Buch lesen: «Hammer + Veilchen Nr. 20»

Schriftart:

Hammer + Veilchen
Flugschriften für neue Kurzprosa
Herausgegeben von Günther Emig und Peter Engel

Ausgabe 20 · 2019

Mit Beiträgen von Wolfgang Denkel · Andreas Greve · Katharina Körting · Maria Soulas · Jörn Birkholz ·

Mona Ullrich · Ronald Glomb · Orla Wolf · Thomas Glatz


Inhaltsverzeichnis

1  Wolfgang Denkel Wie der Kopf einer Schlange

2  Andreas Greve Entleerte Illusionen

3  Katharina Körting Existenzen

4  Maria Soulas Tante Augustes Garten Blaue Ansichten Schnappschuß

5  Jörn Birkholz Autor Normalverbraucher

6  Mona Ullrich Novembernacht

7  Ronald Glomb unverhofft Ein Wunsch

8  Orla Wolf 2.72 Uhr

9  Thomas Glatz Am Fischteich

10  Die Autoren

11  Impressum

Orientierungsmarken

1  Cover

Wolfgang Denkel
Wie der Kopf einer Schlange

Da steh ich nun im offenen Mantel

und laß die Welt mir durch ein Sieb

des Nichtbegreifens in die Augen fließen

Joseph Brodsky

Seit sie denken konnte, hatte sie Angst gehabt vor Wörtern. In ihrer frühesten Erinnerung klingelte ein Verwandter der Familie an der Tür, und als die Mutter öffnete, sprach er nur eine einzige Silbe. Die Mutter fiel daraufhin zu Boden und wurde nie wieder ganz gesund. Im Kindergarten rief die Kindergärtnerin ein ihr unbekanntes Wort, und alle Kinder liefen nach draußen. Sie wurde umgestoßen, man trat ihr auf die Finger, und ein umkippender Stuhl verletzte ihr Ohr. Sie begann zu zittern, wenn ein Mensch einem anderen etwas zuflüsterte, denn dann geschahen die unverständlichsten Dinge.

Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, daß ein Wort ihre Todesursache sein würde. Sie wußte nicht, ob sie an den Tod überhaupt glauben sollte, vor allem an ihren eigenen, doch sie war sicher, wenn es ihn gäbe, würde er ausgelöst durch ein Wort.

In der Schule war die Luft voller Wörter, beinahe als seien sie bedeutungslos. Doch sie ließ sich davon nicht täuschen. Es war ein Trick. Durch ihre Unmenge wiegten die Wörter einen in Sicherheit, sie taten, als seien sie ein folgenloses Klingen, und plötzlich stieß eins nach vorn wie der Kopf einer Schlange und entlud sein Gift. Mitunter war man anfangs nur leicht betäubt und der Schmerz wuchs erst allmählich auf seine eigentliche Höhe. Oder aber er begann jäh und verteilte sich im Innern, schien sogar nachzulassen, und lähmte dabei nur allen Grund zur Freude.

Sie liebte Musik, fühlte sich durch sie beschützt. Solange nur niemand sang. Der menschlichen Stimme ähnelnde Instrumente ängstigen sie nicht; im Gegenteil hatten sie es ihr angetan. Vor allem eines, dessen Namen sie nicht kannte. Der Vater saß mit ihr vor dem Radio und sie hörten Symphonien. Doch im Zusammenklang der Instrumente konnte sie ihn auf das am meisten sie Bewegende nicht aufmerksam machen. Um es herauszufinden und sie zu erfreuen, nahm der Vater sie mit in die Oper. Doch noch im ersten Aufzug, unmittelbar nach der wortlosen Ouvertüre, verließ sie mit einem hellen Aufschrei und fallend vor Eile den Saal.

In ihrem elften Lebensjahr stellte sich heraus, daß es die Klarinette war, die es ihr so angetan hatte. Durch ein fremdes offenes Fenster war sie erklungen, nur sie und ungestört durch andere Instrumente. Die Mutter, die es ebenfalls hörte, nannte ihr den Namen des Instrumentes, doch sie wollte ihn nicht wissen. Auch wollte sie es trotz einigen Zuredens der Eltern nicht spielen; nur hören wollte sie es.

Seit in der Schule bekannt geworden war, wie sehr man sie durch Wörter erschrecken konnte, hatte sie manches auszustehen. In einer Langenweile erfand man ein Spiel. Es gewann, wer das Wort mit der stärksten Wirkung rief. Zuweilen spielte man auch um Süßigkeiten oder Geld, und wenn zwei Wörter eine ungefähr gleiche Qual erzielten, kam es zu erbitterten Auseinandersetzungen. Einmal, als sie auf die Erde lag und mit Erde auch ihre Ohren verstopfte, warf ein älterer Junge ihr vor, daß sie so etwas bei dem von ihm gerufenen Wort absichtlich nicht getan habe. Sie sei eine Betrügerin.

Sie rechnete aus, wann sie siebzehn Jahre alt sein würde, und beschloß, spätestens dann tot zu sein. Bis dahin würde sie genügend Wörter überstanden haben müssen.

Eines Tages verliebte sie sich, und sie fürchtete, daß der Junge in ihrer Gegenwart etwas sagen könnte. Um kein Wort von ihm zu hören, hielt sie einen Abstand zu ihm ein, den sie nie unterschritt. Als sie sich weigerte, an einer Schulaufführung teilzunehmen, die sie in der Aula womöglich mit diesem Jungen zusammengeführt hätte, mußte sie zur Strafe einen einwöchigen Bibliotheksdienst versehen. Umgeben von unzähligen Wörtern wurde ihr oft schwindlig.

Den Jungen, in den sie verliebt war, sah sie hin und wieder mit anderen Mädchen sprechen, und diese Mädchen lächelten oder lachten sogar, als täten die Worte des Jungen ihnen wohl. Ein ungekannter Schmerz stieg in ihr auf, aber auch eine Freude, den Jungen zu betrachten, ohne Angst vor ihm haben zu müssen.

Als sie dreizehn war, konnte sie nicht mehr zur Schule gehen. Es gab kein Fach, in dem nicht gesprochen wurde, und selbst die Zahlen trugen Namen. Ganz abgesehen von dem vielen Getuschel und Geraune, das nicht zum Unterricht und doch zum schulischen Leben gehörte, oder von den Pausen, die reich waren an schmerzlichen Wörtern.

Von nun an arbeitete sie bei einem Blumenhändler und war glücklich, von stillen Lebewesen umgeben zu sein. Die glühten und starben in der ihnen eigenen Farbe, ohne einen Laut und geschweige denn ein Wort von sich zu geben. Vielleicht auch führten sie deshalb die wundersamsten Namen, die man sich vorstellen konnte. »Zeitlose« hieß eine Blume, die sie besonders liebte, und dieses Wort beschäftigte sie lang. Sie mochte den Geruch der Erde, und manchmal, wenn ihr niemand zusah, aß sie ein Stück davon. An den Zähnen mochte die Erde sandig und widerständig sein, auf der Zunge aber war sie weich und nach einer Weile floß sie wie von selbst ins Innere.

An einem Novemberabend begann sie, Wörter, vor denen sie sich besonders fürchtete, aufzuschreiben. Sie brauchte lange, und es wollte nicht enden. Auch weil sie sich immer wieder erholen mußte.

An manchen Tagen notierte sie nicht mehr als sieben Wörter, an einem verregneten Mittwoch dreiundneunzig.

Einmal sogar, während einer Fahrt im überfüllten Bus, einhundertvierzehn.

Manch ein Wort war unleserlich geschrieben, mit furchtverkrampfter Hand. Doch es gab keins, das sie im Nachhinein nicht entziffern konnte, und sie wußte stets, wo sie es notiert hatte.

Mit siebzehn Jahren las sie ein Gedicht. Ein älterer Herr hatte es in dem Blumengeschäft auf eine Glückwunschkarte geschrieben, die er dann aber in einen Müllbehälter warf. Dieses Gedicht war voller beunruhigender Wörter, die sie aber gar nicht beunruhigten. Sie konnte es sich nicht erklären. Es war, als würden sich die einzelnen Wörter gegenseitig befrieden, als nähmen sie einander ihr Gift, als heilten sie einander.

Seltsam war auch, daß sie das Gedicht nach einmaligem Lesen auswendig wußte. Beinah, als habe es diese Zeilen immer schon in ihr gegeben, trotz ihrer Angst, oder vielleicht auch wegen ihrer Angst. Es war überhaupt nichts Fremdes in diesen Zeilen, und doch war nichts davon leibhaftig, sondern alles nur ersehnt; aber mit einer Kraft, stärker als alle Wirklichkeit, die sie kannte. Es war die Wirklichkeit, zum ersten Mal die Wirklichkeit, in diesen schmerzenden und doch nicht schmerzenden Wörtern, es war, was sie vermißt hatte, seit sie denken konnte, seit sie das Gift der Wörter empfing. Sie weinte, weinte über das Gedicht, das sie in sich trug, über die Wirklichkeit, die immer schon in ihr gewesen war. Womöglich befanden sich in ihr noch mehr Gedichte und viel mehr Wirklichkeit, als sie bisher angenommen hatte.

In einer Sommernacht des folgenden Jahres schrieb sie selbst ein Gedicht. Es handelte von Wörtern, von nichts als Wörtern, und also von der Wirklichkeit, dem einzigen, das jemals geschah, während so vieles vorgab, zu geschehen. Es handelte von der Wörterwunde, die nicht hatte verheilen können, weil sie immer neu verunreinigt wurde, die Leben nur zuließ, indem sie schmerzte. Und die nur geschlossen werden konnte wiederum durch Wörter, die von tausenden Jahren und Herzen gezeugt worden waren.

In jeder Zeile ihres Gedicht beruhigten einander sieben Wörter, alle sieben Zeilen in veränderter Reihenfolge; bis sie einander von allen Seiten berührt zu haben schienen, bis sie erschöpft von dieser Bewegung seltsam hell geworden waren. Ja, bis nichts von ihnen zurückblieb als ihre Helligkeit.


Der kostenlose Auszug ist beendet.

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