Hartmann von Aue

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4.2. Schwierige Kohärenz: Reimpaardialog und Schlussgedicht als selbstwidersprüchliche stæte-Demonstration

Im Blick auf sämtliche Textteile (Prolog, Wechselrede, Schlussgedicht) stellt sich die methodisch nicht einfache Frage nach der Kohärenz des Textes und der „Emergenz“ (Hess, 2016:12) seiner Form. Makrostrukturell ergibt sich ein auch lateinischen Seelenkampftexten geläufiger dreiteiliger Aufbau (differenzierte Gliederungsvorschläge bereits bei Zutt 1968, Cormeau/Störmer 32007:99–105, Strittmatter 2013:149f.), der sich wie folgt darstellen lässt:


I. 1–32: Prolog
II. Dialogteil:
33–484: Anklage des Herzens durch den Leib
485–972: Gegenklage des Herzens
973–1125: Versöhnungsangebot durch den Leib
1126–1167: Bereitschaft des Herzens zur Versöhnung
1168–1268: Stichomythie
1269–1375: Kräuterzauber (Rede des Herzens)
1376–1644: Situationsklärung durch Leib und Herz (mit zweimaligem Redewechsel)
III. 1645–1914: Schlussgedicht (15 Strophen)

Für den mittleren Dialogteil lassen sich wiederum vier Binnenabschnitte unterscheiden und inhaltlich so zusammenfassen: 1. Der Leib klagt das Herz an; die Anklage lautet auf Untreue und gezielte Irreführung (HaKl 33–484); 2. das Herz widerlegt die Anklage und bezichtigt seinerseits den Leib des Ungehorsams (HaKl 485–972); 3. das Einlenken des Leibes führt 4. zur Versöhnung und Kooperationsbereitschaft der beiden Gegner und zu einer ausführlichen Minne- und Rechtsbelehrung des Leibes durch das Herz. Insgesamt sieben Mal wechseln im Dialogteil die Redebeiträge von Leib und Herz, bevor der überlieferte Schluss aus der Dialogsituation herausführt: Das Ich überbringt der Dame einen mehrstrophigen Liebesgruß, der emphatisch beständige Dienstbereitschaft beschwört (HaKl 1645–1914). Der textkonstitutive Konflikt scheint sich also im Textverlauf aufzulösen in einer klaren Dramaturgie von Klage, Gegenklage, Einigung, Belehrung und Dienstbestätigung.

Doch genau genommen kann der Leib, schon zu Beginn, den Prozess nur in der Wunschform eröffnen: ‚Wärest du etwas anderes – oder: ein anderer – als ich, hättest du verdient, dass ich dich verklage‘ (Ouwê, herze und dîn sin, / wærst dû iht anders danne ich bin, / dû hætest wol verschuldet umb mich, / daz ich klagete über dich, HaKl 33–36), und wiederum in Wunschform erläutert der Leib die Strafe, die er für das Herz vorsähe: Wärest du nur etwas anderes als ich, Herz, ‚wahrlich, ich würde dich töten‘ ([…] zewâre, ich tæte dir den tôt, HaKl 41). Diese Aussagen zielen auf eine dilemmatische Zusammengehörigkeit von Herz und Leib, auf ihr erzwungenes Aufeinanderangewiesensein under friunden (HaKl 59). Das Herz beharrt auf der Inkommensurabilität des Leidens: ‚Unser Kummer lässt sich nicht vergleichen‘ (ja enmac sich niht gelîchen / unser kumber den wir tragen. / […] Dîner sorgen ist sô vil, / si wæren wider die mînen ein spil, HaKl 652–656). Der Leib verschlafe ohnehin das halbe Leben und vertreibe sich die übrige Zeit mit vergnüglicher Ablenkung (HaKl 673–678), während das Herz dafür sorge, dass die Unerreichbare dem Leib wenigstens im Traum nahe sei (HaKl 695ff.). Wenn zum Schluss seiner Gegenklage das Herz verlangt, der Leib müsse gehorchen (HaKl 896) und die innere Einstellung (den muot) ändern, dann hat auch der Leib überraschend ein Innen, das von dem ihm gegenübergestellten Herzen noch einmal verschieden ist (HaKl 860, auch schon 99): wil aber dû dich rehtes muotes / noch ze mir gesellen, / wir enden swaz wir wellen (HaKl 966–968). Der Leib erinnert daran, Gott habe ihnen beiden eine Seele gegeben (wir müezen iemer sament wesen, / wir enmugen uns niht gescheiden. /got der hât uns beiden / eine sêle gegeben, HaKl 1032–1035). Für diese seien sie beide verantwortlich, mit ungewissem Ausgang (die nimet er uns swanne er wil; / des enhân wir dehein gewissez zil, HaKl 1037f.). Daher will sich der Leib auch bei ausbleibendem Lohn zu beständigem Dienst verpflichten, sicherheitshalber. Er hat damit seine Conversio erreicht, und das Herz kann ausdrücklich die bessere Disposition (ze bezzerunge muot, HaKl 1130) und vil guote wandelunge (HaKl 1154) des Leibes hervorheben.

Äußeres Zeichen der inneren Annäherung der Kontrahenten ist, so scheint es, im folgenden vierten Binnenabschnitt eine stichomythische Passage von hundert Versen (HaKl 1168–1268). Doch bei näherem Hinsehen ist diese Passage kein harmonisches Miteinander, sondern im Gegenteil der beschleunigte, dramatisch zugespitzte Dissens. ‚Stichomythie‘Stichomythie bezeichnet einen konsequenten Sprecherwechsel von Vers zu Vers. Sie erzeugt hier einen rasanten Schlagabtausch, der in seiner unaufgelösten Spannung abgekürzt paraphrasiert sei. Am Anfang der Passage steht die Versöhnungsbereitschaft des Leibes: herze, daz ist mir iemer leit, / unde büeze ez swâ ich sol (HaKl 1168f.). Doch er bleibt misstrauisch: ‚Woher kommt eigentlich, Herz, Deine Überlegenheit?‘(HaKl 1175). Das Herz reagiert verstimmt: ‚Was macht dich so aggressiv?‘ Der Leib: ‚Ich leide.‘ Das Herz: ‚Du bist krank?‘ Der Leib: ‚Nein, es ist eine andere Not.‘ Das Herz: ‚Tu etwas dagegen!‘ Der Leib: ‚Hilf mir dabei!‘ Das Herz: ‚Wobei?‘ Der Leib: ‚Spar dir deinen Spott. Ich leide und bin gesund.‘ Das Herz: ‚Das verstehe ich nicht.‘ Der Leib: ‚Du weißt es genau.‘ Das Herz: ‚Nicht, eh du mir’s sagst.‘ Der Leib: ‚Hast du kein Leid?‘ Das Herz: ‚Doch. Von ihr‘ (‚dâ twinget mich diu frouwe mîn.‘ HaKl 1208). Endlich verstehen beide, dass ihr Leid die gleiche Ursache hat (‚lîp, ist ouch dir daz?‘ ‚Leib, auch dir geht das so?‘ HaKl 1210), doch der Streit hört nicht auf. Denn der Leib besteht im selben Atemzug darauf, mehr zu leiden (so geloube mir, mich deste baz, HaKl 1209), und das Herz drängelt: ‚Dann sorg du dafür, dass etwas daraus wird‘ (‚sô schaf selbe daz ez ergê‘, HaKl 1212). Der Leib stimmt freundlich zu (‚das möge uns so geschehen‘), wird aber sogleich vom Herzen zurechtgewiesen: ‚Dein Wünschen bringt uns kein bisschen voran‘ (daz müeze uns beiden noch geschehen. / ‚dîn wünschen hilfet dich niht ein hâr.‘, HaKl 1256f.). Die Auseinandersetzung endet damit, dass der Leib den abschließenden Rat des Herzens annimmt, den Ernst seiner Bemühungen zu beweisen: ‚sô lâ dînen ernest wesen schîn. ‚Beweis endlich, dass du es ernst meinst!‘ (HaKl 1263, wie bereits HaKl 738ff. und 801ff.) – als gäbe es Beweise für das, was sich nur in widersprüchlichen Symptomen zeigt, im steten Wechsel von Hoffnung und Zweifel (noch HaKl 1826–1830). Die Argumentation dreht sich im Kreis. Damit liegt auf der Hand: Die stichomythische Passage der ‚Klage‘ ist kein konsensorientierter Musterdialog, sondern Medium der Konfliktsteigerung.

Doch die Versöhnungsbereitschaft des Leibes am Ende des stichomythischen Psychodramas ermöglicht immerhin einen ausführlichen ‚Rat‘ des Herzens, eine Minnelehre. Sie wird als allegorischer Kräuterzauber (krûtzouber HaKl 1304) aus der Apotheke Gottes präsentiert (HaKl 1269–1348, vgl. Masse 2012) und verspricht das Gelingen der Balance göttlicher und weltlicher Ansprüche: ez ist bêdenthalp ein gewin, / got und diu werlt minnet in: / swer den selben zouberlist kan, / der ist zer werlte ein sælic man (HaKl 1345–1348). Magischer Liebeszauber hingegen verspiele das Heil für sêle unde lîp (HaKl 1366). Auch wenn diese Verse ausdrücklich eine religiös motivierte Versöhnung in Aussicht stellen, ist die Seele in Hartmanns ‚Klage‘ gerade nicht das einigende Band für Leib und Herz, sondern das, worin sie sich konfliktträchtig überschneiden. „Der Dialog von herze und lîp bringt […] zu keinem Moment der Rede zwei klar trennbare, miteinander konkurrierende Standpunkte hervor, sondern immer eine Verschränkung der Positionen“ (Strittmatter 2013:195f.). Hartmann erzählt keine trennscharfe (höfisch oder religiös dominierte) Anthropologie. Herz und Leib sind in instabiler Asymmetrie verbunden, was der Text auch metaphorisch über wechselnde Formen von Koordination (‚Partner‘, ‚Freunde‘, z.B. HaKl 121, 421, 978; Nussschale-Kern, HaKl 449–464; Wasser im Kessel, HaKl 465–484) bei gleichzeitiger Subordination durchspielt (Richter-Rächer, HaKl 69–71 und 417; Herr-Diener, HaKl 1961–1074; Lehrer-Schüler, HaKl 1252). Zugleich weist das vom Leib für die Minneüberwältigung vorgebrachte Gegenbild einer gefährlich unter dem Meeresspiegel verborgenen ‚Tiefenströmung‘ auf unkontrollierbare Risiken (HaKl 353–366 und 1803–1806) und eine unhintergehbare Intransparenz des Ich, die auch durch den Verweis auf die beiden gemeinsame Instanz der Seele (s.o.) oder den Appell zu gemeinsamer steter Dienstanstrengung – mit übereinstimmendem muot – nicht aufgehoben ist. Im Gegenteil: „Ab der stichomythischen Mittelachse beginnt die Klage, ihre Paradoxien zu restabilisieren“ (Gebert 2019:160). Ein nach innen und nach außen vil ungewisser wân (HaKl 1077) lässt sowohl das Ich am Erfolg seines Dienstes kategorisch zweifeln wie umgekehrt die Dame an dessen Aufrichtigkeit, und zur Auflösung dieses Zweifels bleiben nichts als Worte:

 

Sît ir daz gemüete mîn

alsô verborgen muoz sîn

daz sî es niht anders wizzen mac

wan als ich ir ez, sô man ie phlac,

mit worten bescheine

– so enweiz sî ob ich ez meine

mit rehten triuwen oder niht; (HaKl 1397–1403)

[…] da ihr mein Inneres so verborgen sein muss, dass sie davon nichts anderes zu wissen vermag als das, was ich ihr, wie man das stets zu tun pflegt, mit Worten zu erkennen gebe – weiss sie doch nicht, ob ich es aufrichtig ernst mit ihr meine oder nicht;

Die Beharrlichkeit des Dienstes spielt in der ‚Klage‘ also eine ambivalente Rolle, und nicht bloß in der Stichomythie. Zwar ist stæte auf der einen Seite ein Normbegriff: Der Dienst soll stæte sein, weil die Dame stæte ist. Doch führt er auf der anderen Seite als Zeitkategorie in Aporien, weil der stæte dienest ein vil ungewissez zil hat und gerade nicht mechanisch zu stetem Heil führt (vgl. Hartmann, MF 205,1, Strittmatter 2013:349–361), sondern am steten Widerstand der Dame scheitern kann. Unermüdlich, erst recht in den Schlussstrophen, wie sich gleich zeigen wird, appelliert das Herz an den Leib: ‚Dien’ ihr beständig, ausdauernd, nicht überstürzt!‘ (nu ensûme ez ouch ze deheiner frist, HaKl 1540), ‚Fang damit an, aber nicht zu schnell!‘ (Unrehtez gâhen sûmet dich, HaKl 1551). Alle Zeitimplikationen des Begriffs stæte werden bereits im dialogischen Teil paradox ausgefaltet – Dauer, Geschwindigkeit, Kontinuität –, und auch das überlegene Herz bleibt am Ende des Dialogteils noch und wieder im Zeitdilemma stecken: ‚Ich begreife nicht, warum die Dame ihren beharrlichen Verehrer immer so lang hinhält‘ (Welch wünne ein wîp dâ mite hât / daz sî ir friunt sô lange lât / an zwîvellîchen sorgen, / die sint mir gar verborgen, HaKl 1585–1588). Zwar sieht der Leib sich veranlasst zu korrigieren: Auch ewiges Warten könne ja selig machen (HaKl 1601), und das Herz stimmt schnell zu, ja, steter Tropfen höhle den Stein (HaKl 1616–1625). Aber auch das ist keine Lösung, sondern bloß eine Hypothese: ist sî danne ein guot wîp, / sich, sô lônet sî dir, lîp (HaKl 1631f.). Wenn sie gut ist, lohnt sie. Vielleicht.

Das stæte-Dilemma fungiert als entscheidende Klammer zwischen Dialogteil und Schlussgedicht. Wie verhält sich der Streitdialog (HaKl 1–1644) zu den an die Dame adressierten Schlussstrophen, die so überraschend die Intimität des Selbstgesprächs nach außen wenden (HaKl 1645–1914)?

Dass die erste der Schlussstrophen mit 32 Versen genauso lang ist wie der einleitende Prolog des Textes, lässt sich als formale Entsprechung sehen mit dem kompositorischen Effekt einer Art Triptychon, auch die vergleichbar hohe Frequenz von Sentenzen in beiden Rahmenteilen sowie lexikalische Wiederaufnahmen (zusammenfassend Strittmatter 2013:200–204) weisen auf gezielte Kohärenzbildungsmaßnahmen hin. Die Materialität der Texteinrichtung ist für den Übergang des Streitgesprächs zum Schlussgedicht aufschlussreich. Auch wenn der von Teilen der älteren Forschung bezweifelte ‚Echtheitsstatus‘ des Schlussgedichts (Kischkel 1997)Echtheitsdiskussion in letzter Instanz unvermeidlich hypothetisch bleiben muss: Mit ihrer Untersuchung der in der Handschrift verwendeten Gliederungselemente (Überschrift, Zeilenabstand, Initiale, Randverzierung) kann zuletzt Hess ältere Forschungshypothesen dahingehend bestätigen, dass zumindest die Überlieferung „den Text als Ganzes wahrgenommen hat und wahrgenommen haben wollte“ (2016:27, auch bereits Gärtner 2015:IX), und einen anderen Text als den im Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch überlieferten haben wir für die ‚Klage‘ nicht. Zwar scheint Hans RiedRied, Hans (vorlagenbedingt?) in den Formwechsel etwas hineinzustolpern: So lässt in der Ambraser Handschrift der Übergang von vierhebigen Paarreimversen in die fünfzehn kontinuierlich verkürzten, kreuzgereimten Vagantenzeilen Inkonsistenzen im Interpunktionsprinzip erkennen (Doppelpunkt, aber auch einfacher Punkt zur Reimmarkierung), die man als Symptom eines „‚unorganischen‘“ Übergangs von Dialog- und Strophenteil gedeutet hat (zusammenfassend Hess, 2016:54, Kischkel 1997, deutet den Schluss als bloßes Anhängsel). Doch schon Glier (1971:21) sieht mit einer differenzierteren Formulierung den Schlussteil „lose aber konsequent“ dem lehrhaften allegorischen Streitgespräch angefügt, bleibt allerdings für ihre Bewertung dieser inkohärenten Kohärenz die Begründung schuldig (er bestätige „die nunmehr erreichte Gleichsinnigkeit von herze und lîp“ auch formal). In genau dieser Frage nach dem integrativen oder ambivalenten Status der Schlussstrophen ist die jüngere Forschung uneins. Hess (2016:58 und 249) fasst die klangästhetisch und rhetorisch anspruchsvollen Schlussstrophen als redundanzverdächtiges „Zurücktreten des Inhalts hinter die Form“ auf und versteht die Form wie Glier wiederum als Zeichen der erreichten Harmonie zwischen Herz und Leib, insofern „sich die Asymmetrie zwischen den Dialogpartnern Leib und Herz sukzessive verringert und damit zum einen die vollständige Hingabe der ganzen Person, zum andern ihre vollständige Betroffenheit von der Liebe gezeigt wird“ (ebd.:265f.). Andere jüngere Arbeiten akzentuieren im Gegenteil ein grundsätzliches, bis zum Schluss unaufgelöstes Konfliktpotential des Textes. Der strophische Frauenpreis wiederhole „jene Klagen und Aporien, von denen der Streitdialog ausging“ (Gebert 2019:159).

Im Folgenden wird das Schlussgedicht als ambivalente stæte-Demonstration verstanden. Der lîp lässt am Ende des Streitgesprächs seine Rolle als Gegenspieler des mit sich zerfallenen Ichs hinter sich und tritt im Auftrag des Herzens als ihrer beider Vermittler (fürspreche, HaKl 1643) vor die Dame, nun selber ‚Ich‘ sagend: ‚nû solt dû, lîp, hin ze ir / unser fürspreche sîn.‘ / daz tuon ich gerne, herze mîn (HaKl 1642–1644). Doch sein Sprechakt ist eine hyperbolische Klage, die so beginnt: Swaz kumbers ich unz her erleit / sît ich sorgen begunde, / daz was ein senftiu arebeit / unz an dise stunde (HaKl 1645–1648). Dass auch dieses gewissermaßen integrale lîp-Ich dann seinerseits von ‚meinem Herzen‘ spricht (swære die mîn herze treit, HaKl 1667), weist weniger auf einen erneuten Sprecherwechsel von Herz und Leib (erwogen bei Klingner/Lieb 2013:85) hin als vielmehr auf eine texttypische rekursive Verdoppelung von Ich-Instanzen (Köbele 2006). Dass „sowohl Herz als auch Körper für sich ebenfalls Innenseiten produzieren, wie sie der muot für die Rahmenperson eröffnet“ (Gebert 2019:159), lässt v.a. die Instanz des muot als psychophysischen Dachbegriff schillern (Strittmatter 2013:161–168) und ermöglicht permanente Perspektivenwechsel. Mhd. muot fungiert in der gesamten ‚Klage‘ als integrale, also gerade nicht distinktive, entsprechend schwer übersetzbare Kategorie für den Innenraum, in dem der Prolog das Selbstgespräch stattfinden lässt: er klagete sîne swære / in sînem muote (s.o. HaKl 24f.). Anderseits verfügen sowohl das Außen-Ich, der Leib (z.B. HaKl 99), wie das Innen-Ich, das Herz (HaKl 662), gleichfalls über einen muot (fallabhängig ein ‚Innen‘, eine ‚Haltung‘, ‚Absicht‘ oder ‚Imaginations- und Erinnerungskraft‘), so dass sich mit dem ‚muot im muot‘ (HaKl 140, 208, 662, 916 u.ö.) je neue paradoxieanfällige Reduplikationen von Außen-Ich und Innen-Ich ergeben, und d.h. auch ein je neuer Dissens: Uns dienet niht gelîcher muot (HaKl 945), obwohl wir ein ‚Gespann‘ sind (HaKl 909).

Die Schlussstrophen reformulieren den stæte-Appell v.a. im Konjunktiv und Konditional: ‚Wenn du mich umarmtest, könnte ich genesen, andernfalls wird mir das Leben zu lang‘ (vgl. Str. 3). In der fünften Strophe ist das Ich bereit, für seine beständige Treue sogar seine Seele als Pfand zu geben: die sêle gibe ich ze phande / daz mîn triuwe niht zergât, / wan der schade bræhte schande (HaKl 1770–1773). Auch die sechste und siebte Strophe führen das Hin und Her von Hoffnung und Illusionsbereitschaft des Ich fort. Das Ich wendet sich erneut an die Dame: ‚Hilf, eh ich (ver-)zweifele! Wenn du nicht Gnade zeigst, werde ich sterben‘ (Str. 7). Der Schwur in Strophe 8 ist eine einzige emphatische stæte-Übertreibung: ‚Bevor ich von dir lasse, meine Göttin‘ (HaKl 1844), ‚verbrennt die ganze Welt, zerrinnen alle Tage, ist das Ende der Welt da, und werde ich in deinem Dienst noch so alt‘ (HaKl 1831ff). Die neunte Strophe greift das Zeitthema wieder im Konjunktiv auf (‚noch wäre Zeit, dass du mir meine stæte lohntest‘: Frouwe, nû bedenke daz / ê sich dîn trôst verspæte, / daz ich dîn noch nie vergaz / ze frümiclîcher stæte. HaKl 1845–1848). In Strophe 10 und 11 wird dann ausdrücklich die Liebeshoffnung mit der religiösen Hoffnung auf Erlösung parallelisiert: Ist daz ich mînen langen wân / nâch heile volbringe / den ich nach dînen minnen hân / als ich an got gedinge, / sô hât er wol ze mir getân / an gnædiclîchem dinge (HaKl 1861–1866). Das Ich spekuliert hier im irrealen Konditional: ‚Wenn meine Beharrlichkeit, meine lange Erlösungshoffnung, Erfolg hätte, mit der ich an deine Liebe glaube wie an Gott, dann hätte er – Gott – das bewirkt.‘ Zwar sind geistliche und weltliche Perspektive explizit zusammengeführt, aber nicht als Lösungsmodell, denn das Ich bleibt Urheber und zugleich Betroffener der Situation. Noch kurz vor Schluss ist alles offen, bleibt nur die mit ungewissem Ausgang verbundene Alternative (Dîn spil […] geteilet, HaKl 1905) von Erlösung oder Verderben. Liebesheil und Seelenheil werden dabei so verschränkt, dass die permanente Verwechslung der Diskursebenen und der Zeitebenen naheliegt. Diese Dynamik scheint das Hauptkennzeichen des Dialogs zu sein: die Fallsetzungen im Konjunktiv, die Pluralisierung von Perspektiven im Dialog und in Metaphern, die Ambivalenz des problemgenerierenden und zugleich problemschließenden Begriffs stæte. Auch der strophische Frauenpreis am Ende wiederholt nur ein weiteres Mal den im Prolog narrativ exponierten, dann je neu dialogisch inszenierten Sprechakt Klage, wobei die bis zum Schluss durchgehaltene Doppelsemantik von Klage und Anklage zusätzlich Aspektwechsel erzeugt (zu lyrisch-epischen Interferenzen allgemein vgl. Bleumer/Emmelius 2011). Auch die fünfzehn Schlussstrophen bleiben als stæte-Demonstration widersprüchlich, denn die performativ beschworene Dienstkontinuität impliziert zugleich Zeitverlust. Die Zeit – wie auch die Strophenlänge – schrumpft mehr und mehr, und woraus könnte das Ich seine Zuversicht ziehen, dass die Dame am Schluss auf einmal doch ihre ‚Gnade‘ zeigen würde?

Dabei scheint die systematische Vers-Abbreviatio der Schlussstrophen ein genuin hartmannscher Kunstgriff, der noch der genaueren Beschreibung harrt. Für die systematische Versreduktion im Schlussgedicht findet sich im lateinischen Bereich kein Pendant.1 Weiter führt hier, auf intratextuelle Strukturäquivalenzen zu achten. Denn schon im vorausgehenden Dialog wird ja mit Tempounterschieden gespielt, verkürzen sich die z.T. sehr langen Redebeiträge der Kontrahenten zwischendurch stichomythisch, und vielleicht ist das abschließende Strophenverkürzungsmodell auch mit der textübergreifenden, im Schluss besonders dominanten Zeitregie zusammenzusehen (steter Tropfen höhle den Stein, HaKl 1616–1621). In der zweiten und sechsten Schlussstrophe steigern zudem grammatische Reime und iterative Rhetorik das Äquivalenzprinzip der von Strophe zu Strophe jeweils identischen Kreuzreime; auch sie beschleunigen und stauen zugleich den Zeitverlauf. In diesem Sinn könnte (ohne daß die Funktion dieser ungewöhnlichen formalen Abbreviatio damit ausgeschöpft wäre) die stete Strophenverkürzung am Ende Artificium-Demonstration des Dichters und zugleich performative stæte-Demonstration des Minnedieners sein, die in der allerletzten kreuzgereimten Viererstrophe gewissermaßen an ihr natürliches Ende kommt, als Minimalform, in der sich der Kreuzreim noch umsetzen lässt.2 Nur so kommt der Text an sein Ende, aber das Ich (noch) nicht an sein Ziel: Ich hân in dînen gewalt ergeben / die sêle zuo dem lîbe. / die emphâch! jâ müezen sî dir leben / und mê deheinem wîbe (HaKl 1911–1914). Das ist nichts anderes als ein Aufschub ins Ungewisse. Die Zeit bleibt stehen, und zwar genau auf der Schwelle zwischen Verheißung und Erfüllung.

 
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