Hartmann von Aue

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1.1.1. Der Name

Hartmann nennt sich in seinen Texten selbst Hartmann von Ouwe. Diese Selbstbezeichnung Autorsignaturfindet leicht variiert (Der von Ouwe, Der Ouwære) Bestätigung in den Dichtungen anderer Autoren, die Hartmann als einen der größten Dichter seiner Zeit herausstellen (→ Kap.12.). So heißt es im ‚Tristan‘ Gottfrieds von StraßburgGottfried von Straßburg‚Tristan‘:

Hartman der Ouwære,

[…]

swer guote rede ze guote

und ouch ze rehte kan verstân,

der muoz dem Ouwære lân

sîn schapel unde sîn lorzwî (GoTr 4621; 4634–4637)

Hartmann, der Ouwære, […] wenn einer gute Dichtung gut und auch richtig beurteilen kann, so muss der dem Ouwære seinen Ehrenkranz aus Lorbeer zugestehen.

Die Schreiber der großen Lyrik-Sammelhandschriften um 1300 nennen ihn übereinstimmend Her Hartman von Owe (zur Weingartner LiederhandschriftLiederhandschriftenWeingartner Liederhandschrift (B) B und Codex ManesseLiederhandschriftenCodex Manesse (C) C, → Abb. 1.1. und 1.2.). Auch wenn das Owe hier dem vielfach im Minnesang genutzten Leidausruf owê entspricht (so z.B. in Hartmanns Lied IV: Owê, waz tæte si einem man, / dem sî doch vient wære, MF 209,15f.) und daher die literarische Klagefigur des unglücklichen Liebenden aufruft, machen die weitgehenden Namensübereinstimmungen nahezu sicher, dass es einen Autor mit Namen Hartmann von Aue gegeben hat.

Abb. 1.1.

Autorbild zu den Liedern Hartmanns von Aue in der Weingartner Liederhandschrift (B).

Abb. 1.2.

Autorbild zu den Liedern Hartmanns von Aue in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C).

1.1.2. Datierung und Herkunft

Die Entstehung mittelalterlicher Literatur kann in aller Regel nicht genau datiert werden. Anders als moderne Textausgaben gibt es in mittelalterlichen Codices keine Titelei, der das Erscheinungsdatum zu entnehmen wäre. Zudem haben wir weitestgehend keine Autographe, d.h. vom Autor selbst verfasste Texte. Mittelalterliche Literatur liegt nahezu immer in Abschriften vor, die lange Zeit nach der Entstehung der Dichtung angefertigt wurden. Das gilt auch für Hartmanns Texte. Die überlieferten handschriftlichen Zeugnisse seines Werks datieren vom frühen 13. Jahrhundert bis ins frühe 16. Jahrhundert (→ Kap. 2.). ÜberlieferungFerner gibt es in den Texten Hartmanns keine einzige zeitgeschichtliche Anspielung, die einen sicheren Anhaltspunkt für eine Datierung bietet. Dennoch können wir die Schaffenszeit Hartmanns ungefähr auf die Jahre 1180–1200/05 eingrenzen. Dazu bedienen wir uns der Erwähnung Hartmanns sowie seiner Romane ‚Erec(k)‘ und ‚Iwein‘ im ‚Parzival‘ Wolframs von EschenbachWolfram von Eschenbach‚Parzival‘. Aus dieser Erwähnung resultiert, dass Hartmann seine Romane vor der Entstehung des ‚Parzival‘ verfasst haben muss. Den ‚Parzival‘ aber können wir ungefähr datieren, weil sich darin eine Anspielung auf ein historisches Ereignis findet. Wolfram vergleicht nämlich die im Roman geschilderte Zerstörung einer Landschaft durch ein Belagerungsheer mit der Verwüstung der Erfurter Weingärten in der historischen Realität:

Erffurter wîngarte giht

von treten noch der selben nôt:

maneg orses vuoz die slâge bôt. (WoPz 379,18–20)

Die Erfurter Weingärten befinden sich durch Tritte immer noch in der gleichen Not: Viele Hufschläge verwüsteten sie.

Damit spielt Wolfram wahrscheinlich auf die Zerstörungen im Erfurter Umland an, die während der Belagerung der Stadt im Zuge des Thronstreits zwischen Philipp von SchwabenPhilipp von Schwaben und Otto IV.Otto IV. von Braunschweig im Jahr 1203 entstanden sind. Da in der Formulierung Wolframs die Weingärten immer noch zerstört sind, setzt man die Entstehung dieser Textstelle des ‚Parzival‘ um 1205 an. Damit wäre für Hartmanns Dichtung ein terminus ante quem gewonnen.

Noch unsicherer sind die Indizien für den Beginn von Hartmanns Autorschaft. Autorschaft Die Prätexte der beiden Artusromane Hartmanns, Chrétiens de TroyesChrétien de Troyes‚Yvain‘Chrétien de Troyes‚Erec et Enide‘ ‚Erec et Enide‘ und ‚Yvain‘, lassen sich ebenfalls nicht genau datieren. Man nimmt als Entstehungszeiten die Jahre um 1165 bzw. um 1175 an. „Die verwertbaren Anhaltspunkte sichern nur einen Datierungsrahmen. Hartmanns literarische Aktivität gehört in die letzten beiden Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts; ob sie das vorletzte Jahrzehnt ganz oder nur zum Ende hin ausfüllte und auch noch in das erste Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts reichte, ist nicht sicher auszumachen“ (Cormeau/Störmer ³2007:31).

Eine relative ChronologieChronologie, also eine Reihenfolge der Dichtungen Hartmanns, ist nicht wirklich zu erweisen, auch wenn man sich in der Forschung konsensual auf die Reihung der Erzähltexte in der Abfolge ‚Erec(k)‘ – ‚Gregorius‘ – ‚Armer Heinrich‘ – ‚Iwein‘ verständigt hat. Diese Anordnung gründet auf den Vergleich von Reimtechnik, Wortwahl und Versrhythmus. Man geht dabei stillschweigend von der problematischen Prämisse aus, dass ein Autor sich mit fortschreitender Zeit stilistisch stetig verbessert. Gesichert scheint in der Reihung nur, dass der ‚Erec[k]‘ vor dem ‚Iwein‘ entstanden ist, da hier auf die Handlung des Erec[k]romans Bezug genommen wird, dessen Kenntnis bei den Rezipienten also erwartet werden kann. Die ‚Klage‘ wird zuweilen als Erstlings- oder neben dem ‚Erec(k)‘ als Frühwerk Hartmanns angesehen, doch bietet die als Beleg für diese Einordnung herangezogene Selbstbezeichnung Hartmanns als jungelinc (HaKl 7) keine hinreichende Sicherheit (zur Problematik der biographischen Auswertung der Selbstaussagen: → Kap. 1.1.3.). In den Liedern gibt es nicht einen einzigen Anhaltspunkt, der eine Datierung zuließe.

Noch größere Schwierigkeiten als die zeitliche Einordnung bereitet die Frage nach der Herkunft Hartmanns. Wir können ihn familiär gar nicht, regional nur sehr bedingt verorten. Beides hängt damit zusammen, dass es im 12. Jahrhundert noch keine Nachnamen gibt. ‚Von Aue‘ ist eine Herkunftsbezeichnung. Es handelt sich bei unserem Autor folglich um Hartmann aus Aue. Allerdings wissen wir nicht, aus welchem ‚Aue‘ Hartmann stammt. In der Forschung gilt der Südwesten Deutschlands, das alte Herzogtum Schwaben, als wahrscheinliches Herkunftsgebiet, weil seine Reimsprache geringe Spuren eines alemannischen Dialekts aufweist und Heinrich von dem TürlinHeinrich von dem Türlin‚Die Krone‘, ein Dichter aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, in seinem Artusroman ‚Die Krone‘ behauptet, dass Hartmann von der Swaben lande stammt (HeKr 2353). In Schwaben existieren freilich viele Orte mit Namen Aue, sodass eine genauere Zuordnung Spekulation bleiben muss.

1.1.3. Stand und Bildung

Man liest in zahlreichen aktuellen Literaturgeschichten und Einführungen, dass Hartmann Ministeriale – d.h. Dienstmann eines adligen Herrn – und gelehrter Ritter gewesen sei, der in seinen Mußestunden gedichtet habe. Dieses scheinbar gesicherte Wissen verdankt sich freilich ausschließlich den literarischen SelbstaussagenAutorsignatur Hartmanns, deren biographischer Zeugniswert zweifelhaft ist. Denn der Entwurf einer Autorfigurauktoriale Selbstdarstellung im literarischen Text muss sich nicht an der Biographie des realen Autors orientieren, sondern kann Funktionen für das Erzählte haben. Die Selbstdarstellung in literarischen Texten richtet sich dann an rhetorischen Strategien aus, die der Legitimierung des Autors und dem Nachweis seiner besonderen Qualifizierung dienen. Um dies zu erreichen, stellt der Autor mit seinem poetischen Selbstentwurf üblicherweise eine Beziehung zur fiktiven Geschichte her, verklammert also die Ebenen von Erzählung und Erzählen. Durch die Anpassung seines poetischen Selbstentwurfs an das Sujet gewinnt der reale Autor an Autorität und Legitimität. Er wird von den Rezipienten als Fachmann für das Erzählte wahrgenommen. Genau diese Rhetorik der Selbstlegitimation findet sich im Œuvre Hartmanns. Daher lassen sich aus seinen fingierten Selbstentwürfen keine biographischen Fakten ableiten. Dass in fiktionaler Literatur Autoren nicht an eine Wahrheitskonvention gebunden sind, wenn sie Aussagen über sich machen, wird auch in der neueren Forschung immer noch gern übersehen (zum schwierig zu fassenden Verhältnis von Autor und ErzählerErzähler / Erzählinstanz sowie ihrer Überblendung in den Texten Hartmanns → Kap. 8.). Die folgende ausführliche Darstellung soll daher dazu dienen, die rhetorische Funktion der Selbstaussagen Hartmanns offenzulegen (nach Reuvekamp-Felber 2001).

Zunächst einmal sollen zwei prominente und vielzitierte Textstellen aus dem ‚Iwein‘ und dem ‚Armen Heinrich‘ in den Blick genommen werden, in denen sich Hartmann als gelehrter Ritter auktoriale Selbstdarstellungbezeichnet. Dabei redet er von sich – wie es der lateinisch-rhetorischen Tradition entspricht – in der dritten Person (Unzeitig 2010:135f., 230f.):

Ein rîter, der gelêrt was

unde ez an den buochen las,

swenner sîne stunde

nicht baz bewenden kunde:

daz er ouch tihtens pflac.

daz man gerne hœren mac,

 

dâ kêrt er sînen vlîz an.

er was genant Hartman

unde was ein Ouwære,

der tihte diz mære. (HaIw 21–30)

Ein Ritter, der gelehrt war und es [d.h. das zuvor Berichtete, T.F.] in Büchern gelesen hatte, dichtete auch, sobald er mit seiner Zeit nichts Besseres anzufangen wusste. Er richtete auf das seine Bemühung, was man gerne hört. Hartmann hieß er und war ein Ouwære. Der dichtete diese Geschichte.

Ein rîter sô gelêret was

daz er an den buochen las

swaz er dar an geschriben vant;

der was Hartman genant, […] (HaAH 1–4).

Ein Ritter war so gelehrt, dass er in Büchern lesen konnte, was immer er darin fand; der wurde Hartmann genannt, […]

Bereits die Aussage im ‚Iwein‘,auktoriale Selbstdarstellung dass Hartmann nur dichte, ‚wenn er mit seiner Zeit nichts Besseres anzufangen‘ wisse, dürfte kaum der Wirklichkeit entsprechen: Immerhin war er ein außerordentlich produktiver Autor, für den das Dichten eher eine Haupt- als eine Nebenbeschäftigung gewesen sein dürfte (Bumke 2006:4). Darüber hinaus bezeichnet er sich als buchgelehrter Ritter und ruft damit eine Figur auf, die nur schwer mit der sozialen Wirklichkeit in Deckung zu bringen ist. In aller Regel wachsen Ritter nämlich als Analphabeten auf, während angehende Kleriker das Lesen und Schreiben in einer Kloster- oder Kathedralschule erlernen. Bildung, klerikaleDie vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Bildungssituation paradox anmutende Figurauktoriale Selbstdarstellung des buchgelehrten Ritters erweist sich als Teil einer Legitimationsstrategie, wenn man sie in Bezug zum Erzählten, den Erlebnissen des jungen Ritters Iwein, setzt: Als Buchgelehrter besitzt Hartmann die Fähigkeit des Dichtens, als Ritter vermag er, von der Ritterschaft Iweins kompetent zu erzählen. Die Rezipienten werden so eher geneigt sein, ihm die AutoritätAutorität zuzubilligen, über Nöte, Konflikte und richtiges Verhalten seines ritterlichen Protagonisten zu sprechen. Dass Autoren eine solche Vermittlungs- und Legitimierungsstrategie nutzen, ist in der wissenschaftlichen Forschung schon früh erkannt worden: „Der Autor soll die erzählte Welt durch ein dieser möglichst angemessenes Sehorgan sichtbar machen […]. Vom Schlaraffenland erzählt am plastischsten, wer gern und gut ißt, oder ein Koch, oder ein Hungerleider“ (Mecke 1965:14). So sind alle Autorselbstbilder im erzählerischen Werk Hartmanns konstruiert: Sie passen sich jeweils dem Gegenstand an, von dem sie erzählen.

Hartmann entwirft auf der Ebene des Erzählens ein Autorbild, auktoriale Selbstdarstellung das sich dem Protagonisten des Erzählten angleicht, um seine Kompetenz herauszustellen. Der dieser narrativen Vermittlungsstrategie zugrunde liegende Gedanke, dass man nämlich von dem, was man selbst nicht kennt, nur unzureichend erzählen kann, findet sich an vielen Stellen mittelalterlicher Literatur. Hartmann selbst ruft diesen Gedanken etwa auch in seiner Verslegende ‚Gregorius‘ auf, als er schildern soll, wie sehr die MutterMutter/Schwester (‚Gregorius‘) des Gregorius leidet, als sie ihr Neugeborenes in einem Weidenkörbchen auf dem Meer aussetzen muss:

Ir wizzet wol daz ein man

der ir iewederz nie gewan,

reht liep noch grôzez herzeleit,

dem ist der munt niht sô gereit

rehte ze sprechenne dâ von

sô dem der ir ist gewon.

Nû bin ich gescheiden

dâ zwischen von in beiden,

wan mir iewederz nie geschach:

ichn gewan nie liep noch ungemach,

ich enlebe übele noch wol.

dâ von enmac ich als ich sol

der vrouwen leit entdecken […] (HaGr 789–801)

Ihr wisst genau, dass ein Mensch, der weder wahre Liebe noch großes Leid erfahren hat, nicht die Worte findet, um in dem Maße richtig über Liebe und Leid zu sprechen, wie derjenige, der beides gut kennt. Nun stehe ich zwischen den beiden, weil mir beides nicht widerfahren ist: Ich erlebte weder Liebe noch Leid, ich lebe weder schlecht noch gut. Deshalb kann ich nicht, wie ich es sollte, das Leid der Dame beschreiben.

Hartmann bedient sich eines Unzulänglichkeitstopos: Er kann den Liebesschmerz der Mutter nicht angemessen beschreiben, weil er selbst kein Liebesleid erfahren habe. Literarische Kompetenz ist in dieser Vorstellung also an Selbsterfahrung geknüpft.

Wenn man davon ausgeht, dass es Hartmann darum zu tun ist, sich als auktoriale Erzählinstanz Erzähler / Erzählinstanzauktoriale Selbstdarstellungzu legitimieren, ist auch zu verstehen, warum sich seine Selbstdarstellung im ‚Gregorius‘ von dem im Ritterroman entworfenen ritterlichen Selbstbild deutlich unterscheidet. Diese Legende erzählt die fingierte Vita des Papstes GregoriusGregorius, der, nachdem er sich als Ritter in die Sünde des Inzests verstrickt hat, extreme Buße tut und aufrichtig seinen Lebenswandel bereut, um schließlich ins Amt des römischen Bischofs aufzusteigen. Der geistlichen Thematik entsprechend entwirft Hartmann das Selbstbild eines alten, weisen und weltabgewandten Autors, der das Trügerische der irdischen Welt in jungen Jahren kennengelernt und in seinen früheren Dichtungen gepriesen hat:

Mîn herze hât betwungen

dicke mîne zungen

daz si des vil gesprochen hât

daz nâch der werlde lône stât:

daz rieten mir diu tumben jâr.

nû weiz ich daz wol vür wâr:

swer durch des helleschergen rât

den trôst ze sîner jugent hât

daz er dar ûf sündet,

als in diu jugent schündet,

daz er gedenket dar an:

‚dû bist noch ein junger man,

aller dîner missetât

der wird noch vil guot rât:

dû gebüezest si in dem alter wol‘,

der gedenket anders danne er sol.

[…]

Durch daz wære ich gerne bereit

ze sprechenne die wârheit

daz gotes wille wære

und daz diu grôze swære

der süntlichen bürde

ein teil ringer würde

die ich durch mîne müezikeit

ûf mich mit worten hân geleit.

wan dâ enzwîvel ich niht an:

als uns got an einem man

erzeiget und bewæret hât,

sô enwart nie mannes missetât

ze dirre werlde sô grôz,

er enwerde ir ledic unde blôz,

ob si in von herzen riuwet

und si niht wider niuwet. (HaGr 1–16; 35–50)

Mein Herz hat oft meinen Mund unterworfen, sodass er Vieles gesprochen hat, was auf Belohnung im Diesseits zielt: Das gab dem Herz meine Unerfahrenheit ein. Jetzt aber weiß ich genau: Wer durch den Rat des Höllenschergen sich versündigt, wie es ihm seine Jugend eingibt, und sich in seiner Jugend damit tröstet, dass er folgendermaßen denkt: ‚Du bist noch ein junger Mensch, allen deinen schlechten Taten wird noch abgeholfen: du büßt sie alle, wenn du alt bist‘, der denkt anders, als er sollte. […] Deshalb stehe ich bereit, die Wahrheit zu verkünden, damit Gottes Wille geschehe und die große Beschwernis der Last meiner Sünden ein wenig geringer würde, die ich aufgrund meiner Leichtfertigkeit mit Worten begangen habe. An einem zweifele ich nämlich nicht: Wie uns Gott an einem Mann gezeigt und vorgeführt hat, können die schlechten Taten eines Menschen im Diesseits nicht so groß werden, dass er sich nicht wieder von ihnen befreien könnte, wenn er sie nur von Herzen bereut und sie nicht erneut begeht.

Wie der Titelheld der Erzählung hat auch Hartmann in seinem poetischen Selbstentwurfauktoriale Selbstdarstellung in seiner Jugend Sünde auf sich geladen, die er jetzt im Alter durch eine gottgefällige Dichtung abbüßt (ze sprechenne die wârheit / daz gotes wille wære). Hartmann ist schon von vornherein im Besitz der Einsicht, die GregoriusGregorius während der Handlung erst noch erwerben muss. Er hat die Wandlung (conversio) bereits vollzogen, die dem Protagonisten noch bevorsteht. Nicht als Ritter profiliert sich der Autor in seiner geistlichen Erzählung, sondern als büßender Mensch, der die Einsicht in seine Schuld (gesprochen zu haben, daz nâch der werlde lône stât, statt ze sprechenne die wârheit) in richtiges Handeln überführt. Wie schon im ‚Iwein‘ gewinnt Hartmann demnach auch hier literarische Kompetenz und auktoriale Legitimation durch die Anpassung der Autorfigur an den Protagonisten.

Dass man die literarischen Selbstentwürfe auktoriale SelbstdarstellungHartmanns nicht biographisch auswerten kann, zeigt auch ein Beispiel aus der ‚Klage‘, einem selbstbetrachtenden Dialog, der in Form eines allegorischen Streitgesprächs über die richtige Art des Liebens zwischen dem Herzen und dem Körper entworfen ist. Der Prolog der ‚Klage‘ stellt dar, wessen Herz und Körper sich in welcher lebensweltlichen Situation streiten: Es sind das Herz und der Körper des jungen Hartmann, die aneinandergeraten, als seine Liebe von einer Frau nicht erwidert wird:

Minne waltet grôzer kraft,

wande sî wirt sigehaft

an tumben und an wîsen,

an jungen und an grîsen,

an armen und an rîchen.

gar gewalticlîchen

betwanc si einen jungelinc,

daz er älliu sîniu dinc

muose in ir gewalt ergeben

und nâch ir gebote leben,

sô daz er ze mâze ein wîp

durch schœne sinne und durch ir lîp

minnen begunde.

dô sî im des niht engunde

daz er ir wære undertân,

sî sprach, er solde sîs erlân.

Doch versuochte erz ze aller zît.

[…]

er klagete sîne swære

in sînem muote

und hete in sîner huote,

sô er beste kunde,

daz ez ieman befunde.

daz waz von Ouwe her Hartman,

der ouch dirre klage began

durch sus verswigen ungemach.

sîn lîp zuo sînem herzen sprach: […] (HaKl 1–17; 24–32)

Die Liebe besitzt große Kraft, denn sie besiegt die Dummen und die Weisen, die Jungen und die Alten, die Armen und die Reichen. Mit großer Gewalt bezwang sie einen Jüngling, sodass er sich ganz und gar ihrer Macht unterwerfen sowie nach ihrem Gebot leben musste und sich mit Anstand in eine Frau verliebte wegen deren Wohlerzogenheit und Schönheit. Als sie ihm nicht gewährte, ihr zu dienen, sagte sie, er solle sie damit in Ruhe lassen. Dennoch versuchte er es immer wieder. […] Er klagte sein Leid nur innerlich und hielt es verborgen, so gut er es vermochte, damit niemand es herausfände. Dieser (Jüngling) war Hartmann von Aue, der diese Klage wegen eines solch verschwiegenen Leids begann. Sein Körper sprach zu seinem Herzen: […]

Im Selbstentwurf als alter Mann im ‚Gregorius‘auktoriale Selbstdarstellung behauptete Hartmann, von der Qual der Liebe freigeblieben zu sein (ichn gewan nie liep noch ungemach, HaGr 798), hier stellt er sich als über beide Ohren verliebter Jüngling dar: ein Widerspruch, der sich biographisch nicht auflösen lässt. Das Bild des Alten, der in seiner Weisheit und neu gewonnenen Einsicht vor den Trügnissen dieser Welt warnt, wie das des Jungen, der in seiner Unerfahrenheit der Liebe verfällt, sind keine Aussagen über den realen Autor, sondern Selbstentwürfe, die der Legitimation des Erzählens dienen. Hartmann muss nicht alt gewesen sein, als er den ‚Gregorius‘ schrieb, und nicht jung, als er die ‚Klage‘ verfasste. Und es ist mithin auch fraglich, ob er ein Ritter war. Biographisches ist aus den literarischen Autorbildern nicht zu gewinnen. Seine Autorbilder sind ausschließlich funktionale Textgrößen, mit deren Hilfe die erzählte Geschichte und die Erzählinstanz in einer raffinierten literarischen Konstruktion verschränkt werden. Erzähler / Erzählinstanz

 

Das gilt nicht zuletzt für eine Selbstaussage Hartmanns im ‚Armen Heinrich‘auktoriale Selbstdarstellung, Autorsignaturder in der germanistischen Forschung immer noch biographischer Zeugniswert beigemessen wird: dienstman was er ze Ouwe (HaAH 5). In mittelalterlichen Rechtstexten bezeichnet der Begriff dienstman einen Ministerialen. Ein Ministeriale ist ein unfreier, im Dienst eines Laienadligen oder der Kirche stehender Mann. In der Forschung hat man Hartmann wegen dieser Selbstbezeichnung mit der Ministerialenfamilie von Aue in Verbindung bringen wollen, die sich nach dem Dorf Au bei Freiburg nannte und zur Ministerialität der Herzöge von ZähringenZähringer gehörte. Allerdings gibt es dafür genauso wenig einen Anhaltspunkt wie für die Spekulation, dass Hartmann im Auftrag der zähringischen Herzöge gedichtet hat. Zwar ist volkssprachliche epische Dichtung im Mittelalter nach allem, was wir wissen, AuftragsdichtungAuftragsdichtung. Hartmann nennt in seinen Texten jedoch anders als viele Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts keinen Auftraggeber. Und auch der dienstman-Begriff hilft bei der ständischen Einordnung unseres Autors nicht weiter, meint er in der Dichtung doch meist etwas anderes als in den Rechtstexten. Während er hier einen Vertreter der Ministerialität bezeichnet, bezeichnet er dort einen Mann, der in einem Dienstverhältnis jeder Art stehen kann. So werden in der Literatur Männer im Frauendienst als dienstman bezeichnet, auch wenn sie dem Hochadel entstammen. Eine ständische Einordnung Hartmanns mithilfe dieser Selbstbezeichnung lässt sich daher kaum rechtfertigen. Im ‚Armen Heinrich‘ fungiert Hartmann jedenfalls als gelehrter Dienstmann, der in verschiedenen Büchern nach einer Geschichte sucht, dâ mite er swære stunde / möhte senfter machen (HaAH 10f.). Der Begriff bezieht sich hier folglich auf Hartmann als Autor, der einen Schreibdienst leistet, nicht aber explizit auf Hartmann als Ministerialer. Autorschaft

Während wir über den sozialen Status und den Lebensraum Hartmanns nicht wirklich informiert sind, lassen die literarischen Zeugnisse Aussagen über seinen Bildungshorizont durchaus zu: Dieser ist nämlich als Summe der poetischen Möglichkeiten des Autors Autorschaftgreifbar. So konnte Hartmann nicht nur lesen und schreiben, sondern besaß auch umfängliches Wissen über Rhetorik und PoetikRhetorik und Poetik. Dies bezeugen seine Prologtopik im ‚Iwein‘ und im ‚Gregorius‘, die Kenntnisse poetischer Verfahren der dilatatio materiaedilatatio materiae (geradezu musterhaft vorgeführt in der Beschreibung von Enites Pferd im ‚Erec[k]‘, HaEr 8271–8747; vgl. dazu Worstbrock 1985), des aus antiken Dichtungen bekannten stichomythischen Dialogs (vgl. dazu Miedema 2006) u.a.m. Dieses Wissen konnte man sich im Mittelalter nach allem, was wir wissen, nur aneignen, wenn man als Geistlicher eine lateinische Schule in einem Kloster oder an einem Bischofssitz besucht hat. Hartmann dürfte eine solche geistliche Ausbildung erhalten haben, auch wenn er dies in keinem seiner Texte von sich behauptet.klerikale Bildung Nicht auszuschließen ist aber auch, dass die eigentlich der Selbstlegitimation dienenden Autorbilderauktoriale Selbstdarstellung partiell mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Vom Schlaraffenland könnte doch wirklich jemand erzählen, der gern und gut isst, oder ein Koch oder ein Hungerleider. Welchem Stand Hartmann angehört hat, als er seine Dichtungen verfasst hat, wissen wir nicht mit Sicherheit. So könnte er tatsächlich in den weltlichen Stand eingetreten sein, nachdem er eine klerikale Ausbildung erhalten hatte. Oder er könnte als Ministerialer gedient oder auch als alter Mann den ‚Gregorius‘ gedichtet haben. Den auktorialen Selbstentwürfen ist dies aber alles nicht zu entnehmen. Diese dienen erst einmal Hartmanns rhetorischer Strategie, sich Kompetenz qua fingierter Erfahrung zuzuschreiben, um sich als versierter Autor zu profilieren. Zugleich sind seine Selbstdarstellungen als Ritter und die um Liebe, Abenteuer und Gewalt kreisenden Texte auch Ausdruck eines tiefgreifenden kulturellen Wandels in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in der eine Gruppe adliger Laien Einfluss auf die Entstehung literarischer Formen nimmt, die ihren weltlichen Interessen entspringen.