Hartmann von Aue

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1.3. Fazit

Mit Hartmann von Aue begegnet uns ein ausgesprochen vielseitiger Autor, der lyrische, groß- und kleinepische Texte verschiedener Gattungen gedichtet hat und mit der romanischen, lateinischen und auch deutschsprachigen Literaturtradition bestens vertraut war. In seiner Traditionsbindung an romanische und einheimisch deutschsprachige literarische Formen zeigt sich Hartmann als typischer (aber qualitativ herausragender) Vertreter des hochmittelalterlichen Literaturbetriebs, in dem nicht das Dichten von Originalen, sondern v.a. das kunstvoll-überbietende (Nach-)Dichten bekannter Stoffe sowie die Retextualisierung bereits existierender Erzählungen (ähnlich wie heutzutage das Remake eines Films) hoch angesehen waren (Worstbrock 1999, Bumke/Peters 2005). Daneben besticht er durch die Neuakzentuierung lateinischer Texttypen, die er mit Motiven und Themen verschränkt oder auch wie in der ‚Klage‘ ausfüllt, die der sich entwickelnden ‚höfischen‘ Literatur des 12. Jahrhunderts entstammen. Vor allem in seiner Legende vom guten Sünder Gregorius, aber auch in seiner Erzählung vom Armen Heinrich wirken sprachliche Konventionen weiter, die sich bereits in der deutschsprachigen Literatur mit geistlicher Thematik im 11. und 12. Jahrhundert herausgebildet haben (Unzeitig 2010:231). Der Rückgriff auf die literarischen Formen der Leib-Seele-Dialoge und des selbstbetrachtenden Dialogs in der ‚Klage‘ zeigen darüber hinaus, dass Hartmann auch mit der lateinischsprachigen Literaturtradition vertraut war. Diese Texttypen sind in der deutschsprachigen Literatur vor Hartmann nicht vertreten.

Auch zeitgenössische und nachfolgende mittelalterliche Dichterkollegen weisen ihm eine Ausnahmestellung unter den deutschsprachigen Autoren zu und stellen ihn auf eine Ebene mit Wolfram von EschenbachWolfram von Eschenbach‚Parzival‘, dem Dichter des ‚Parzival‘ und des ‚Willehalm‘, sowie Gottfried von StraßburgGottfried von Straßburg‚Tristan‘, dem Verfasser des ‚Tristan‘. Sie rühmen v.a. Hartmanns sprachliche Virtuosität, seine gedankliche Brillanz und seine Gedankentiefe. Am eindrücklichsten hat dies Gottfried formuliert, der ihn als den größten lebenden Dichter bezeichnet und ihn mit schapel und lorzwî, also mit Sieges- und Lorbeerkranz, zum virtuellen Dichterkönig krönt:

Hartman der Ouwære

ahî, wie der diu mære

beide ûzen unde innen

mit worten und mit sinnen

durchverwet und durchzieret!

wie er mit rede figieret

der âventiure meine!

wie lûter und wie reine

sîniu cristallînen wortelîn

beidiu sint und iemer müezen sîn!

si koment den man mit siten an,

si tuont sich nâhen zuo dem man

und liebent rehtem muote.

swer guote rede ze guote

und ouch ze rehte kan verstân,

der muoz dem Ouwære lân

sîn schapel unde sîn lôrzwî. (GoTr 4621–4637)

Hartmann der Ouwære, ei, wie der die Erzählungen sowohl auf der Oberfläche als auch auf der Bedeutungsebene mit Worten und mit Sinn einfärbt und durchzieht! Wie er mit der Sprache die Bedeutung der Geschichte formt! Wie klar und wie rein seine kristallinen Wortelein sind und immer sein werden! Sie kommen dem Menschen mit Anstand näher, sie gehen dem Menschen nahe und erfreuen den rechten Geist. Wer auch immer gute Sprache gut und auch richtig verstehen kann. der muss dem Ouwære seinen Sieger- und seinen Lorbeerkranz lassen.

Weiterführende Literatur: Einen vorzüglichen Überblick über die Literaturgeschichte des 12. und 13. Jahrhunderts sowie ihre historischen Kontexte bietet Bumke 1990. Literarische Autorbilder dieser Epoche stellt Peters 1991 vor. Eine differenzierte Analyse der Formen, in denen Autorschaft zum Thema in den literarischen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts wird, und ihre Herkunft bietet Unzeitig 2010. Die in der älteren und neueren Literaturwissenschaft gleichermaßen geläufige Trennung zwischen Autor und Erzähler problematisiert überzeugend Kablitz 2008. Den mangelnden Zeugniswert der literarischen Autorstilisierungen für die Rekonstruktion einer Biographie Hartmanns zeigt Reuvekamp-Felber 2001 auf. Raumann 2010 arbeitet minutiös das Vexierspiel von Historizität und Fiktion in den Artusromanen Hartmanns heraus. Über die Rezeption literarischer Texte im Mittelalter bis 1300 informiert grundlegend Green 1994. Einen hervorragenden Überblick über die deutschsprachige Lyrik bis in die Zeit Hartmanns von Aue bietet Schnell 2012a und 2012b.

2. Hartmanns Texte: Fassungen und Überlieferung

Andreas Hammer

Abstract: Das Kapitel zeichnet die Überlieferung von Hartmanns Werken unter der spezifischen Perspektive der mittelalterlichen Textualität nach. Anders als in der Moderne werden die Texte über mehrere Jahrhunderte variantenreich und losgelöst vom Autororiginal tradiert; dabei tritt die Medialität der mittelalterlichen Handschriftenkultur besonders deutlich hervor. In diesem Kapitel werden für die Werke Hartmanns nicht alle Handschriftenkontexte einzeln besprochen, vielmehr sollen die überlieferungs- und rezeptionsgeschichtlichen Besonderheiten im Mittelpunkt stehen. Ausgehend von der relativ konstanten (‚Gregorius‘) bzw. unikalen Überlieferung (‚Klage‘) soll es v.a. um drei Problembereiche gehen: 1. die Überlieferung verschiedener Fassungen des ‚Iwein‘ und des ‚Armen Heinrich‘, die v.a. die Schlusspartien der Texte betrifft, 2. die unvollständige und lückenhafte Überlieferung des ‚Ereck‘ sowie 3. die in den einzelnen Handschriften von mouvance gekennzeichnete Lyrik.

2.1. Mittelalterliche Textualität: Zum Verständnis von Text und Autorschaft

ÜberlieferungDie mittelalterliche Kultur ist von völlig anderen medialen VoraussetzungenMedialität geprägt als die der Moderne. Es ist eine ‚semi-orale‘ Kultur, d.h., sie basiert, obwohl Schrift und SchriftlichkeitSchriftlichkeit durchaus bekannt sind, zu großen Teilen weiterhin auf MündlichkeitMündlichkeit und mündlicher Überlieferung. Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben bleibt wenigen Eliten vorbehalten, und bis zum Hochmittelalter lag das Schriftmonopol fast ausschließlich bei den Kirchen und Klöstern.klerikale Bildung Erst mit den nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht bedeutenden Umwälzungen gegen Ende des 12. Jahrhunderts erlangen auch größere Gruppen außerhalb klerikaler Kreise Lese- und Schreibfähigkeiten – darunter Teile der Ministerialität, zu der vermutlich auch Hartmann von Aue gehörte (→ Kap. 1.). Dennoch bleibt die Anzahl derer, die mit Schrift umgehen können, weiterhin sehr überschaubar. Auch wenn der Schrift eine entsprechend hohe Verbindlichkeit zukommt: Das gesprochene Wort besitzt stets eine immense Bedeutung, die auf andere Weise, etwa durch symbolische Handlungen oder Rituale, durch Zeugen oder andere Beglaubigungsstrategien hergestellt wird.

Es ist einleuchtend, dass unter solchen Voraussetzungen der Umgang mit schriftlichen Zeugnissen keine Selbstverständlichkeit ist, zumal bereits die Herstellung und Produktion ungleich schwieriger war als heute: Texte jeglicher Art sind im Mittelalter, anders als nach der Erfindung des Buchdrucks oder gar in Zeiten des schnellen Internets, nicht beliebig verfüg- und reproduzierbar, sondern müssen mühsam einzeln von Hand abgeschrieben werden. Dazu kommt, dass allein die Materialkosten für eine Handschrift immens waren, denn sie bestand üblicherweise aus Pergament, Tierhäuten also, von denen man für einen einzigenÜberlieferung Codex bereits eine ganze Menge benötigte (Papier wird erst im 14. Jahrhundert langsam bekannt). Wenn man bedenkt, dass eine kleinbäuerliche Familie oftmals nur eine einzige Kuh besaß, man aber schon für ein kleineres Buch die Häute einer halben Herde benötigte, werden die Relationen klarer: Schrifttexte sind nur etwas für reiche, privilegierte Eliten. Allein in solch einem Umfeld kann sich eine ausgeprägte HandschriftenkulturHandschriftenkultur entwickeln, in der die Produktion und Weitergabe von Texten stattfindet. Für die Bewertung der Überlieferung ist das von entscheidender Bedeutung.

FassungDiese besonderen Umstände mittelalterlicher MedialitätMedialität haben auch ein besonderes Verständnis von TextText und AutorschaftAutorschaft hervorgebracht. Hier ist mit offenen Begriffen von Text und Autorschaft zu rechnen, die sich erheblich von ihren von OriginalitätOriginalität und Geniegedanken geprägten, modernen Äquivalenten unterscheiden: „Texte wurden nicht als Originale, nicht als ‚fixierte Lebensäußerungen ihrer Autoren‘ […] begriffen, sondern als veränderliche, verfügbare Gegebenheiten, die der konkreten GebrauchssituationGebrauchssituation, in die hinein sie sprechen sollten, angepasst werden konnten. Man fühlte sich frei, in überlieferte Texte einzugreifen, ohne damit den Anspruch zu verbinden, ein neues Werk zu schaffen; man konnte Umfang, Wortlaut und Abfolge eines Textes verändern, ohne dessen Identität antasten zu wollen“ (Kraß 1996:100f.). Das betrifft auch den Umgang mit den Erzählstoffen: ‚Gregorius‘, ‚Ereck‘ und ‚Iwein‘ sind Texte, die Hartmann aus dem Französischen übertragen hat, freilich nicht in wortwörtlicher Übersetzung, sondern in einer Art freier Bearbeitung (→ Kap. 5.)Wiedererzählen. Ebensowenig lässt sich so etwas wie ein Autororiginal oder eine ‚Fassung letzter Hand‘ rekonstruieren, wie wir sie aus dem Druckzeitalter kennen. Fassungautorisierte F.

 

FassungErschwerend kommt hinzu, dass die handschriftliche Überlieferung in den meisten Fällen erst Jahrzehnte, teilweise sogar erst Jahrhunderte nach der (mutmaßlichen) Entstehung eines Werkes einsetzt. Im Laufe ihrer Überlieferung sind die Texte immer wieder Veränderungen unterworfen, die teils gezielte Eingriffe darstellen, teils durch die Überlieferungssituation bedingt sind: Im Rahmen eines meist mehrfachen Abschreibprozesses unterlaufen den Schreibern beispielsweise immer wieder Fehler oder Missverständnisse, die dann ihrerseits beim nächsten Mal mit abgeschrieben werden. Ebenso kann ein Schreiber nurmehr eine defekte VorlageVorlage haben, bei der z.B. einige Seiten fehlen, so dass der Text dadurch unvollständig wird. Beim Wiederabschreiben ist der Umgang mit Überlieferungsolch ‚offensichtlichen‘ Fehlern wiederum unterschiedlich: Sie werden entweder einfach mit abgeschrieben und sozusagen ‚konserviert‘, oder aber die Schreiber bemühen sich um Korrektur, wobei sie dann aber vielfach wiederum nicht unbedingt auf ‚Originale‘Originalität zurückgreifen können, sondern nach anderen Kriterien, auch nach eigenem Ermessen verfahren müssen. Schon hieran zeigt sich, dass es in den meisten Fällen unmöglich ist, so etwas wie eine originale, vom Dichter quasi autorisierte FassungFassungautorisierte F. zurückzuverfolgen.

Noch viel schwieriger wird dies, wenn man sich klar macht, dass manche Eingriffe offenbar ganz gezielt vorgenommen wurden. Betrachtet man beispielsweise die reichhaltige Überlieferung des ‚Iwein‘, so weichen die einzelnen Handschriften teils erheblich voneinander ab. Es gibt nicht nur spätmittelalterliche Kurzfassungen,FassungKurzfassung vielmehr weisen schon die beiden ältesten Handschriften erhebliche Unterschiede auf (→ Kap. 2.2.2.1.). Derartige FassungsdivergenzenFassungFassungsdivergenz – d.h. verschiedene Versionen eines Textes ohne Abhängigkeitsverhältnis, die zwar in vielen Punkten meist wörtlich übereinstimmen, sich jedoch im Textbestand bzw. der Textfolge signifikant unterscheiden (Bumke 1996:42–53) – sind gerade für die Werke Hartmanns kennzeichnend, und es ist rückblickend oft nicht mehr zu entscheiden, ob überhaupt eine ‚echte‘ darunter ist oder zumindest eine, welche auf Hartmanns ‚Original‘ zurückgeht. Solche EchtheitsfragenEchtheitsdiskussion, wie sie die Textphilologie des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder gestellt hat, haben sich als wenig zielführend erwiesen. Denn es ist sehr heikel, derart unterschiedlichen Fassungen einen ‚primären‘ oder einen ‚sekundären‘ Status zuzuweisen, schon allein, weil damit eine gewisse Wertung verbunden ist, welche dann eine FassungFassungautorisierte F. schnell zu derjenigen erklärt, die allein vom Dichter autorisiert wäre – doch genau diesen Nachweis kann man nie erbringen, ja mehr noch: Er ist für das Verständnis des zeitgenössischen Publikums offensichtlich gar nicht wichtig gewesen. Entscheidend ist, dass alle Varianten in der mittelalterlichen Überlieferung Interesse gefunden, die Rezipienten die Erzählung also auf ganz unterschiedliche Weise wahrgenommen haben. Es ist daher angeraten, verschiedene Versionen oder Fassungen nicht auf ihren (ohnehin nicht mehr rekonstruierbaren) Ursprung zurückzuführen, sondern vielmehr gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen (so auch die Forderung der ‚New Philology‘New Philology, vgl. programmatisch Nichols 1990). Sie sind kulturhistorische Zeugnisse des Umgangs und der Auseinandersetzung mit den entsprechenden Erzählstoffen – und diese ÜberlieferungAuseinandersetzung kann im Rahmen einer HandschriftenkulturHandschriftenkultur mitunter so tiefgreifend sein, dass sie gravierende Spuren in der Textüberlieferung zurücklässt. Die Texte können dann entsprechend umgeschrieben werden, oder besser, sie erfahren Umformungen, die sich nach den Bedürfnissen der Rezipienten richten.

Das bedeutet keineswegs einen Eingriff in ein Autororiginal, Fassungautorisierte F. allein schon, weil es ein derartiges Verständnis in der deutschen Literatur des hohen Mittelalters so noch gar nicht gibt. Der Text wird selbstverständlich weiterhin als einer von Hartmann, Wolfram oder Walther betrachtet. In der konkreten GebrauchssituationGebrauchssituation jedoch kommt den Rezipienten eine viel weitreichendere Verfügungsgewalt zu, als es in der Neuzeit möglich und denkbar wäre. Wo Texte durch den Druck in ein und derselben Gestalt massenhaft herausgegeben werden können, sind vergleichbare Veränderungen kaum mehr möglich. Erst der erneute Medienwandel des 21. Jahrhunderts zeigt parallele Tendenzen: Texte, die übers Internet verbreitet werden, sind einerseits weltweit in kürzester Zeit verfügbar, andererseits genauso schnell zu verändern und den Gegebenheiten anzupassen. Auch hier lassen sich die Spuren vielfach kaum mehr zurückverfolgen, ist die Verfügungsgewalt über Texte (gerade in der Anonymität des World Wide Web) wieder ungleich höher geworden, während das Prinzip der Autorschaft und des Originals im Schwinden ist. Das zeigt, wie wichtig es ist, den Überlieferungskontext der einzelnen Werke zu kennen, um derartige Bedingungen und Verhältnisse einschätzen zu können, denn in den meisten Fällen sind auch produktions- und rezeptionsästhetische Fragestellungen bei der Interpretation zu berücksichtigen.

2.2. Die Überlieferung der Werke Hartmanns von Aue

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Überlieferung der Werke Hartmanns, so fällt auf, dass sie sich in den meisten Fällen als äußerst komplex erweist. In der Blütezeit der höfischen Literatur, also der Zeit um 1200 bis 1220, gehörte Hartmann von Aue vermutlich zu den bekanntesten deutschsprachigen Dichtern; dies erweist sich nicht zuletzt in zahlreichen zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen, die ihn nennen (→ Kap. 12.). Man sollte meinen, dass sich dieser Bekanntheitsgrad auch in der Überlieferung widerspiegelt, doch dies ist in der Mehrzahl der Fälle nicht so. Der ‚Ereck‘ und die ‚Klage‘ sind beide nur in Überlieferungdem zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstandenen Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch (weitgehend) vollständig überliefert. Ginge man allein nach der Zahl der Überlieferungsträger, so scheint der ‚Iwein‘ (15 vollständige Handschriften) ein deutlich beliebterer und bekannterer Text gewesen zu sein – freilich ist dies ein sehr unzureichendes Kriterium. Die Tradierung dieser Texte über Jahrhunderte unterliegt so vielen Zufällen, dass mit der Anzahl, dem Layout oder dem Entstehungszeitraum der Handschriften alleine nicht viel Aussagekraft gewonnen ist. Hinzu kommt, dass von einigen der Texte Hartmanns (das gilt auch für die Lyrik) nicht nur eine, sondern gleich mehrere Fassungen überliefert sind – im ‚Iwein‘ wie im ‚Armen Heinrich‘ weichen gerade die Erzählschlüsse in auffälliger Weise voneinander ab. Es ist daher nicht sinnvoll, die einzelnen Handschriften und Fragmente der jeweiligen Werke in toto aufzuzählen (vollständig erfasst im → Verzeichnis der Handschriften und Fragmente), vielmehr gilt es, die Eigenarten der teilweise sehr verworrenen Überlieferung herauszuarbeiten. Die Vorgehensweise richtet sich daher im Folgenden auch nicht nach chronologischen oder gattungstypologischen Kriterien, sondern vielmehr danach, ob und welche Auffälligkeiten sich in der Überlieferungssituation zeigen.

2.2.1. Stabile, überschaubare Überlieferungsverhältnisse: ‚Klage‘ und ‚Gregorius‘

Ausgesprochen überschaubar ist die Überlieferung der ‚Klage‘, denn sie ist nur in einer einzigen Handschrift, dem sogenannten Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch überliefert. Dabei handelt es sich um eine besonders junge Handschrift vom Beginn des 16. Jahrhunderts. Zwischen Entstehung und einziger Überlieferung liegen somit über drei Jahrhunderte – eine Schwierigkeit, die auch für den ebenfalls nur dort (annähernd) vollständig überlieferten ‚Ereck‘ gilt und am Ende des Kapitels noch ausführlicher zu Sprache kommen wird (→ Kap. 2.2.3.). Auch der ‚Gregorius‘ weist insgesamt eine sehr stabile Überlieferung auf: Der Text ist neben sechs Fragmenten in insgesamt sechs Handschriften überliefert (→ Verzeichnis der Handschriften und Fragmente), die einen weitgehend übereinstimmenden Textbestand aufweisen. Eine Besonderheit ist allerdings erwähnenswert, denn sie ist typisch für die mittelalterliche Handschriftenkultur: In den älteren Handschriften fehlt nämlich der Prolog, diesen beinhalten nur Überlieferungzwei Handschriften aus dem 15. Jahrhundert. Da der ‚Gregorius‘ jedoch bereits Anfang des 13. Jahrhunderts durch Arnold von Lübeck ins Lateinische übersetzt wurdeArnold von Lübeck, ‚Gesta Gregorii Peccatoris‘ und darin aus dem Prolog zitiert wird, scheint dieser nicht erst im Spätmittelalter hinzugekommen zu sein, vielmehr haben die uns erhaltenen frühen Handschriften den Prolog offenbar weggelassen.

Im Falle des ‚Gregorius‘ zeigt sich, dass nicht nur unterschiedliche Fassungen oder Versionen den Umgang der Rezipienten mit einem Text beleuchten können, sondern auch der Überlieferungskontext Überlieferungskontext– diejenigen Texte also, die in der Handschrift mitüberliefert sind. Das ist im Falle des ‚Gregorius‘ besonders für die umstrittene Frage des Status dieses Textes interessant, der ja Genregrenzen überschreitet: Handelt es sich um eine LegendeLegende oder einen höfischen Roman – oder um das ‚Gattungshybrid‘ eines Legendenromans? Derartige Fragestellungen einer neuzeitlichen Philologie evozieren freilich ein Gattungsbewusstsein, das es im Mittelalter so nicht gegeben haben dürfte. Das kann man hier besonders gut erkennen (vgl. Ernst 1996): Der ‚Gregorius‘ ist fast durchweg zusammen mit anderen religiösen Texten überliefert; in der späten Sammelhandschrift E aus dem 15. Jahrhundert steht er hingegen gemeinsam mit anderen Artusepen (u.a. dem ‚Iwein‘). Offenbar haben die mittelalterlichen Rezipienten den ‚Gregorius‘ also in den meisten Fällen in eine Reihe mit anderen Legendendichtungen gesetzt – aber eben nicht alle, denn zumindest eine Handschrift zeigt ja, dass man im Spätmittelalter weniger den legendarischen als vielmehr den höfischen Charakter der Erzählung ins Auge fasste. Das Changieren zwischen den Gattungen, zwischen Legendendichtung und ArtusromanArtusroman, lässt sich folglich bis in den Überlieferungskontext verfolgen, wenngleich die meisten Handschriften das Werk eher in einen legendarischen Zusammenhang stellen.

2.2.2. ‚Iwein‘ und ‚Armer Heinrich‘: Variantenreiche Überlieferung in mehreren Fassungen
2.2.2.1. Die Erzählschlüsse des ‚Iwein‘

Gemessen an der ÜberlieferungZahl der erhaltenen Handschriften ist Hartmanns ‚Iwein‘ ein reich tradierter und bis ins Spätmittelalter offenbar viel gelesener Text gewesen: 15 vollständige Handschriften und 17 Fragmente sind bis heute bekannt – nur WolframsWolfram von Eschenbach‚Parzival‘ ‚Parzival‘ ist unter den Artusromanen noch häufiger überliefert (Wolf 2008:259). FassungFassungsdivergenzDer ‚Iwein‘, so scheint es, ist bereits kurz nach seiner Entstehung zu einem viel gelesenen Werk avanciert. Diese enorme Wirkung schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts schlägt sich auch in der Überlieferung nieder: Neben zahlreichen Textzeugen aus dem 15./16. Jahrhundert finden sich auch zwei, die schon sehr bald nach der Entstehung des Werkes abgefasst worden sind: Die beiden ältesten Handschriften A und B (→ Abb. 2.1. und 2.2.) stammen etwa aus der Zeit um 1220 – die Entstehung des ‚Iwein‘ setzt man um oder vor 1203 an. Trotz ihrer in etwa gleichen Abfassungszeit unterscheidet sich der Textbestand der beiden Handschriften auf signifikante Weise. Gegenüber A weist B insgesamt über 150 Verse mehr auf; dem stehen 24 Verse gegenüber, die A, nicht aber B überliefert. Eine solche Varianz ist beachtlich, besonders, da die Plusverse von B gegenüber A z.T. längere Passagen von bis zu 42 Versen umfassen.

Abb. 2.1.

Beginn des ‚Iwein‘ in ÜberlieferungHandschrift A (um 1220).

Abb. 2.2.

Beginn des ‚Iwein‘ in ÜberlieferungHandschrift B (um 1220).

FassungFassungsdivergenzInhaltlich besonders gravierend sind die Abweichungen am Schluss – wenn hier von ‚Erweiterung‘ gesprochen wird, so bezieht sich dies nur auf den Textbestand von B im Vergleich zu A, ohne dass unterstellt werden soll, es handele sich damit auch automatisch um Erweiterungen gegenüber einer autornahen ‚Originalfassung‘. Denn der Schluss der Handschrift B enthält nicht einfach nur detailliertere, ausgeschmückte Schilderungen der Handlung, sondern weist gegenüber A massive inhaltliche Differenzen auf, die sich v.a. auf die Figurenkonzeption LaudinesLaudine beziehen: IweinIwein hat es eigentlich nur einer List zu verdanken, dass Laudine überhaupt bereit ist, ihn am Ende doch noch als Ehemann und Hüter der Gewitterquelle zurückzunehmen – sie will hierfür nämlich den mittlerweile berühmten Löwenritter haben und merkt erst dann, dass es sich dabei um niemand anderen handelt, als um ihren (Ex-)Mann Iwein. Erfreut ist sie über diese Entwicklung nicht gerade, da sie aber zuvor ihr Wort gegeben hatte, bleibt ihr kaum etwas anderes übrig, als sich mit Iwein wieder zu versöhnen. ÜberlieferungBesonders emotional ist das von ihrer Seite her nicht; eher kühl nimmt Laudine ihren früheren Gatten wieder bei sich auf, während Iwein sie für das durch ihn erlittene Unrecht um Verzeihung bittet. Dabei belässt es der Text von A dann auch und bringt die Handlung schnell und effektiv zu Ende: Das Paar ist wieder vereint, der Protagonist hat seine Ehre und seine Ehe wiederhergestellt, und beide führen fortan ein glückliches Leben. Demgegenüber hat die Textfassung, wie wir sie in B finden, einen entscheidenden Zusatz: Hier fällt Laudine nach Iweins Entschuldigung unvermittelt vor ihm auf die Knie und bittet um Verzeihung für das Leid, das er ‚von mînen [d.h. Laudines] schulden erliten‘ (HaIw 8125) habe. Iwein heißt sie aufzustehen und beteuert, nicht sie trage Schuld, sondern vielmehr sei alles seiner (fehlerhaften) Einstellung zuzuschreiben.

 

FassungFassungsdivergenzAuf diese Weise erhält der ganze Schluss in B eine wesentlich versöhnlichere Tonlage. LaudineLaudine ist nicht so kühl und berechnend, sondern durch die Rückkehr Iweins emotional ergriffen, ja sie gesteht am Bruch der Beziehung sogar eine Mitschuld zu. Das verändert freilich die Sichtweise auf ihre Figur radikal: Sie wirkt milder und versöhnungsbereit, nicht mehr so unnahbar wie in den vorangegangenen Szenen, zugleich wird die Schuld an der Trennung nicht mehr nur einseitig auf IweinIwein abgewälzt. Dazu passt, dass B in einem weiteren Zusatz ganz am Ende das glückliche Leben des wiedervereinten Paares weiter ausmalt und sogar die Dienerin LuneteLunete, die alles eingefädelt hatte, durch die Heirat mit einem Herzog noch bedenkt – ein Happy End á la Walt Disney, könnte man fast meinen. Laudines Kniefall allerdings passt so gar nicht zum Verhalten der stolzen und pragmatischen Königin, als die sie zuvor, gerade bei der Heirat mit Iwein, dargestellt worden ist. Das gegenseitige Eingeständnis von Schuld findet zwar eine Parallele im ‚Ereck‘, doch in der Stringenz der Figurenkonzeptionen und des Handlungsverlaufs bedeutet es auch einen gewissen Bruch.

FassungFassungsdivergenzSchon früh sind daher DiskussionenEchtheitsdiskussion aufgekommen, wie ‚echt‘ dieser Schluss sein könne. Es wäre immerhin möglich, dass ein Bearbeiter in Hartmanns Text eingegriffen und ihn an einigen Stellen (möglicherweise unter Zuhilfenahme der VorlageVorlagefranzösische von ChrétienChrétien de Troyes) erweitert hat. Dafür würde sprechen, dass fast alle längeren Passagen, in denen sich B gegenüber A unterscheidet, ausschließlich in dieser einen Handschrift B zu finden sind; alle späteren Handschriften gleichen in diesen Abschnitten dem Text von A. Doch anders als die übrigen Erweiterungen findet sich gerade jene Szene mit Laudines Kniefall noch in Überlieferungzwei weiteren Handschriften, einer aus dem 15. und einer anderen, der jüngsten, aus dem 16. Jahrhundert. Die Schreiber dieser späten Handschriften hatten offenbar eine Vorlage zur Verfügung, welche jenen versöhnlichen Schluss ebenfalls enthielt; die beiden unterschiedlichen Schlüsse scheinen sich somit bis ins Spätmittelalter weitertradiert zu haben. Anders als die sonstigen Erweiterungen, die B gegenüber A aufweist, hat diese inhaltlich gravierendste Veränderung also eine Auseinandersetzung in der späteren Rezeption des Werkes erfahren.

FassungFassungsdivergenzSolche Überlegungen setzen freilich voraus, dass man immer mit einem Autororiginal zu rechnen hätte, das einen einheitlichen, festen und von Hartmann autorisierten Text vorgibt – Fassungautorisierte F.und das hieße in diesem Fall: Handschrift A bewahrt einen Text, der dem Original Hartmanns am nächsten steht. Doch es könnte ja auch genau umgekehrt sein: Die Handschrift B mit dem Kniefall bewahrt den ‚originalen‘, von Hartmann so gewollten und verfassten Schluss, den ein früher Bearbeiter dann zugunsten einer einheitlichen Figurenkonzeption ‚getilgt‘ hat – dann wäre A gegenüber B sekundär. Es ist also weder das eine noch das andere auszuschließen oder gar zu beweisen (vgl. als letzten, argumentativ z.T. höchst fragwürdigen Versuch eines solchen ‚Beweises‘ Schröder 1997, dagegen Hausmann 2001). Die zeitliche Nähe beider Handschriften zueinander sowie zur Entstehung des ‚Iwein‘ könnte hingegen bedeuten, dass es von Anfang an zwei Versionen gegeben hat, sozusagen zwei ‚Iweine‘, einen mit, einen ohne Laudines Kniefall, aber beide Schlüsse aus der ‚Feder‘ Hartmanns oder zumindest aus seinem Umfeld (Bumke 1996:33–42).

Abb. 2.3.

Schluss des ‚Iwein‘ in Handschrift f (1415) mit Hinzufügungen aus dem ‚Willehalm von Orlens‘ des Rudolf von Ems.

FassungFassungsdivergenzAll diese Spekulationen (die ÜberlieferungForschung bringt noch viel mehr) zeigen v.a. eines: Ein vom Autor ‚veröffentlichtes‘ Original, Fassungautorisierte F.ein ‚echter‘ oder ‚ganzer‘ Text in der Gestalt, wie sie Hartmann tatsächlich entworfen hat, ist nicht herstellbar und für die mittelalterliche Schriftkultur offenbar auch längst nicht so relevant wie für die Moderne. Man muss vielmehr mit unterschiedlichen, inhaltlich konkurrierenden Fassungen rechnen, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen (so Bumke 1996). Begriffe wie ‚primär‘ und ‚sekundär‘, ‚Eingriff‘ oder ‚Erweiterung‘ usw. können selbst vor dem Hintergrund des gesamten Überlieferungskontextes nur bis zu einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad geklärt werden und dürfen sich auch nicht auf ein wie auch immer gestaltetes ‚Original‘ beziehen. Das soll nicht heißen, dass sich in einigen Handschriften nicht trotzdem deutliche Bearbeitungsspuren finden lassen: So steht es außer Frage, dass z.B. die ‚Iwein‘-Handschrift z aus dem Jahr 1464–1467, die insgesamt einen um etwa ein Sechstel kürzeren Text bietet, eine späte Bearbeitung darstellt und aus dem Text eine für das Spätmittelalter typische KurzfassungFassungKurzfassung formt (vgl. Krusenbaum/Seebald 2012). Ähnliches ist für die Handschrift f aus dem Jahr 1415 zu sagen, die zwar nicht die Kniefall-Szene enthält, aber dafür einen stark erweiterten Schlussabschnitt, in dem die weitere Geschichte IweinsIwein und LaudinesLaudine bis hin zur Inthronisation ihres gemeinsamen Sohnes in der Herrschaftsnachfolge ausgesponnen wird: Allerdings ist dieser Schluss in weiten Teilen aus einem ganz anderen Werk, dem ‚Willehalm von Orlens‘ Rudolfs von EmsRudolf von Ems‚Willehalm von Orlens‘, fast wörtlich ‚abgeschrieben‘; lediglich die Namen sind ausgetauscht und einige überleitende Verse zwischen einzelnen Passagen neu hinzugedichtet (Gerhardt 1972, → Abb. 2.3.). Von solchen Fällen ist der Befund der unterschiedlichen Schlüsse jedoch streng zu unterscheiden: Hier kann schon aufgrund der frühen Parallelüberlieferung, erst recht aber aufgrund der Rezeption und Tradierung der Szene auch in späteren Handschriften die Echtheitsfrage kaum Überlieferungentschieden werden.

FassungFassungsdivergenzDas ist ein Ergebnis mit methodologischen Konsequenzen. Wir müssen uns von herkömmlichen, sicherlich auch bequemen, aber eben v.a. neuzeitlichen Konzepten wie dem einer Einheit von Autor und Werk verabschieden. Natürlich gibt es weiterhin den Autor AutorschaftHartmann, der mit einem Werk oder einem Œuvre identifiziert wird (und zwar auch schon im Mittelalter, wie die Lyriküberlieferung zeigt, s.u., 2.4.), entscheidend ist aber, dass zwischen Original und Bearbeitung nicht mehr trennscharf unterschieden werden kann. Vielmehr ist mit einem offenen TextbegriffText zu rechnen: Obwohl die Gesamtheit einer Erzählung weiterhin stets mit dem Namen Hartmanns verbunden bleibt, ist es dem mittelalterlichen Rezipienten dennoch möglich, sich dieses Textes gewissermaßen zu bemächtigen, ihn umzuformen, inhaltlich anders zu akzentuieren, ja sogar gänzlich umzudeuten. Laudines Kniefall stellt in diesem Zusammenhang einen besonders interessanten Fall dar, weil er offensichtlich einen heiklen Punkt im Hinblick auf die Gesamtinterpretation aufgreift, eine Szene, in der sich „die in der Geschichte von Iwein und Laudine angelegten Aporien verdichten“ (Hausmann 2001: 92). Die unterschiedlichen Schlussversionen zeigen eine vehemente Auseinandersetzung mit diesen Aporien, je nachdem ist dann das Verhältnis zwischen Iwein und Laudine entweder besser aufgelöst oder aber die Handlungslogik und Figurenkonstellation stimmiger. Das allerdings ist, jenseits aller Echtheitsfragen, ein Ausdruck der Rezeption, der Auseinandersetzung mit und Diskussion über diese Erzählung und ihre Figuren; nur so lassen sich die darin angelegten Differenzen erfassen und bewerten. FassungFassungsdivergenz