichtete er nämlich den ersten ArtusromanArtusroman in deutscher Sprache und schuf damit für die zentrale Gattung der ‚höfischen‘ Epik das Modell, an welchem sich Generationen nachfolgender Autoren im Personeninventar (die Ritter der Tafelrunde), in den Motiven (Abenteuer in der außerhöfischen Welt) und in der erzählerischen Vermittlung (Ausgestaltung der ErzählinstanzErzähler / Erzählinstanz) orientierten. Dieser Prototyp des deutschsprachigen Artusromans geht auf die französische Vorlage Chrétiens de TroyesChrétien de Troyes zurück, der einzelne Ritter der Tafelrunde zu Protagonisten eigener fiktiver Erzählwelten erhob (→ Kap. 5.). Von den fünf Artusromanen Chrétiens adaptierte Hartmann zwei in deutscher Sprache: neben ‚Erec et Enide‘ (um 1160/70) Chrétien de Troyes‚Erec et Enide‘ auch den ‚Yvain‘ (um 1170/80)Chrétien de Troyes‚Yvain‘. Grundlage beider Romane ist der bretonische Erzählstoff von König ArtusArtus, welcher in der RomaniaRomania und auf der britischen Insel durchaus einen (wenn auch umstrittenen) historischen Stellenwert hatte. Der erste Schrifttext im 12. Jahrhundert, der ArtusArtus zu einem großen europäischen Herrscher aus der britischen Frühzeit erhob, war nämlich eine Chronik, ein Text der lateinischen Geschichtsschreibung: die ‚Historia regum Britanniae‘ des Geoffrey of MonmouthGeoffrey of Monmouth, ‚Historia regum Britanniae‘ (1135/36). Zwar wurde Geoffrey bereits von zeitgenössischen Historikerkollegen Geschichtsfälschung vorgeworfen, gleichwohl bewahrte ArtusArtus bis ins 12. Jahrhundert einen historischen Rang als großer britischer König der Vorzeit. Geoffrey datierte dessen Herrschaft genau und deren Untergang auf das Jahr 542. Anders als Geoffrey ging es Chrétien in seinen Artusromanen indessen nicht um eine historische Darstellung mit genauen Zeit- und Ortsangaben, sondern darum, spannende Geschichten zu erzählen, die in einem ‚es war einmal in einem Irgendwo‘ spielen und sich um Liebe, Ritterschaft, Kampf sowie Ehre drehen. Während den Chrétien’schen Romanen trotz ihrer zahlreichen Fiktionalitätsmerkmale Fiktionalitätin Frankreich Romaniaein historischer Zeugniswert zugesprochen wurde und diese sogar in Chroniken integriert werden konnten (Wolf 2009:53), kommt den Artusromanen in der deutschen Literaturgeschichte keine gleiche realhistorische Relevanz mehr zu: Der bretonische Erzählstoff (matière de Bretagnematière de Bretagne) wurde als fiktionaler adaptiert, womit sich Chrétiens Tendenz zur Enthistorisierung verstärkte. Am Beginn dieser literaturgeschichtlichen Entwicklung steht Hartmann von Aue, der mit dem ‚Erec(k)‘ das volkssprachliche Erzählen vom Anspruch historischer Verbindlichkeit befreit hat (Haug 21992, Raumann 2010). Der ArtusromanArtusroman war als Gattung so erfolgreich, weil er für eine Vielzahl von Themen besetzbar war, die im Fokus einer kulturellen Elite standen, die einerseits ihren eigenen Lebensstil feierte und andererseits zugleich dessen Grundlagen problematisierend reflektierte: den Umgang mit Liebe, Sexualität, Gewalt, Macht, Ehre, Familie, Religion, dem Fremden und Vertrauten. Hofkultur

 

Wie seine beiden Artusromane folgt auch der ‚Gregorius‘ einer französischen Vorlage, der um 1150 entstandenen, anonym überlieferten LegendeLegende ‚La vie du Pape Saint Grégoire‘‚La Vie du Pape Saint Grégoire‘. Eine Legende ist eine Erzählung von heiligen Ereignissen oder Personen, deren Leben und oftmals Wandlung im Mittelpunkt stehen. Die deutschsprachige Legendenliteratur schließt weitgehend an eine lateinische Tradition an, die der Erinnerung an herausragende Taten heiliger Menschen und der Erbauung ihrer Rezipienten dient. Diese legendarische Erzähltradition reicht bis in die Antike zurück und wird in Klöstern und kirchlichen Gemeinschaften gepflegt. Im Zuge des kulturellen Umbruchs im 12. Jahrhundert wird diese lateinisch-geistliche Gattung in die deutsche Sprache überführt. Im Gegensatz zu anderen deutschsprachigen Legendenautoren des 12. Jahrhunderts wandte sich Hartmann jedoch einer französischen Vorlage zu und schafft mit seinem ‚Gregorius‘ einen Text, der zwar – wie die überwiegende Überlieferung in legendarisch-geistlichen Sammelhandschriften zeigt – als Legende rezipiert wurde (Ernst 1996), den aber auch romanhafte Elemente und eine „geradezu melodramatische Handlung“ (Johnson 1999:403) kennzeichnen. Damit knüpft der ‚Gregorius‘ deutlich an Paradigmen der ‚höfischen‘ Erzählliteratur an. höfische DichtungDennoch wurde er als erster deutschsprachiger Text ins Lateinische übersetzt, fand also die Aufmerksamkeit der geistlichen Gelehrtenwelt. Bereits um 1210 schrieb Arnold von Lübeck, der Abt des benediktinischen Lübecker Johannisklosters, im Auftrag des Welfenherzogs Wilhelm von Lüneburg, dem Sohn Heinrichs des Löwen, die ‚Gesta Gregorii Peccatoris‘Arnold von Lübeck, ‚Gesta Gregorii Peccatoris‘, die auf Hartmanns Prätext gründet. Auch wenn der Abt den ‚Gregorius‘ abschätzig beurteilt hat – ‚wir haben nicht die Gewohnheit, derartiges zu lesen‘ –, zeigt die zeitnahe Übersetzung in die Gelehrtensprache, dass die ‚höfische‘ Literatur nicht nur für den Laienadel von Interesse ist. Davon zeugt auch eine Prosaauflösung von Hartmanns Versdichtung in der sehr verbreiteten Legendensammlung ‚Der Heiligen Leben‘ ‚Der Heiligen Leben‘um 1400.

Deutlicher noch als die Legende vom armen Büßer Gregorius stellt sich Hartmanns ‚Armer Heinrich‘ als Gattungshybrid mit legendarischer Motivik dar. Das versifizierte Kleinepos erzählt die Geschichte eines Adligen, der von Gott einer Prüfung unterzogen wird: Heinrichs glückliches Leben wird durch eine unheilbare Krankheit, den Aussatz, zunichte gemacht. Als er erfährt, dass das einzige Heilmittel das Herzblut einer Jungfrau im heiratsfähigen Alter sei, die sich freiwillig opfert, und ein Bauernmädchen genau dazu bereit ist, will er zuerst einmal dieses Opfer annehmen. Doch HeinrichHeinrich (‚Armer Heinrich‘) besinnt sich im letzten Moment: Kurz bevor das Mädchen von einem Arzt getötet wird, versteht er, dass er wie Hiob aus dem Alten Testament Gottes Willen geduldig ertragen muss, und bricht die Opferzeremonie ab. Diese Erkenntnis und die aus Mitleid erwachsende Rettung des Bauernmädchens honoriert Gott mit der Heilung Heinrichs. Die vielen religiösen Elemente erinnern an eine Legende, doch wird am Ende das irdische Leben nicht zugunsten einer jenseitigen Perspektive überwunden, sondern wiederhergestellt. In einer handschriftlichen Fassung heiratet nämlich der Adlige das Bauernmädchen und beide kommen nach einem langen glücklichen Leben in den Himmel. Der kleinepische Text weist in einer anderen handschriftlichen Fassung einen alternativen Schluss auf, der die legendarischen Züge stärker betont (→ Kap. 2.): Die Ehe wird sexuell nicht vollzogen, Heinrich wählt den geistlichen Stand und zieht sich wie das Mädchen für den Rest seines Lebens ins Kloster zurück, um Gott zu dienen. Der ‚Arme Heinrich‘ lässt stärker noch als der ‚Gregorius‘ erkennen, dass Weltliches und Geistliches in der ‚höfischen‘ Literatur keine Gegensätze darstellen, sondern (auf verschiedenste Art) miteinander verwoben sind (→ Kap. 11.). Und er zeigt, dass Hartmann Erzählmuster und Motive kennt, die in der lateinischen Gelehrtenkultur wurzelnklerikale Bildung. So begegnen Heilungsgeschichten von Aussätzigen nicht nur in der Bibel, sondern auch in der lateinischen Legendenliteratur. Daher verwundert es nicht, dass auch der ‚Arme Heinrich‘ im 14. Jahrhundert in lateinische Prosa (als ‚Henricus pauper‘ ‚Henricus pauper‘und ‚Albertus pauper‘ ‚Albertus pauper‘in zwei Breslauer Handschriften) übertragen wird (Wolf 2007:108f.). Hartmanns spezifische Leistung aber ist es, die traditionellen, aus dem Lateinischen stammenden Motive mit den profanen Inhalten der ‚höfischen‘ Literatur kreativ zu verschränken: Als Protagonist im ‚Armen Heinrich‘ fungiert ein Ritter, das Opfermotiv wird in eine erotisch aufgeladene Beziehung zwischen Adligem und einem Bauernmädchen eingekleidet, das Ende wird (in einer Textfassung) von einem Märchenschluss dominiert.

Die originelle Verbindung lateinischer Texttypen mit profanen Inhalten der ‚höfischen‘ Kulturhöfische DichtungHofkultur kennzeichnet auch die ‚Klage‘ Hartmanns von Aue (→ Kap. 4.). Als erste deutschsprachige LehrdichtungLehrdichtung über die Liebe kann der Text keiner Gattung wirklich zugeordnet werden. Die ‚Klage‘ entzieht sich einer klassifikatorischen Gattungsbestimmung, weil sie durch ganz verschiedene generische – epische, lyrische, dramatische, epistolarische – Formen geprägt ist und sich durch ein dichtes Geflecht von Traditionsreferenzen auszeichnet. Hartmann experimentiert mit Überkommenem und akzentuiert etablierte Formen neu. So greift er einerseits in der formalästhetischen Ausgestaltung auf lateinische Leib-Seele-DialogeLeib-Seele-Dialog als Traditionskontext zurück und darüber hinaus auf das „Modell der abendländischen Selbstgespräche“ (Hess 2016:13). Diese Selbstgespräche in Form des selbstbetrachtenden Dialogs entstehen im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter (zu denken ist etwa an Augustins ‚Soliloquia‘Augustinus, ‚Soliloquia‘ oder Boethius’ ‚Consolatio Philosophiae‘Boethius, ‚Consolatio Philosophiae‘) und etablieren sich „als ‚sprachliche Technik der Selbstformung‘, mit der eine Neuausrichtung in Denken und Handeln erreicht wird“ (Hess 2016:71). Hartmanns originäre Leistung ist es, diesen Dialogtyp des Selbstgesprächs in die höfische Literatur eingeführt und ihn als Medium für deren Themen und Motive etabliert zu haben.

Neben dem Artusroman ist der MinnesangMinnesang die zweite zentrale Gattung der ‚höfischen‘ Periode der Literaturgeschichtehöfische Dichtung (vgl. zum Folgenden Johnson 1999:45ff. sowie Schnell 2012a, Schnell 2012b), die in Hartmanns Œuvre vertreten ist. Immerhin 18 Lieder können ihm zugewiesen werden (→ Kap. 3.). Mittelalterliche Lyrik unterscheidet sich signifikant von moderner Lyrik. Zwar sind formale Mittel wie Rhythmus und Reim vorhanden, allerdings schafft sie weniger Stimmung oder subjektives Empfinden, als es in der modernen Lyrik oft – aber auch nicht ausnahmslos – der Fall ist. Mittelalterliche Lieddichtung ist eine ausgesprochen intellektuell kalkulierte Form lyrischen Sprechens. Sie diskutiert mehr, als dass sie Empfindungen ausdrückt oder evoziert. Dabei ist es nicht so, als würden Gefühle und Empfindungen keine Rolle spielen, nur werden diese extrem typisiert und konventionalisiert. Trotz aller Konventionalität präsentiert aber das Minnelied seinen Inhalt als Erlebnis eines Einzelnen. Der geschilderten Situation kommt dabei aber höchstwahrscheinlich keine historische Referenz zu. Ein Ich singt in den Liedern also nicht über seine persönlichen Gefühle oder Erlebnisse, sondern reflektiert mit topischen Argumenten und rhetorischen Ausdrucksmitteln über konventionalisierte Gefühle. Mittelalterliche Liebeslyrik entspricht also weniger expressiven Formen des eigenen Gefühlsausdrucks als vielmehr Erzeugnissen der modernen Schlager- oder Popkultur. Sie ist eine Form von Rollenlyrik, nicht Erlebnislyrik. Auch wenn Hartmann von Aue eine ausgesprochene Kunstfertigkeit als Lyriker vonseiten der mediävistischen Forschung und anderer Autoren des 13. Jahrhunderts (Heinrich von dem TürlinHeinrich von dem Türlin sowie der Minnesänger von GliersDer von Gliers [SMS 8]) attestiert wird, hat er hier anders als in der Epik keine exzeptionelle Stellung. Während er in der Epik zur ersten Generation von Autoren gehört, die auf französische Romane zurückgreift und lateinische Texttypen neu akzentuiert, liegt die Sache in der Lyrik anders: Bereits seit etwa 1160 werden romanische Liedtypen in der deutschen Literatur adaptiert. Hartmann schließt in seinen Minneliedern an solche schon bestehenden deutschen Traditionen an. Alle vier lyrischen Subgattungen, die in seinem Œuvre vorkommen (Werbelied, Kreuzlied, Frauenlied, Minneabsage), hatten sich im deutschsprachigen Minnesang bereits ausgebildet. Generische Experimente oder Neuerungen bei der Etablierung von Gattungen kennt die Lyrik Hartmanns nicht. Er zeigt sich bei aller artistischer Virtuosität im Einzelnen als ein Lyriker, der bestehende deutschsprachige Traditionen fortführt und sich an etablierten Gattungskonventionen orientiert.